Die Ukraine und der Globale Süden
Einige Staaten im Globalen Süden zögern, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen. Dabei spielen nicht nur wirtschaftliche, sondern vor allem auch strategische Interessen eine Rolle. Für die Ukraine ist es jedoch sehr wichtig, dass auch die Länder des Globalen Südens die Verletzung ihrer territorialen Souveränität und die Verstöße gegen das Völkerrecht offiziell anerkennen.
Die fehlende Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine durch manche Länder des Globalen Südens stellt ein großes Problem für die Ukraine dar. Sie führt deshalb eine diplomatische Offensive durch, um Länder Afrikas und Asiens für ihre Souveränität und für den von Wolodymyr Selenskyj entworfenen Friedensplan zu gewinnen. Eine ukrainische Delegation besuchte in den vergangenen Monaten Indien, die Türkei, Saudi-Arabien und einige Länder Afrikas. Außerdem organisierte die Ukraine einen Gipfel in Saudi-Arabien, an dem 40 Länder teilnahmen, darunter auch China.
Gleichzeitig bemühte sich auch Russland aktiv um Unterstützer und konnte seine Rolle in einigen Bündnissen und Organisationen festigen. Einige sind für Westeuropa und die USA durchaus bedeutsam, wie die BRICS-Staaten oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
Positionen zu Russlands Krieg gegen die Ukraine
Im August und September 2023 fanden zwei Gipfel statt: das Treffen der BRICS-Staaten und das der G‑20. Bei beiden Foren waren die mächtigsten Länder des Globalen Südens vertreten, und bei beiden Treffen stand Russlands Krieg gegen die Ukraine auf der Agenda. Während des BRICS-Gipfels in Südafrika wurde Putin für eine Rede zugeschaltet, in der er den Westen für den Krieg verantwortlich machte. Die BRICS-Länder bekräftigten bei diesem Gipfel ihre Bestrebungen, ihre Ökonomien zu „dedollarisieren“ bzw. sich vom Dollar loszusagen. Putins Aussage war offenbar mit der antiwestlichen Stimmung der Beteiligten kompatibel.
Auch die „Gruppe der 20“ publizierte unter dem Vorsitz von Indien eine gemeinsame Erklärung zum Krieg, die viel milder ausfiel als im letzten Jahr. Damals wurde Russland eindeutig als Aggressor benannt, diesmal wurde Russland hingegen nicht erwähnt. Zwar verurteilten die G‑20-Länder nominell den Angriff auf die Souveränität der Ukraine, aber weitere Aspekte der Erklärung entsprachen dem nicht. Entsprechend enttäuscht zeigte sich die Ukraine.
Die Ukraine hat Schwierigkeiten mit der strategischen Kommunikation
Die Tatsache, dass die Abschlusserklärung des G‑20-Gipfels diesmal milder ausfiel, wird der stärkeren Position Indiens zugeschrieben und dem Bestreben der USA, Indien als geopolitischen Partner für sich zu gewinnen.
Für die Ukraine ist insofern eine strategische Kommunikation sehr wichtig, um die Machteliten in den einflussreichen Ländern des Globalen Südens zu erreichen. Bisher hat sie Schwierigkeiten, ihre Ziele deutlich zu vermitteln: die Befreiung aller ukrainischen Bürger auf dem gesamten Staatsgebiet der Ukraine, die Verteidigung der Freiheit und der Demokratie sowie ein Friedensplan, der den Abzug des russischen Militärs aus allen besetzten Gebieten vorsieht.
Die Anerkennung des Unrechts, das der Ukraine widerfahren ist, ist wichtig für die Anerkennung der Legitimität des ukrainischen Staates, sowohl während des Krieges als auch in der Zeit danach. Auch wenn die Vereinten Nationen aufgrund der Blockade des Sicherheitsrates nur begrenzt handlungsfähig sind, haben die Resolutionen der UN-Generalversammlung – zuletzt verurteilten im Februar 2023 141 Staaten die Aggression gegen die Ukraine – in diesem Kontext eine starke symbolische Bedeutung.
Die globale Ordnung unter Druck
Wie ist das Zögern einiger G‑20- und BRICS-Mitglieder, Russland eindeutig zu verurteilen, zu erklären? Der Krieg Russlands gegen die Ukraine findet zu einem Zeitpunkt statt, zu dem die in weiten Teilen in der Nachkriegszeit entstandene globale politische Ordnung massiv unter Druck steht. Mehrere Länder des Globalen Südens sind seit Längerem mit dieser Ordnung unzufrieden und wollen eine Veränderung durchsetzen. Dabei stehen nicht nur materielle, sondern vor allem auch Machtinteressen auf dem Spiel.
Zum einen möchten große Mächte wie China, Russland und Indien als Pole dieser Ordnung anerkannt werden und ihren Einfluss institutionell verfestigen. Die Zeit nach dem Ende des Kalten Krieges galt als „unipolar“ und von der US-amerikanischen Hegemonie bestimmt. China und Russland, aber auch andere Länder versprechen sich viel von einer „multipolaren Ordnung“. Viele Länder, die auf Entwicklungshilfe und Investitionen angewiesen sind, profitieren von einer Rivalität der Großmächte.
Zum anderen sind viele Länder des Globale Südens von der sogenannten „regelbasierten internationalen Ordnung“ enttäuscht, die als vom Westen gemacht und dominiert wahrgenommen wird. Dabei spielen ökonomische und soziale Faktoren eine große Rolle. Die Vereinten Nationen tun sich schwer, ihre nachhaltigen Entwicklungsziele zu erreichen. Die globale Arbeitsteilung benachteiligt oft die Entwicklungsländer, und von Freihandelsabkommen profitieren nur die stärkeren Handelspartner. Viele afrikanische Länder sind hoch verschuldet. Menschen in den ärmeren Ländern des Globalen Südens haben das Gefühl, dass ihre Nöte nicht angemessen anerkannt und durch entwicklungspolitische Handlungen adressiert worden sind.
Hinzu kommt, dass die finanzielle Hilfe, die die Ukraine erhält, zunehmend zulasten anderer Krisengebiete geht. Außerdem leiden die afrikanischen Länder besonders unter der Getreideknappheit und den hohen Getreidepreisen – Folgen des Krieges und insbesondere der Aussetzung des Getreideabkommens durch Russland.
Der Globale Süden als Vermittler
Es sind hauptsächlich die globalen wirtschaftlichen Folgen des Krieges, die die Mächte des Globalen Südens dazu bewegen, sich als Vermittler zu versuchen. Während des BRICS-Gipfels haben sich China und Südafrika als mögliche Vermittler im Krieg positioniert. Darüber hinaus haben Delegationen von sieben afrikanischen Ländern, Saudi-Arabien, der Türkei, Indien und Indonesien bereits bilaterale Gespräche geführt oder Friedenspläne formuliert, deren Inhalte jedoch von der ukrainischen Position weit entfernt sind. Dass die Ukraine sich verteidigen will, wird als mangelnde Bereitschaft gedeutet, den Krieg zu beenden.
Der Krieg in der Ukraine als Chiffre für die westliche Außenpolitik
Trotzdem kann die Weigerung mancher Entwicklungsländer, den russischen Krieg gegen die Ukraine zu verurteilen, nicht als Unmut über die Ukraine an sich gedeutet werden. Die Einstellungen zum Krieg in der Ukraine sind vielmehr vom Verhältnis der einzelnen Länder zum Westen und zur globalen politischen Ordnung geprägt. Antiwestliche Diskurse haben Konjunktur und werden durch russische Desinformationskampagnen, aber auch lokale Politiker und Intellektuelle weiter angeheizt.
Die ukrainische Diplomatie im Globalen Süden
Aufgrund der antiwestlichen Ressentiments in vielen Ländern Afrikas und Asiens ist die diplomatische Offensive der Ukraine in diesen Ländern umso mehr zu begrüßen. Vor dem Krieg war die Ukraine in diesen Weltregionen nur mit wenigen Botschaften vertreten. Das Unwissen über die Ukraine dürfte dort noch größer sein als im Westen. Diplomatische Verbindungen sind auch wichtig, weil diese Länder mittelfristig zu wichtigen Handelspartnern der Ukraine werden könnten. Denn trotz der erwarteten westlichen Investitionen in der Ukraine werden ukrainische Firmen voraussichtlich jenseits von Europa und den USA leichter Absatzmärkte finden.
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