Der Kampf um Strom
Kraftwerke, Umspannstationen, Wasserdämme: Derzeit fliegt Russland unzählige Angriffe gegen die ukrainische Energieinfrastruktur. Massive Bunker, mehr Wind- und Solarkraftwerke sowie eine bessere Flugabwehr sollen die Situation stabilisieren. Und mehr Strom, der aus der EU importiert wird.
Es klingt ein bisschen wie das Knistern eines Lagerfeuers, dazu peitscht es manchmal und es brummt aus dem containergroßen Kasten: In diesem Umspannwerk wird Strom mit hoher Konzentration in solchen umgewandelt, den die Menschen aus der Steckdose verbrauchen können. „Zwei Transformatoren arbeiten hier aktuell“, sagt Marija Zaturian, Unternehmenssprecherin von Ukrenergo, der Firma, die in der Ukraine das Stromnetz betreibt. Zwei sind aber nicht leistungsfähig genug, ein dritter Transformator steht vor einem Bunker und wird von den Mechanikern gerade angeschlossen.
Dieses Umspannwerk arbeitet gut eine Autostunde vom Zentrum der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw entfernt. Das Knistern ist die Elektrizität, die gegen die Isolatoren prallt, an denen die Leitungen aufgehangen sind. „Die Experten benutzen das Bild einer Autobahn“, sagt Marija Zaturian. „Aus den Kraftwerken kommt Strom mit Tempo 120 und hoher Spannung an, wir sind die Einrichtung, die den schnellen Überlandtransport in den portionierten Stadtverkehr umleitet.“ Oder anders formuliert: Ohne Transformator lässt sich weder ein Radio betreiben noch ein Handy aufladen oder eine Lampe anschalten. Das können eine Million Menschen im Großraum Kyjiw nur dank dieses Umspannwerks.
Attacken gegen Kraftwerke intensiviert
„Das wissen natürlich auch die Russen“, sagt die Unternehmenssprecherin. Obwohl der Angriff ziviler Energieinfrastruktur ein Kriegsverbrechen sei, hätten sie ihre Attacken gegen Kraftwerke, Umspannstationen, Überlandleitungen, ja sogar gegen Wasserdämme intensiviert. „Es gibt in der gesamten Ukraine mehr als einhundert solcher Umspannwerke, aber kein einziges, das nicht schon mindestens einmal zerstört worden ist“, sagt Zaturian. Dieses hier im Speckgürtel von Kyjiw sehr mehrfach von Raketen und Drohnen getroffen worden, ein Mitarbeiter habe sei Leben verloren. „Womit die Russen aber nicht gerechnet haben, das ist unsere Schnelligkeit, die Zerstörungen wieder zu reparieren.“
Rechts neben dem arbeitenden steht ein ausgebrannter Transformator, 250 Tonnen schwer und völlig verkohlt. „Weil der Umwandlungsprozess des Stromes sehr viel Wärme erzeugt, müssen die Anlagen mit Öl gekühlt werden.“ Einmal getroffen, gebe es deshalb keine Chance, irgendetwas zu retten, und diesen hier habe es im Herbst 2022 erwischt, er brannte völlig aus. „Transformatoren kann man nicht mal eben so kaufen. Die müssen bestellt und extra hergestellt werden.“ Zehn Monate, sagt Mariia Zaturian, würden schon mal ins Land gehen, bis die neue Anlage geliefert werden kann. „Und wie gesagt: Ohne Transformator kein Strom in der Stadt“.
„Was wir geflickt haben, das zerschießen die Russen bald wieder.“
„Bis zum jetzigen Zeitpunkt haben die Russen 13.971 Gebäude in unserer Region zerstört“, sagt Wjatscheslaw Tschaus, seit 2021 Gouverneur der Region Tschernihiw. Im Februar 2022 waren die Aggressoren von Norden durch die Region Tschernihiw Richtung Kyjiw vorgerückt, die Ukrainer konnten sie nach sechs Wochen Kampf zurückdrängen. „Fast die Hälfte aller Wohnhäuser ist mittlerweile wieder aufgebaut“, sagt Gouverneur Tschaus, der wie Präsident Wolodymyr Selenskyj Pullover und Hose in Tarnfarbe trägt. „Ganz wichtig für den Wiederaufbau ist eine funktionierende Stromversorgung“. Für ihn seien deshalb jene Ingenieure und Techniker Helden, die das zerschossene Stromnetz immer wieder flicken, „nicht selten unter Beschuss.“
Für den Gouverneur der Region ist die Taktik der Russen klar: „Sie wollen unsere Wirtschaft schwächen“. Längst nämlich würden Betriebe in der Region wieder produzieren, was aber nur mit einer gesicherten Stromversorgung funktioniere. „Je näher man der Front kommt, umso prekärer ist die Situation“, gibt der Gouverneur zu, 1.300 Haushalte seien dort ohne Strom. Die Region Tschernihiw grenzt 225 Kilometer an Russland und entlang dieser Linie toben täglich Kämpfe. „Was wir geflickt haben, das zerschießen die Russen bald wieder.“ Etwa genau noch einmal so lang und nicht weniger gefährlich sei die Grenze zu Belarus, das Moskau militärisch unterstützt.
Mit Stahlträgern und Beton gegen Raketen
Bei Ukrenergo, dem staatlichen Netzbetreiber, versuchen sie jetzt mit gigantischen Stahlträgern und massiven Betonmauern einen Schutz gegen die russischen Raketen zu errichten: Der Staatskonzern baut Hochbunker. Sprecherin Marija Zaturian nennt das „unsere Art, sich an die Realität anzupassen: Niemand sonst auf der Welt würde derartige Anlagen für seine Umspannwerke bauen, nicht einmal die Israelis.“ Zehn Monate Bauzeit und einige Millionen Euro seien notwendig, bis ein Bunker fertig sei – um dann einen 10 Millionen teuren Transformator zu schützen.
Im ganzen Land werden in den Umspannwerken jetzt solche Bunker errichtet. „Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis wir die Russen besiegt haben. Was wir aber wissen: Sie werden wieder und wieder unsere Energieinfrastruktur angreifen. Deshalb müssen wir uns vorbereiten!“ Zum Beispiel mit den Bunkern: Wenn nämlich wenigsten einer der drei Transformatoren eines Umspannwerkes den Angriff übersteht, kann nach der Reparatur der Leitungen weiter Strom übertragen werden.
Plötzlich fallen Schüsse
Plötzlich fallen Schüsse, die Unternehmenssprecherin von Ukrenergo zuckt zusammen. Aus dem Einzelfeuer werden Maschinengewehrsalven, die in nicht sehr großer Entfernung knatternd abgefeuert werden. „Das sind unsere“, sagt ihr Assistent. Marijas versteinertes Gesicht entkrampft sich langsam, „ich wusste nicht, dass es hier in der Nähe des Umspannwerkes einen Schießstand gibt!“
Nicht nur die Stromübertragung steht massiv unter russischem Beschuss, auch die Stromproduktion. „Es gibt kein einziges Kohle- oder Gaskraftwerk mehr in der Ukraine, das von den Russen noch nicht bombardiert worden ist“, sagt Dmytro Sacharuk, Geschäftsführer des Energiekonzerns DTEK. Vor dem Krieg produzierte DTEK fast 30 Prozent des ukrainischen Stromes, mit 55.000 Mitarbeitern ist der Konzern noch immer einer der größten des Landes. Gleich vier DTEK-Heizkraftwerke wurden in der letzten Aprilwoche zerstört, also solche, die mit Kohle oder Erdgas betrieben werden. „Manche Anlage wurde so schwer getroffen, dass sie sich nicht wieder aufbauen lässt“, sagt Dmytro Sacharuk. Aktuell verfüge DTEK noch über 8.000 Megawatt Kraftwerksleistung, „vor dem Krieg war es doppelt so viel“.
Windräder sind schwieriger zu treffen
Dmytro Sacharuk sitzt in Kyjiw in einem lichtdurchfluteten Co-Working-Space hinter dem Stadion des Fußballklubs Dynamo, von Energieknappheit ist in diesen Tagen in der ukrainischen Hauptstadt nichts zu spüren. Es ist Frühling, die Flüsse sind voller Schmelzwasser, und die Ukraine verfügt über sehr viel Wasserkraft. Allerdings werden auch diese Kraftwerke von Russland attackiert: Sieben Raketen schlugen beispielsweise im März im Wasserkraftwerk Dnipro ein. Vor dem Angriff war es mit fast 1.580 Megawatt Leistung das größte seiner Art in Europa, die Reparaturen werden auf wenigstens zwei Jahre taxiert.
Der Energiemanager Sacharuk glaubt, dass die alte Energieinfrastruktur aus sowjetischen Zeiten den russischen Aggressoren in die Hände spielt: „Strom wird in großen Kraftwerken zentral an wenigen Orten produziert und von dort aus verteilt.“ Ein Damm an einem Fluss, ein Kohlekraftwerk mit weithin sichtbarem Kühlturm oder auch Gaskraftwerke seien leicht anvisierbare Ziele. „Deshalb setzen wir auf erneuerbare Energien, die dezentral erzeugt werden“, sagt Sacharuk. Gut 2.000 Megawatt Leistung habe DTEK bereits am Netz oder kurz vor Anschluss. „Natürlich können auch Windräder zerstört werden. Aber Fossilkraftwerke sind kleine Einheiten mit großer Leistung“, so Sacharuk. In Windparks hingegen würden kleine Einheiten auf großer Fläche arbeiten, das sei viel aufwendiger zu zerstören.
Notwendigkeit einer besseren Luftabwehr
Allerdings bleibt ein Dilemma: „Investieren können wir nur, wenn wir Strom auch verkaufen“, so Sacharuk. Also wenn Geld in die Kassen kommt. Solange die Russen die Umspannwerke und Überlandleitungen attackierten, so lange komme bei den Menschen aber kaum Strom an. Der Energiemanager wünscht sich deshalb mehr Möglichkeiten für die Luftabwehr – auch um in den Umbau der eigenen Energieversorgung investieren zu können: „Mehr Photovoltaik, mehr Windkraft: Bei uns steht nicht der Klimaschutz im Vordergrund, sondern die Versorgungssicherheit.“
Es scheint, als habe der Krieg viele Blickwinkel verändert. „Vor dem Krieg spielten große Fernster eine Rolle, weil sie viel Licht zum Beispiel ins Klassenzimmer lassen“, sagt Tschernihiws Gouverneur Wjatscheslaw Tschaus. Logischerweise gehe es heute darum, gute Schutzräume zu bauen, in die gar kein Sonnenstrahl mehr eindringen kann, „denn die Russen greifen uns ja nach wie vor an.“ Mitte April gab es zuletzt 17 Tote in der größten Stadt der Nordukraine, als Raketen ein Hotel in der Stadt Tschernihiw trafen und dem Erdboden gleich machten. Die Druckwelle war so gewaltig, dass auch das Hauptgebäude der Universität und mehrere Hochhäuser zerstört wurden, wie auch das Kreiskrankenhaus, das nach vorherigem Beschuss gerade erst wieder aufgebaut worden war. Mit einer tiefen, überzeugten Stimme sagt Gouverneur Tschaus: „Das zeigt, wie richtig unsere strategischen Ziele sind: Gewährleistung von Energieunabhängigkeit, Informations- und Cybersicherheit.“
Prekäre Versorgungssituation
Von der Energieunabhängigkeit ist die Ukraine nach den vielen Angriffen allerdings entfernter denn je, viele Experten bezeichnen die Situation als schwieriger als vor dem letzten Winter. „Viele unserer Atomreaktoren gehen im Sommer in die periodische Sicherheitsüberprüfung“, sagt DTEK-Manager Dmytro Sacharuk, sie werden also zur Wartung abgeschaltet. Im Sommer gebe es weniger Wasser und wegen der permanenten Raketenangriffe der Russen „noch mehr Zerstörung von Kapazitäten.“ Dann könnte Strom tatsächlich zu einem knappen Gut werden.
Wichtiger Import von Strom aus der EU
Immerhin läuft der Testbetrieb mit dem Stromnetz der EU einwandfrei, wie Ukrenergo-Sprecherin Marija Zaturian berichtet: „Um Schwankungen auszugleichen werden Stromnetze nie national betrieben, das ukrainische war mit dem russischen verbunden.“ Doch dann kam der russische Angriff und mit diesem wurden auch alle Stromleitungen gekappt. „Seit 16. März 2022 ist die Ukraine mit dem Stromnetz der EU verbunden“, zwar noch im Testbetrieb, aber die Perspektive sei klar: „Wenn wir genug Strom produzieren, können wir stündlich 100 Megawatt in die EU exportieren.“
In diesem Sommer wird aber erst einmal die Lieferung in die andere Richtung – in die Ukraine – wichtig: Importierter Strom aus der EU kann der Ukraine helfen, sich gegen den russischen Aggressor zu verteidigen – wenn die Umspannwerke dank der Bunker zwar immer noch funktionieren, aber die ukrainischen Kraftwerke nicht genug Strom produzieren können.
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