Der blinde Fleck – wie die Deutschen die Ukraine sehen
Als die russischen Raketenangriffe auf die gesamte Ukraine 2022 begannen, stellten viele Deutsche fest, dass sie über die Ukraine eigentlich wenig wussten. Seitdem erfuhr das Land sehr viel Aufmerksamkeit in den deutschen Medien.
Die Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland hat sich im letzten Jahr diversifiziert. Mit dem flächendeckenden Angriff Russlands und der Ausweitung des Krieges auf das gesamte Territorium der Ukraine gewann das Land mehr Aufmerksamkeit. Doch obwohl die Ukraine quantitativ mehr Präsenz erfährt, ist die Sicht der breiteren deutschen Öffentlichkeit nach wie vor durch Wissenslücken und verzerrte oder unvollständige Bilder geprägt. Um die Ukraine und ihre Kultur sowie die Widerstandskraft und den Freiheitswillen der Menschen besser verstehen zu können, ist es unabdingbar diese Wissenslücken zu schließen.
Ukraine: in der politischen Debatte jahrelang nur ein Randthema
Der deutsche Politikwissenschaftler Andreas Umland beschrieb 2012 die Ukraine als „weißen Fleck“ im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit. Er hat recht. Auch wenn die kulturellen und politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine eng sind, blieb das Land in den politischen Diskussionsrunden über die Jahre hinweg nur ein Randthema. Es wurde wenig debattiert über die nationale Identität und die Geschichte der Ukraine, über den „Holocaust durch Kugeln“, die stalinistischen Repressionen und die Deportationen von Krymtataren, über die Russifizierung der Ukraine und die Rolle der ukrainischen Sprache.
Der Osteuropahistoriker Jan Claas Behrends betonte in seinem Gastbeitrag „Lauter blinde Flecken“ in der Wochenzeitung DIE ZEIT zutreffend, dass das Bild der Ukraine durch den kolonialen Blick geprägt ist, der wiederum auf Unwissenheit beruht. Im öffentlichen Diskurs waren in den vergangenen Jahren nur wenige Osteuropaexpert:innen – geschweige denn Ukrainer:innen – vertreten. Stattdessen ergriffen Personen das Wort, die de facto in dieser Hinsicht keine Expertise haben. Ein Beispiel dafür ist die ehemalige Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz.
Ukraine als Land der Krise und des Krieges
Seit dem Euromaidan und der Revolution der Würde gewann die Ukraine mehr Gehör in den deutschen Medien, den Hochschulen und breiten Teilen der Gesellschaft. Das medial erzeugte Bild blieb jedoch wenig differenziert. Wie die Ergebnisse der Studie „Die Ukraine in den Augen Deutschlands“ der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit aus dem Jahr 2017 zeigten, nahm „Deutschland [...] die Ukraine vor allem als Land der Krise und des Krieges wahr. Andere Meldungen schaffen es kaum in die deutschen Medien, [...] über das bereits Erreichte und die neuen Gestaltungsräume für die junge Generation erfährt man nichts.“ Dabei wurde gerade nach der Revolution der Würde und in den Folgejahren der politische, wissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Austausch verstärkt durch die Bundesrepublik Deutschland gefördert. In zahlreichen Projekten erfuhr die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern eine bedeutsame Entwicklung. In dem Projekt „German-Ukrainian Researchers Network“ des Instituts für Internationale Politik werden seit 2014 die bilateralen Beziehungen zwischen den Think-Tanks der beiden Länder gestärkt und der wissenschaftliche Dialog nachhaltig ausgebaut. Mit dem Projekt „MeetUp!“ wurden multilaterale Begegnungen von jungen Menschen aus der Ukraine, Deutschland und teilweise auch Russland initiiert. Am Runden Tisch in Kyjiw 2018 wurde sogar der Versuch unternommen, das bilaterale Deutsch-Ukrainische Jugendabkommen wieder zum Leben zu erwecken, um den Jugendaustausch nachhaltig zu gestalten.
Die Wortwahl in der Berichterstattung formte die politische und gesellschaftliche Meinung
Zum Zeitpunkt der rechtswidrigen Annexion der Krym 2014 und zu Beginn des russischen Krieges im Donbas wurde eine vermeintliche „Ukraine-Krise“ bzw. ein „Ukraine-Konflikt“ diskutiert. Auch nach dem umfassenden Angriff Russlands auf die Ukraine berichteten die Medien noch fälschlicherweise über den „Ukraine-Krieg“. Diese Bezeichnungen sind falsch und verzerren die Wahrnehmung der Ukraine maßgeblich. Wie Nikolai Klimeniouk in seinem jüngsten Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung zu Recht betont: „Allein schon das Wort ‚Ukraine-Krieg‘ verschiebt den Fokus vom Aggressor auf das Opfer und macht dieses zum Protagonisten des Geschehens.“ Dadurch blieben die russischen imperialen Machtansprüche gegenüber der Ukraine über mehrere Jahre hinweg ausgeblendet. Die Wortwahl in der Berichterstattung formte sowohl die politische als auch die gesellschaftliche Meinung.
In ihrem Artikel „Macht der Wörter“ begründen die Journalistinnen Claudia Wüstenhage und Stefanie Kara die Bedeutung der gewählten Wörter, die als Heuristiken dienen können und die inhaltliche Einordnung der Informationen prägen. Dabei sind Assoziationen ausschlaggebend. Dies hatte auch zur Folge, dass der russische Krieg gegen die Ukraine bis zum 24. Februar 2022 überhaupt nicht präsent war.
Jetzt werden die Stimmen aus der Ukraine hörbar
Erst mit der Ausdehnung des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine ließ sich in der Politik und in der Gesellschaft ein Umdenken beobachten.
Die deutsche Gesellschaft zeigt enorme Solidarität bei der Aufnahme der über eine Million nach Deutschland geflüchteten Menschen aus der Ukraine und leistete überwältigende Hilfe. In den Medien werden Stimmen aus der Ukraine hörbar, ukrainische Expert:innen werden in die politischen Diskussionsrunden eingeladen und können dort erstmals ihre eigene Sicht erklären. Die seit 2014 entstandenen Organisationen schließen sich in Initiativen und Bündnissen zusammen, agieren gemeinsam und unterstützen sich gegenseitig.
Die Allianz Ukrainischer Organisationen steht für mehr Sichtbarkeit
Die im März 2022 entstandene Allianz Ukrainischer Organisationen ist ein Zusammenschluss ukrainischer Organisationen in der Diaspora, die in den Folgejahren der Revolution der Würde entstanden sind. Sie bieten ein gutes Fundament für ein zivilgesellschaftliches Engagement mit Ukrainebezug. Gemeinsam stehen die Organisationen der Allianz für die Sichtbarkeit der Ukraine in Deutschland. Sie arbeiten im politischen, gesellschaftlichen und sozialen Bereich und bieten diverse Austauschformate an, um die „weißen Flecken“ zu tilgen. Durch das gestiegene Interesse an der Ukraine entstehen neue Kooperationen auf Augenhöhe; die Ukraine wird dadurch zum Subjekt der Politik, der Medien und der Gesellschaft.
Der Überfall Russlands hat das Bewusstsein verändert
Das deutsche Parlament stimmte mit großer Mehrheit für die Lieferung von schweren Waffen an die Ukraine sowie für eine bedeutende Verschärfung der Sanktionen gegen Russland. Nur wenige Tage nach dem russischen Überfall kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 in seiner „Rede zur Zeitenwende“ ein Umdenken in Deutschland an und sicherte der Ukraine Unterstützung zu. In der historischen Abstimmung vom 30. November 2022 zur Anerkennung des Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk erkennt das Parlament an, dass die sowjetische Führung das Ziel verfolgt hatte, durch vorsätzliches Aushungern die Ukraine als Nation zu vernichten.
Insbesondere im vergangenen Jahr sind positive Entwicklungen zu verzeichnen. Zugleich liegt darin, wie die Osteuropahistorikerin Franziska Davies zutreffend formuliert, „eine Erkenntnis, die Deutschland ein Armutszeugnis ausstellt: Es hat die Ermordung ukrainischer Zivilistinnen und Zivilisten, Bomben auf eine europäische Hauptstadt und den heldenhaften Widerstand der Ukrainerinnen und Ukrainer gebraucht, damit wir die Ukraine als ‚echte‘ Nation anerkennen, die unsere Unterstützung verdient.“ Diese Erkenntnis offenbart die dringende Notwendigkeit einer grundlegenden kritischen Diskussion über die Wahrnehmung der Ukraine, aber auch anderer Länder des östlichen Europas.
Um ein differenzierteres Bild zu erreichen ist eine kritische Auseinandersetzung unabdingbar. Es bedarf einer Stärkung der wissenschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Strukturen, insbesondere auch der Organisationen in der Diaspora, der Förderung von bilateralen Projekten, Städtepartnerschaften oder Stipendienprogrammen und von regelmäßigen Austauschformaten auf kommunaler, Landes- und Bundesebene. Nur so wird sich das gegenseitige Verständnis nachhaltig verändern.
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