Das Kernkraftwerk Saporischschja: Angst vor Zerstörung durch russische Besatzer
Am 38. Jahrestag der Nuklearkatastrophe von Tschornobyl blicken die Ukrainer mit großer Sorge auf das seit über zwei Jahren von russischen Truppen besetzte Kernkraftwerk Saporischschja. Die Osteuropa- und Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland gibt einen Überblick über die aktuelle Lage, die russische „hybride“ Kriegführung und die größten Risikofaktoren.
Vor über zwei Jahre besetzten russischen Truppen das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja. Das Schicksal des größten Kernkraftwerks Europas unter den Bedingungen eines bewaffneten Staatenkonflikts ist nicht nur ein Testfall für die Reaktorsicherheit, sondern auch eine Fallstudie für russischen Besatzungsverbrechen und die russische „hybride“ Kriegführung.
Fehlende Informationen trotz IAEA-Beobachtermission
Die Analyse und Bewertung der Situation im Kernkraftwerk stellt eine große Herausforderung für Fachleute dar, denn der Informationsfluss ist nicht gesichert: Die Aussagen der Besatzer über die Anlage sind nicht zuverlässig, der Kontakt zur Betreiberorganisation Enerhoatom und zur ukrainischen Atomaufsicht ist unterbrochen, Messstellennetze und andere Instrumentarien der Fernüberwachung sind teilweise außer Betrieb. Die seit September 2022 auf der Anlage befindliche ständige Mission der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA kann ihre Beobachtungsaufgaben nur eingeschränkt erfüllen, da die Besatzer den IAEA-Experten nicht zu allen Anlagenbereichen auf dem weitläufigen Betriebsgelände Zugang gewähren.
Warnungen vor einem neuen Tschornobyl
Zudem sind Falschinformationen, Gerüchte und verzerrte Aussagen über den Zustand des Kraftwerks auch Instrumente in einem Krieg der Bedrohungskommunikation. Die russische Seite bezweckt damit, die ukrainischen Entscheider zu ängstigen und zu lähmen; sie zielt aber auch auf die Atomängste der westlichen Verbündeten der Ukraine, um diese von weiterer Unterstützung abzuhalten. Die ukrainische Seite wiederum versucht, mit Dramatisierungen der Lage an die Weltöffentlichkeit zu appellieren. Bei Beschuss beschuldigen sich beide Seiten gegenseitig, Urheber der Gefährdung zu sein. In diesem Zusammenhang wird dann häufig von einem neuen Tschornobyl gesprochen, das unmittelbar bevorstehe.
Die – damals noch sowjetische – Ukraine erlitt am 26. April 1986 den schwersten Reaktorunfall in der Geschichte der zivilen Kernenergienutzung, der ein großes Gebiet nördlich von Kyjiw für ständige menschliche Besiedlung unbewohnbar machte, zur Evakuierung von über 100.000 Menschen führte, über 100 Sofortopfer forderte und viele Tausende Krebsfälle nach sich zog.
Das Trauma von Tschornobyl steht den Ukrainern also vor Augen, wenn sie heute nach Saporischschja blicken. Umso wichtiger ist die Produktion gesicherten Wissens über Saporischschja und über die mit dem Krieg zusammenhängenden Risiken eines Reaktorunfalls für die Ukrainer, aber auch für ihre Unterstützer.
Kernkraftwerk Saporischschja: Anlage unter russischer Besatzung
Wie sieht es heute auf dem Betriebsgelände aus? Zum Zeitpunkt der gewaltsamen Besetzung am 4. März 2022 befanden sich fünf der sechs 1.000-Megawatt-Druckwasserreaktoren des sowjetischen Typs VVER-1000 im Leistungsbetrieb, ein Block war in Revision. Bis September 2022 wurde das Kraftwerk sukzessive vom Netz genommen, weil aufgrund des Beschusses der Leistungsbetrieb nicht mehr sicher zu gewährleisten war.
Die russischen Militärs sind ständig auf der Anlage präsent, deren äußeren Sicherungsbereich sie teilweise vermint haben. Sie bedrohen und schikanieren die Belegschaft und stellen Militärfahrzeuge, Waffen und Munition – also gefährliche Brandlasten – in den Maschinenhäusern der Blöcke unter.
Seit Herbst 2022 ist eine russische Besatzungsleitung installiert, die versucht, Normalität und Legitimität zu suggerieren, während im Kernkraftwerk und in der Kraftwerksstadt Enerhodar Menschen verhaftet und gefoltert werden – bekannt waren im Herbst 2023 etwa 1.000 Fälle. Gleichzeitig wird die verbliebene Belegschaft mit Drohungen und Aussperrungen dazu gezwungen, russische Arbeitsverträge zu unterschreiben und russische Pässe anzunehmen. In diesem Klima der Angst ist eine Grundvoraussetzung kerntechnischer Sicherheit – die ungehinderte und angstfreie Arbeit und Kommunikation der Belegschaft – nicht gewährleistet.
Kernkraftwerk als „technische Geisel“
Aber auch die meisten anderen Bereiche der kerntechnischen Sicherheit sind beeinträchtigt: ob nun die Anlagenüberwachung, der Informationsfluss zur Aufsichtsbehörde, die geregelte Strom- und Ersatzteilversorgung, die turnusgemäße Wartung und Überprüfung der Systeme oder die Integrität des Betriebsgeländes. Man kann das Kernkraftwerk Saporischschja als „technische Geisel“ betrachten, deren Befreiung aus der Hand der Besatzer mit hohen Risiken für die Geisel verbunden wäre.
Das Kraftwerk befindet sich am südlichen Ufer des Flusses Dnipro, der hier die Frontlinie bildet. Auf der anderen Seite liegt die Stadt Nikopol, die unter ukrainischer Kontrolle steht. Die Anlage hat bereits schwerste Herausforderungen überstanden. Dazu gehören Beschuss durch Panzer, Artillerie und jüngst auch mittels Drohnen, die aber für die sicherheitsrelevanten Gebäudeteile, in denen die Reaktoranlagen und andere aktivitätsführende Systeme untergebracht sind, glimpflich abliefen.
Das Fukushima-Szenario als größte Gefahr
Die Reaktoren sind unterkritisch, das heißt, es findet in ihnen seit eineinhalb bis zwei Jahren keine Kettenreaktion mehr statt. Es fallen nur noch sehr geringe Leistungen an Nachzerfallswärme an. Die mehrstufige Nachkühlkette für die Abfuhr dieser Wärme aus den Brennelementen ist gewährleistet.
Es ist eher das Fukushima- als das Tschornobyl-Szenario, das Fachleute als die größte Gefahr für Saporischschja ansehen. In Tschornobyl war es in einer Anlage anderer Bauart zu einer Explosion und Bränden gekommen, die den Reaktor binnen weniger Sekunden zerlegten und große Mengen seines radioaktiven Inventars freisetzten. Ein solches Ereignis, verursacht durch Artilleriebeschuss, wird als wenig wahrscheinlich angesehen, da die Saporischschja-Reaktoren mit Schutzhüllen (Containments) ausgerüstet sind, die Zufallstreffer abfangen können. Einem gezielten Beschuss mit Zerstörungsabsicht jedoch würden sie nicht standhalten.
Als größte Gefahr für das Kraftwerk gilt die kriegsbedingte Unterbrechung der Stromversorgung. Der Worst Case wäre dann eine mit Fukushima vergleichbare Situation: totaler Spannungsverlust, Aussetzen der elektrisch versorgten Nachkühlpumpen, Ausdampfen des Kühlmittels und Schmelzen der Brennelemente.
Risikofaktoren Stromversorgung und Kühlwassermangel
Bisher kam es im Kernkraftwerk Saporischschja zu acht Notstromfällen: Sowohl die Anbindung ans Höchstspannungsnetz als auch ans Reservenetz wurden durch den Beschuss unterbrochen. Dieselbetriebene Notstromaggregate mussten die Versorgung der Nach- und Beckenkühlpumpen und anderer sicherheitswichtiger Aggregate übernehmen. Die Notstromversorgung in Saporischschja ist dreifach redundant ausgelegt. Das heißt, es genügt einer von je drei Notstromdieseln pro Block für die Gewährleistung der Sicherheit. In allen acht bisherigen Notstromfällen funktionierte die Notstromversorgung entsprechend.
Auch ein weiteres gravierendes Ereignis für die Nachkühlung der Reaktoren – die Sprengung des Staudamms von Kachowka am 6. Juni 2023 und das darauffolgende Auslaufen des Kachowka-Stausees – hat das Kernkraftwerk glimpflich überstanden. Der Kühlwasserteich des Kraftwerks war vor der Sprengung des Staudamms aus dem Stausee gespeist worden. Der Verlust dieser sogenannten primären Wärmesenke fiel deshalb nicht so stark ins Gewicht, weil der Kühlwasserverbrauch im abgeschalteten Kraftwerk gering war und weil Kühlwasser aus einem benachbarten Kohlekraftwerk sowie aus inzwischen gebauten Tiefbrunnen verwendet werden konnte.
Bis vor Kurzem wurde jeweils einer der sechs Blöcke immer noch im sogenannten „hot shutdown“, also im heiß-unterkritischen Zustand gefahren, um die Wärmeversorgung für die Stadt Enerhodar aufrechtzuerhalten. Mitte April 2024 jedoch wurde der letzte der sechs Blöcke in den „cold shutdown“ versetzt, nachdem die Winterheizperiode zu Ende war. Erstmals seit 2022 befinden sich damit alle Reaktorblöcke von Saporischschja im Zustand der Kaltabschaltung.
Zustand der Unsicherheit
Dieser kurze Überblick führt zu zwei Schlussfolgerungen: Einerseits erwies sich die Anlage Saporischschja unter Kriegsbedingungen – mit zahlreichen anormalen und extremen Betriebszuständen – als weitaus robuster, als man das vorher angenommen hätte. Ein der Nuklearkatastrophe von Tschornobyl ähnliches Ereignis ist unwahrscheinlich.
Andererseits kann jeder neue Tag einen Einschnitt bedeuten: Was geschieht, wenn sich die Kriegshandlungen stärker ins Gebiet des Kernkraftwerks verlagern? Wird es den ukrainischen Technikern immer so rasch gelingen, zerstörte Netzanbindungen wieder zu reparieren und so das Kernkraftwerk abzusichern? Welche Risiken birgt das Fehlen der regulären Wartung? Und was passiert, wenn eines der anderen ukrainischen Kernkraftwerke in vollem Leistungsbetrieb getroffen wird?
Die große Unbekannte: das Verhalten der Besatzungsmacht
Die größte Unbekannte aber ist das Verhalten der Besatzungsmacht. Wie wir aus bitterer Erfahrung wissen, schreckt Moskau vor Zerstörungsakten wie der Sprengung des Kachowka-Staudamms nicht zurück. Auch die Sicherheit der eigenen Soldaten spielt in Putins System des Kriegsterrors keine Rolle. Die größte Angst haben die Ukrainer deshalb vor einem möglichen direkten Akt der Zerstörung des Kernkraftwerks durch Russland, was zu einer Freisetzung radioaktiven Inventars führen könnte.
Nur die Entmilitarisierung der Anlage und ihre Unterstellung unter die Verwaltung der IAEA würde diesen Zustand der Unsicherheit vorläufig beenden. Die IAEA hat dies auch immer wieder angemahnt – ohne Erfolg. Das Kernkraftwerk Saporischschja bleibt also eine technische Geisel in einem Spiel der Angst, und es sieht nicht danach aus, als würde der Kreml dieses Pfand so schnell aus der Hand geben.
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