Das Ende einer Ära

Präsident Selenskyj hat seinen engsten Vertrauten entlassen, um die innenpolitische Stabilität des Landes zu erhalten. Denn zuletzt hatte sich sogar seine eigene Fraktion gegen den mächtigen Leiter des Präsidialamts, Andrij Jermak, gestellt. Dessen Weggang wird massive Folgen haben – sowohl für die Innen- als auch für die Außenpolitik.
Im politischen Leben des ukrainischen Präsidenten hat es bereits einige schmerzhafte Trennungen gegeben. Am persönlichsten traf Wolodymyr Selenskyj bisher vermutlich die Entlassung seines Kindheitsfreundes Iwan Bakanow als Chef des Inlandsgeheimdienstes SBU im Juli 2022. Die Führung des SBU war damals von russischen Agenten durchsetzt, und Bakanow war in den ersten Wochen nach dem russischen Großangriff kaum in Erscheinung getreten. Die Trennung war also unvermeidlich. Dabei hatten Bakanow und Selenskyj bis dahin fast ihr ganzes Leben gemeinsam verbracht – privat und beruflich, im Fernsehgeschäft und in der Politik.
Doch die Entscheidung, die Selenskyj am vergangenen Freitag treffen musste, war noch um ein Vielfaches bedeutsamer: Nachdem das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) die Wohnung seines Stabschefs Andrij Jermak durchsucht hatte, verkündete der Präsident dessen Rücktritt – eine Nachricht, die noch vor Kurzem niemand in Kyjiw geglaubt hätte. Schließlich war Jermak der engste Verbündete Selenskyjs und lange Zeit der zweitmächtigste Mann im Staat.
Ein absolut loyaler Stabschef…
Freiwillig dürfte der 54-Jährige allerdings kaum zurückgetreten sein. Es soll zu einem emotionalen Gespräch gekommen sein, bei dem Jermak auf seine faktische Entlassung äußerst getroffen reagiert habe. Der Streit zwischen dem Präsidenten und seiner einst rechten Hand soll derart eskaliert sein, dass am Samstag ein weiteres Gespräch notwendig wurde. Im Anschluss daran erklärte Jermak, Selenskyj und er seien bis jetzt Freunde gewesen – und würden das auch nach seiner Entlassung bleiben.
Ob die beiden vor Selenskyjs Amtsantritt wirklich Freunde waren, lässt sich – anders als bei Bakanow – nicht nachweisen. Selenskyj und Jermak kannten sich aus der Kinobranche, wo der auf Urheberrecht spezialisierte Jurist arbeitete und mehrere Filme mitproduzierte. Als Selenskyj 2019 als Präsident kandidierte, gehörte Jermak bereits zu dessen Team, stand jedoch allenfalls in der zweiten Reihe.
Seitdem aber verlief sein Aufstieg fulminant. Andrij Jermak wurde zum außenpolitischen Berater Selenskyjs und war von Anfang an für die schwierigen Verhandlungen mit Russland verantwortlich. Im Herbst 2019 vereinbarte er den ersten größeren Gefangenenaustausch zwischen beiden Ländern, bei dem unter anderem der bekannte Regisseur Oleh Senzow nach mehr als fünf Jahren Gefangenschaft in die Ukraine zurückkehrte. Wenig später, im Februar 2020, wurde Jermak zum Leiter des Präsidentenbüros befördert.
… stets an der Seite des Präsidenten
In dieser Rolle war er bis vor wenigen Tagen allgegenwärtig. Ob Innen‑, Außen- oder Personalpolitik: Jermak nahm in allen Bereichen entscheidenden Einfluss – für viele Grund genug, von einem „Schattenpräsidenten“ zu sprechen. Doch diese Annahme irrt. Es war vielmehr Jermaks Vorgänger Andrij Bohdan, der hinter dem Rücken des politischen unerfahrenen Selenskyj eine Art Präsident hinter dem Präsidenten zu spielen versuchte.
Jermaks Herangehensweise war eine andere und ging weit darüber hinaus, Selenskyjs Terminkalender zu verwalten – was ja an sich schon nicht unwichtig ist. Jermak setzte vor allem um, was sein Chef wollte, selbst wenn beide unterschiedlicher Meinung waren. Jermaks enorme Loyalität zeigte sich auch darin, dass er die ersten Tage und Wochen nach dem russischen Großangriff im sogenannten Bunker Nummer eins an der Seite des Präsidenten blieb, als feindliche Truppen unmittelbar vor der Hauptstadt standen. Selenskyjs bester Freund Bakanow schien zu dieser Zeit gar nicht mehr in Kyjiw zu sein.
Jermaks Auftreten in dieser Zeit befeuerte Vorwürfe, die in oppositionellen Kreisen schon vor 2022 laut geworden waren. Der Präsidentenberater sei latent prorussisch, hieß es. Tatsächlich waren diese Anschuldigungen aus der Luft gegriffen und nährten sich vor allem aus Jermaks regelmäßigem Kontakt zum russischen Chefunterhändler für den Krieg im Osten der Ukraine, Dmitrij Kosak. Nach allem, was über die Verhandlungen zwischen Kyjiw und Moskau bekannt ist, verliefen diese Gespräche in einer äußerst angespannten Atmosphäre. Jermak sei von seinem russischen Kollegen bei jeder möglichen Gelegenheit enorm unter Druck gesetzt worden.
Rund um die Uhr erreichbar
Weniger haltlos wirkten andere Vorwürfe – etwa, wenn es um den enormen Einfluss des Präsidialamtsleiters auf die Innenpolitik ging. Zu einem gewissen Teil lag dieser natürlich im politischen System und den aktuellen Gegebenheiten begründet. Verfassungstechnisch ist die Ukraine eine semipräsidentielle Republik, in der Parlament und Regierung eine starke Rolle spielen. Doch 2019 hatte Selenskyjs Partei Diener des Volkes auch in der Werchowna Rada die absolute Mehrheit erlangt, sodass die Volksvertretung kein echtes machtpolitisches Gegengewicht mehr war und das Präsidialamt fast automatisch zum Aufsichtsorgan über Parlament und Regierung wurde.
Präsident Selenskyj, hieß es seinerzeit, vergleiche die Führung des Staates mit der eines großen Unternehmens, das von „fünf bis sechs Managern“ verwaltet werde, die jederzeit ansprechbar sein müssten. In dieses Bild passte Jermak hervorragend: Ohne Familie oder Kinder war der Präsidialamtschef an sieben Tagen pro Woche rund um die Uhr erreichbar. Seit 2022 lebte er, genau wie Selenskyj, im Präsidentenbüro.
Doch mit der Zeit mehrten sich Anzeichen dafür, dass Jermaks Einfluss auf das Regierungssystem schlicht zu groß geworden war und weit über den normalen Rahmen hinaus ging. So wurden kaum noch Personalentscheidung ohne den allgegenwärtigen Berater getroffen. Zudem soll er mehrfach versucht haben, Sicherheitsorgane wie den Inlandsgeheimdienst SBU oder das Staatliche Ermittlungsbüro, eine Art ukrainisches FBI, unter seine Kontrolle zu bringen. Im politischen Kyjiw zweifelt kaum jemand daran, dass Jermak diesen Behörden konkrete Anweisungen gab, Strafverfahren gegen bestimmte Personen einzuleiten.
Stichhaltige Vorwürfe fehlen
Dabei gilt Andrij Jermak nicht als besonders umgänglich. In jüngster Zeit soll er sich selbst mit Außenminister Andrij Sybiha und SBU-Chef Wassyl Maljuk überworfen haben – mit jenen Leuten also, für deren Beförderung er sich einst eingesetzt hatte. Zuletzt soll es sogar eine Chatgruppe gegeben haben, in der ranghohe Beamte diskutierten, wie man die Entlassung des Stabschefs erreichen könnte – darunter auch etliche derer, die einst zum engsten Kreis um Jermak gehört hatten.
Bis zuletzt war jedoch nichts bekannt, was Andrij Jermak tatsächlich hätte belasten können. Dass er etwa hinter der im Sommer gescheiterten Idee stand, die Unabhängigkeit von Antikorruptionsorganen einzuschränken, klingt zwar plausibel, bleibt jedoch reine Spekulation. Und dass er in seinem Umfeld auch auf fragwürdige Personen setzte, ist per se nicht strafbar. Zu erwähnen ist in dem Zusammenhang sein Stellvertreter für Sicherheitsfragen, Oleh Tatarov, ein Beamter aus der Zeit von Ex-Präsident Wiktor Janukowytsch, der sich infolge der Maidan-Revolution nach Russland absetzte – wobei es auch in der Beziehung zwischen Jermak und Tatarov zuletzt Risse gegeben haben soll.
Weitreichende Folgen der Operation „Midas“
Wirklich brisant wurde die Situation erst, als das NABU erste Ergebnisse der sogenannten Operation Midas öffentlich machte. Sie legte groß angelegte Korruption im ukrainischen Energiesektor offen, soll aber auch andere Branchen wie die Verteidigungsindustrie und fragwürdige Immobiliengeschäfte betreffen. Noch lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob der Deckname Ali-Baba auf den vom NABU veröffentlichten Gesprächsmitschnitten wirklich Jermak zuzuordnen ist.
Wie ernst die Lage ist, zeigte aber spätestens die Durchsuchung von Jermaks Wohnung am Morgen des 28. November. In Kyjiw jedenfalls glaubt kaum jemand, dass der mächtige Chef des Präsidialamts von den Machenschaften rund um Tymur Minditsch, den zwielichtigen Geschäftsmann im Zentrum der Korruptionsaffäre, nichts gewusst haben soll. Umso stärker wurde der Druck auf Präsident Selenskyj, seinen engsten politischen Vertrauten endlich zu entlassen.
Mächtiger Mann mit viel Gegenwind
Hörbare Stimmen in Opposition und Zivilgesellschaft hatten Jermak schon seit 2019 – und spätestens seit seiner Beförderung zum Präsidialamtschef 2020 – deutlich kritisiert. Wolodymyr Selenskyj ignorierte sie jedoch lange Zeit. Nun allerdings wendete sich auch die eigene Fraktion gegen den Stabschef des Präsidenten. Größere Gruppen innerhalb der Partei Diener des Volkes sollen sich jüngst für die Entlassung Jermaks ausgesprochen haben.
Zu dessen Gegnern gehörte auch der Fraktionsvorsitzende David Arakhamia, einer der mächtigsten Abgeordneten im ukrainischen Parlament, ohne den kaum eine Abstimmung zustande kommt. Wäre seine eigene Fraktion zerfallen, hätte das im semipräsidentiellen System der Ukraine fatale innenpolitische Folgen für Selenskyj gehabt – zumal die absolute Mehrheit der Partei Diener des Volkes ohnehin seit Jahren nur auf dem Papier existiert. Tatsächlich ist der Präsident schon seit Längerem auf die Unterstützung anderer kleiner Gruppierungen angewiesen, um wichtige Entscheidungen im Parlament durchzusetzen. So musste Selenskyj schließlich seinen engsten Vertrauten opfern, um die innenpolitische Stabilität des Landes zu erhalten.
Wichtiger als der Außenminister
Die außenpolitischen Folgen dieser Entscheidung sind nicht minder gravierend. Jermak war von Tag eins an Verhandlungsführer der ukrainischen Seite in Gesprächen über ein Ende des Krieges mit Russland. Er kennt sich nicht nur mit den diesbezüglichen Details bestens aus, sondern gilt auch als harter Verhandler, der Ergebnisse liefert. Im System Selenskyj war er daher der Diplomat Nummer eins und bisweilen weit wichtiger als der jeweils amtierende Außenminister.
Jermaks diplomatisches Geschick wird indes international unterschiedlich eingeschätzt. Er gilt als nicht besonders charismatisch und ein wenig selbstverliebt. In europäischen Hauptstädten tolerierte man seinen Einfluss auf Präsident Selenskyj notgedrungen, die neue US-Regierung um Donald Trump stieß sich vor allem an seinem schlechten Englisch. Sowohl in den USA als auch in Europa dürfte es deshalb nicht wenige geben, die auf die Entlassung des Stabschefs erleichtert reagieren.
Mit Jermaks Entlassung endet im politischen Kyjiw eine Ära. In einer emotionalen Nachricht an The New York Post schrieb der entlassene Präsidentenberater, er gehe nun an die Front – woraufhin nicht wenige vermuteten, er wolle damit einer möglichen Strafverfolgung entziehen. Das allerdings ist juristisch kaum möglich und daher nichts als Spekulation.
Als Jermaks Nachfolger sind derzeit namhafte Persönlichkeiten im Gespräch – doch keiner von ihnen wird in Zukunft auch nur annähernd so viel Einfluss auf die (Innen-)Politik des Landes haben wie er. Spannend ist dies auch mit Blick auf die Regionalpolitik, denn die Mehrheit der vom Präsidenten ernannten Gouverneure, die die Regionen verwalten, unterhielt enge Verbindungen zu Jermak. Es ist eine Transformation, die es im System von Wolodymyr Selenskyj – das an überraschenden Kehrtwenden nie arm war – noch nicht gegeben hat.
![]()
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.




