Das deutsche Ukrainebild – eine Folge von verdrängtem Imperialismus?
Bei einer LibMod-Podiumsdiskussion im „Cafe Kyiv“ wurde über Stereotypen und „blinde Flecken“ in Bezug auf die Ukraine diskutiert. Dabei suchten die Diskutanten die Gründe auch in der deutschen Geschichte.
Das Bild der Ukraine in Deutschland hat sich seit Beginn des russischen Angriffskrieges gewandelt. Während die Ukraine vor dem 24. Februar 2022 in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde, beschäftigen sich deutsche Politik und Gesellschaft inzwischen intensiv mit dem Land.
Dennoch wird die Ukraine in den deutschen Medien noch nicht genug als eigenständiges Land wahrgenommen, mehr Erklärungsarbeit ist nötig. Das war das Fazit der Podiumsdiskussion, die das Zentrum Liberale Moderne am 27. Februar im „Cafe Kyiv“ organisiert hat.
Die Diskutanten waren sich einig: In Deutschland weiß man immer noch zu wenig über die Geschichte der Ukraine, über ihre Kultur und Gesellschaft. Das Land wird immer noch großteils durch eine russische Brille betrachtet. Viel zu lange wurde die Ukraine für unwichtig gehalten, Russland dagegen für zu wichtig.
Die Politikwissenschaftlerin Natalia Pryhornytska betonte, dass die Anerkennung des Holodomor als Völkermord im November 2022 ein großer Schritt für die Wahrnehmung der Ukraine und ihrer Geschichte in Deutschland sei. Marieluise Beck, Mitgründerin des Zentrums Liberale Moderne, wies jedoch darauf hin, dass über die Holodomor-Anerkennung kaum diskutiert worden sei. Im Falle der Armenier im Osmanischen Reich habe die öffentliche Debatte vor 20 Jahren begonnen, erst danach sei der Völkermord anerkannt worden. Über den Holodomor hätte es kaum eine öffentliche Debatte gegeben. Dennoch sei die Anerkennung des Holodomor als Völkermord ein deutlicher Fortschritt.
Die Gründe für die „blinden Flecken“ in Bezug auf die Ukraine sind vielfältig. Laut Franziska Davies hat Deutschland eine eigene koloniale Geschichte, auch in Bezug auf Osteuropa. So etwas habe eine Langzeitwirkung. Selbst nach 2014 sei das Thema kaum bearbeitet worden. Damals habe es an Empathie gegenüber der Ukraine gemangelt.
Der Schriftsteller Jurko Prochasko machte deutlich, dass die Vorstellung von Nationalismus in Deutschland sehr stark von der eigenen imperialen Geschichte geprägt worden sei. Dieses Verständnis von Nationalismus passe nicht mit dem ukrainischen Nationalismus zusammen, der durch Freiheitskampf geprägt worden und antiimperialistisch sei. „Ich höre immer wieder die Frage, ob die Ukraine sich nicht in einen rechtsnationalistischen Staat verwandeln würde, wenn sie den Krieg gewinnt“, sagte er. Allein das Auftauchen dieser Frage zeige das Problem mit dem deutschen Begriff des Nationalismus.
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Laut Prochasko lässt die deutsche Haltung mit Projektion, einem Begriff aus der Psychoanalyse, erklären: „Dass die deutsche Gesellschaft so lange nicht dazu fähig war, in der Sowjetunion ein Imperium zu sehen, liegt an der eigenen imperialen Geschichte Deutschlands. Man meinte, den eigenen Imperialismus überwunden, er war jedoch lediglich verdrängt.“ Prochasko betonte auch, dass, wenn in Deutschland über Schuld gegenüber Russland gesprochen werde, es eigentlich um ein unerträglicheres Gefühl der Angst gehe.
Franziska Davies betonte, in Deutschland spreche man viel zu abstrakt über den Krieg gegen die Ukraine. „Es geht in den Talkshows nicht um die Gewalt, die geschieht: Wenn man darüber spricht, dass die Krim eigentlich russisch sei, dann verhöhnt man die konkreten Opfer des Krieges“, so Davies.
Nataliya Pryhornytska wies darauf hin, dass die Ukraine immer noch als ein Problem verstanden werde. Die Chance, die die Ukraine für Deutschland darstelle, werde nicht gesehen. Im Kanzleramt werde immer noch nicht kommuniziert, dass die Ukraine unterstützt werden müsse, weil sie die Freiheit von ganz Europa verteidige, findet Pryhornytska.
Das Zentrum Liberale Moderne organisierte am 27. Februar 2023 im Cafe Kyiv – im Rahmen des von der Konrad-Adenauer-Stiftung organisierten Events: Cafe Kyiv – Wir wählen die Freiheit die Podiumsdiskussion Das Ukrainebild in Deutschland: Perspektiven aus beiden Ländern.
An der Diskussion nahmen Dr. Franziska Davies (Ludwig-Maximilians-Universität München), Jurko Prochasko (Schriftsteller, Übersetzer und Psychoanalytiker) und Nataliya Pryhornytska (Allianz Ukrainischer Organisationen) teil. Das Gespräch wurde von Marieluise Beck (Zentrum Liberale Moderne) moderiert.
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