Russ­land stellt die euro­päi­sche Sicher­heit auf die Probe

Foto: White House /​ Imago Images

Nachdem es dem Kreml nicht gelun­gen ist, mit der Trump-Admi­nis­tra­tion exklu­sive Ein­fluss­sphä­ren in Europa zu ver­ein­ba­ren, tor­pe­diert er die Einheit der euro-atlan­ti­schen Allianz. Die USA, die NATO und die EU sollten ihre Bemü­hun­gen kon­so­li­die­ren und die Ukraine mili­tä­risch unter­stüt­zen, um eine rus­si­sche Inva­sion abzu­weh­ren, schreibt Petro Burkovskyi.

Im Gegen­satz zu Donald Trump, der ohne Rück­sicht auf Europa eine gemein­same Basis mit Russ­land suchte, hat Prä­si­dent Joe Biden Russ­lands Ein­mi­schung in US-Wahlen ver­ur­teilt, Sank­tio­nen für rus­si­sche Cyber­an­griffe gebil­ligt und sich inten­siv um die Wie­der­her­stel­lung der Bezie­hun­gen zu euro­päi­schen Part­nern, beson­ders Deutsch­land, bemüht.

Darüber hinaus haben Washing­ton und Brüssel eine ein­heit­li­che Posi­tion zur rus­si­schen Innen­po­li­tik ein­ge­nom­men – ein sen­si­bles Thema für den Kreml – wie etwa die Ein­schüch­te­rung poli­ti­scher Gegner und Repres­sio­nen gegen freie Medien. Beson­ders ärger­lich für den Kreml war, dass die USA und die EU gemein­sam Russ­land als Kriegs­par­tei und nicht als Ver­mitt­ler im Krieg in der Ost­ukraine bezeichneten.

Die sich abzeich­nende Wie­der­be­le­bung der trans­at­lan­ti­schen Bezie­hun­gen stellt die rus­si­schen Errun­gen­schaf­ten und Moskaus Ein­fluss auf dem Gebiet des ehe­ma­li­gen Ost­blocks in Frage, und – noch wich­ti­ger – bedroht Putins Rolle als Ver­fech­ter der wie­der­her­ge­stell­ten rus­si­schen Macht im In- und Ausland, ins­be­son­dere in Europa.

Daher hat der Kreml offen­bar beschlos­sen, sein letztes Mittel ein­zu­set­zen: eine Mili­tär­macht, die sich auf Atom­waf­fen, Kurz- und Mit­tel­stre­cken­ra­ke­ten und neue Hyper­schall­ra­ke­ten sowie die größte Armee Europas stützt.

Zwei plötz­li­che Mili­tär­übun­gen im April und Novem­ber 2021 in Belarus und nahe der Ukraine sowie die hybride Ope­ra­tion der insze­nier­ten „Migra­ti­ons­krise“ in Belarus haben gezeigt, dass der Kreml nicht länger nach Vor­wän­den sucht, um mit Gewalt und Sub­ver­sion Zuge­ständ­nisse von seinen euro­päi­schen Nach­barn zu erlangen.

Bislang hat der Kreml ledig­lich eine Zustim­mung der USA und der NATO erhal­ten, über die rus­si­schen Sicher­heits­be­den­ken zu spre­chen und zu prüfen, inwie­weit diese rea­lis­tisch sind und nicht die kol­lek­tive Sicher­heit in Europa bedro­hen. Doch kann Moskau seine Diplo­ma­tie als Waffe ein­set­zen, um den Westen zu spalten und seine wahren Absich­ten zu verschleiern.

Russ­lands Hauptziele

Der jüngs­ten Gesprä­che mit Russ­land haben gezeigt, dass der Kreml gegen­über dem Westen drei Haupt­ziele ver­folgt. Sie alle haben Aus­wir­kun­gen auf den andau­ern­den Krieg zwi­schen der Ukraine und Russ­land im Donbass.

Erstens: Putin nutzt die Ver­hand­lun­gen mit dem Weißen Haus, um das Ver­trauen zwi­schen der ame­ri­ka­ni­schen und der euro­päi­schen Regie­rung zu unter­gra­ben. Die Russen wollen den Ein­druck erwe­cken, dass die Ame­ri­ka­ner ange­sichts des rus­si­schen Nukle­ar­ar­se­nals und der Hyper­schall­ra­ke­ten ihre innere Sicher­heit zur obers­ten Prio­ri­tät machen – um im Gegen­zug ihr Enga­ge­ment für die Sicher­heit Europas zu verringern.

Jüngste Bei­spiele für wach­sen­den natio­na­len Ego­is­mus – wie Nord Stream 2 – und inter­na­tio­nale Riva­li­tät um lukra­tive Rüs­tungs­märkte – wie der ame­ri­ka­nisch-fran­zö­si­sche Streit um U‑Boote für Aus­tra­lien – können diesen Ein­druck plau­si­bel machen.

Das rus­si­sche Ziel ist, Angst davor zu ver­brei­ten, dass Trumps „America First“-Politik auf Kosten der Sicher­heit der EU zurück­kehrt, und sie zu nutzen, um exklu­sive Bezie­hun­gen zu ein­zel­nen euro­päi­schen Ländern aufzubauen.

In Bezug auf die Ukraine sieht der rus­si­sche Plan vor, dass Kijyw seine Vor­stel­lun­gen von einer euro-atlan­ti­schen Inte­gra­tion aufgibt und Frie­dens­ge­sprä­che über die Zukunft des Donbas ohne „unzu­ver­läs­sige“ west­li­che Partner aufnimmt.

Es ist wenig ver­wun­der­lich, dass die rus­si­sche Pro­pa­ganda seit 2014 das Nar­ra­tiv ver­brei­tet, Washing­ton ver­su­che, die Ukraine zu „ver­ra­ten“. Auch eine Reihe ukrai­ni­scher poli­ti­scher Par­teien, dar­un­ter der pro­rus­si­sche Flügel der Partei „Diener des Volkes“ von Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj, teilen diese Ansicht. Sie werden die aktu­el­len Gesprä­che zwi­schen Russ­land und dem Westen nutzen, um ihre poten­zi­el­len Wähler weiter einer Gehirn­wä­sche zu unter­zie­hen und Selen­skyj auf­zu­for­dern, die Bedin­gun­gen Russ­lands zu akzeptieren.

Die Ukraine hat jedoch großes Ver­trauen in die west­li­chen Sicher­heits­in­sti­tu­tio­nen. Laut einer DIF-Umfrage vom Dezem­ber 2021 glauben mehr als 53 Prozent der Ukrai­ner, dass die NATO die beste Option zur Gewähr­leis­tung der Sicher­heit des Landes ist, ver­gli­chen mit einem Nicht-Blocksta­tus (26 Prozent) oder einer Mit­glied­schaft in der von Russ­land geführ­ten Orga­ni­sa­tion des Ver­trags über kol­lek­tive Sicher­heit (OVKS – 8 Prozent). Da die Umfrage vor den Unruhen in Kasach­stan und dem Ein­grei­fen der OVKS durch­ge­führt wurde, gehen wir davon aus, dass die Unter­stüt­zung für eine NATO-Mit­glied­schaft und das Ver­trauen in den Westen in der Ukraine weiter zuneh­men werden.

Zwei­tens will der Kreml demons­trie­ren, dass er sich gegen künf­tige west­li­che Sank­tio­nen wehren kann. Russ­land son­diert, ob der Westen geschlos­sen hinter den USA steht und bereit ist, den Preis für neue Sank­tio­nen und eine anschlie­ßende Kon­fron­ta­tion zu zahlen.

Der rus­si­sche Prä­si­dent Putin hat seinem US-Amts­kol­le­gen Biden bereits gedroht, dass weitere Sank­tio­nen eine Rück­kehr zu den Zeiten gegen­sei­ti­ger nuklea­rer Erpres­sung und stra­te­gi­scher Unsi­cher­heit bedeu­ten würden. In Europa kann Russ­land phy­si­sche und mediale Sub­ver­sion gegen poli­ti­sche Führer, Gewalt gegen Putin-Gegner zusam­men mit wirt­schaft­li­chen Vor­tei­len und Spenden an eine Viel­zahl von Unter­stüt­zern einsetzen.

Moskau weiß, dass die NATO nicht angrei­fen wird, aber es testet die Bereit­schaft des Bünd­nis­ses. Sobald Russ­land sieht, dass einige Bünd­nis­mit­glie­der ver­su­chen, eine Kon­fron­ta­tion zu ver­mei­den, kann es selbst­be­wuss­ter auftreten.

Dies hat direkte Aus­wir­kun­gen auf die Sicher­heit der Ukraine. Wenn die Ent­schlos­sen­heit gegen­über Russ­land unter man­geln­der Einig­keit der west­li­chen Ver­bün­de­ten leidet, kann Moskau mit mili­tä­ri­schen Eska­la­tio­nen in der Ost­ukraine spielen und die Belast­bar­keit der öst­li­chen NATO-Mit­glie­der weiter testen, indem es Grenz­kri­sen pro­vo­ziert oder sich für den „Schutz der rus­sisch­spra­chi­gen Bevöl­ke­rung“ im Bal­ti­kum einsetzt.

Drit­tens ver­sucht Russ­land, die USA und die NATO davon abzu­hal­ten, ost­eu­ro­päi­sche Bünd­nis­staa­ten sowie neu­trale Staaten wie Schwe­den und Finn­land zu bewaff­nen. Der stell­ver­tre­tende Außen­mi­nis­ter Sergej Rjabkow hat dies beim Treffen mit der US-Dele­ga­tion in Genf offen gesagt.

Auf­grund der Erfah­run­gen aus dem acht­jäh­ri­gen Krieg mit der Ukraine ist Russ­land besorgt über den Trans­fer neuer Tech­no­lo­gien, hoch­ent­wi­ckel­ter Waffen und pro­fes­sio­nel­ler Aus­bil­dung an die Armeen der ehe­ma­li­gen Sowjet­union und des War­schauer Pakts. Selbst im Fall eines voll­stän­di­gen Rück­zugs der USA aus Ost­eu­ropa werden diese Länder in der Lage sein, dem rus­si­schen Militär enormen Schaden zuzu­fü­gen, wie es ihn seit dem ersten Tsche­tsche­ni­en­krieg (1994–1996) nicht mehr erlebt hat. Die Erin­ne­rung an den ver­lo­re­nen Krieg gegen die vom Westen unter­stütz­ten und aus­ge­bil­de­ten isla­mi­schen Gue­ril­las in Afgha­ni­stan (1979–1989) ist ein wei­te­res schlag­kräf­ti­ges Argu­ment für dieses Ziel.

Moskaus For­de­run­gen als ver­han­del­bar zu betrach­ten ermu­tigt den Kreml

Für die Ver­ei­nig­ten Staaten und andere west­li­che Mächte ist es gefähr­lich, die rus­si­schen For­de­run­gen nach einer Begren­zung der mili­tä­ri­schen Aus­bil­dung und der Sta­tio­nie­rung von NATO-Truppen in den Mit­glieds­staa­ten als ver­han­del­bar zu betrach­ten, weil dies den Kreml weiter ermu­tigt, eine Politik der mili­tä­ri­schen Vor­herr­schaft in Europa zu verfolgen.

Die euro­päi­schen Staaten, die eine Land- oder See­grenze mit Russ­land haben, sind sich dieser Gefahr bewusst. So warnte bei­spiels­weise der schwe­di­sche Ober­be­fehls­ha­ber Micael Byden, dass Russ­lands For­de­run­gen „die Grund­la­gen unserer sicher­heits­po­li­ti­schen Struk­tur zer­stö­ren würden“.

Darüber hinaus ist in der Ukraine laut einer DIF-Umfrage vom Dezem­ber eine Mehr­heit von 48 Prozent der Meinung, dass west­li­che Waf­fen­lie­fe­run­gen und gemein­same Mili­tär­übun­gen mit den USA und NATO-Staaten eine rus­si­sche Inva­sion ver­hin­dern können, während nur 33 Prozent gegen­tei­li­ger Meinung sind.

Daher erhöht die jüngste Nach­richt über eine stille Geneh­mi­gung zusätz­li­cher US-Mili­tär­hilfe für die Ukraine vor den Gesprä­chen mit Russ­land nicht nur die Chancen auf eine Abschre­ckung vor einer neu­er­li­chen rus­si­schen Aggres­sion, sondern trägt auch zum Ver­trauen der US-Ver­bün­de­ten in der Region bei. Estland und Lett­land haben bereits zuge­stimmt, der Ukraine mit Waffen und Aus­rüs­tung zu helfen. Ähn­li­ches ist von anderen NATO-Mit­glie­dern zu erwar­ten, für den Fall dass Russ­land an ihren Grenzen Krisen provoziert.

Wie kann es weitergehen?

Die Ergeb­nisse der Gesprä­che mit Russ­land sind bisher nicht so aus­ge­fal­len, wie es sich Moskau vor­ge­stellt hat.

Die Regie­rung Biden hat Schwe­den und Finn­land aufgefordert, der NATO bei­zu­tre­ten, wenn sie sich ange­sichts der rus­si­schen For­de­run­gen unsi­cher fühlen, und einen raschen Bei­tritts­pro­zess ver­spro­chen. Das Weiße Haus hat ange­deu­tet, dass es auf jede Ent­schei­dung des Kremls vor­be­rei­tet ist – sei es Ver­hand­lun­gen oder eine Inva­sion der Ukraine oder andere feind­li­che Hand­lun­gen. In der Zwi­schen­zeit haben die US-Demo­kra­ten einen Gesetz­ent­wurf vor­ge­legt, der die größten rus­si­schen Staats­ban­ken, das Rück­grat der schul­den­ge­plag­ten rus­si­schen Bin­nen­wirt­schaft, zer­schla­gen könnte.

Auf der anderen Seite des Atlan­tiks bezeich­nete der Leiter der EU-Außen­po­li­tik, Josep Borrell, die Koor­di­nie­rung mit den USA als „aus­ge­zeich­net“: „Russ­land will uns spalten, und die USA werden dieses Spiel nicht mit­ma­chen“. Die Regie­rung in Washing­ton will Erd­gas­lie­fe­run­gen aus alter­na­ti­ven Quellen an EU-Länder erleich­tern, um die Aus­wir­kun­gen mög­li­cher rus­si­scher Ener­gie­er­pres­sung abzu­mil­dern. Und die USA haben ver­spro­chen, ihre Truppen und Aus­rüs­tung in Mittel- und Ost­eu­ropa zu ver­stär­ken, falls Russ­land die Ukraine angreift.

Unter­des­sen bemühen sich ukrai­ni­sche und deut­sche Spit­zen­di­plo­ma­ten, ihre rus­si­schen Kol­le­gen davon zu über­zeu­gen, die Frie­dens­ge­sprä­che im Nor­man­die-Format fort­zu­set­zen, um die Span­nun­gen zu ent­schär­fen und einen dau­er­haf­ten Waf­fen­still­stand im Donbass zu erreichen.

Während ihrer Besuche in Kyjiw und Moskau diese Woche hat die deut­sche Außen­mi­nis­te­rin Anna­lena Baer­bock wahr­schein­lich geprüft, warum Russ­land den ukrai­ni­schen Vor­schlag über „10 Schritte zur Umset­zung der Minsker Ver­ein­ba­run­gen“, der nach ame­ri­ka­nisch-rus­si­schen und ame­ri­ka­nisch-ukrai­ni­schen Kon­sul­ta­tio­nen im Dezem­ber ent­wi­ckelt wurde, abge­lehnt hat und ob das Nor­man­die-Format zu einer Dees­ka­la­tion bei­tra­gen kann.

Solche Bemü­hun­gen, die Tür für eine diplo­ma­ti­sche Lösung des Ost­ukraine-Kon­flikts offen zu halten, schei­nen jedoch nach den jüngs­ten klaren Signa­len aus Moskau aus­sichts­los. Aus Frust über die für den Kreml nega­ti­ven Gesprächs­er­geb­nisse reagierte Russ­land mit neuen Dro­hun­gen und Sub­ver­sion: Seine Hacker star­te­ten massive Cyber­an­griffe gegen die ukrai­ni­sche Regie­rung. Das rus­si­sche Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­rium kün­digte neue Mili­tär­übun­gen an, und Außen­mi­nis­ter Sergej Lawrow erklärte, die rus­si­schen Truppen würden sich nicht von den ukrai­ni­schen Grenzen zurückziehen.

Um dieses Spiel zu seinen Bedin­gun­gen fort­zu­set­zen, muss der Kreml ent­we­der seine Drohung wahr machen und in die Ukraine ein­mar­schie­ren oder einen Weg finden, den Druck ohne Inva­sion zu erhöhen oder so tun, als habe er seine Ziele erreicht.

Das erste Sze­na­rio wäre für alle Seiten katastrophal.

Um das zu ver­mei­den, müssen die wich­tigs­ten NATO-Mit­glie­der, dar­un­ter auch Deutsch­land, der Ukraine unver­züg­lich mili­tä­ri­sche Berater, nach­rich­ten­dienst­li­che Erkennt­nisse, Waffen und Aus­rüs­tung, ein­schließ­lich Luft­ab­wehr­sys­te­men und Hard­ware für die elek­tro­ni­sche Kriegs­füh­rung, zur Ver­fü­gung stellen. Es sei daran erin­nert, dass Russ­land – mit Aus­nahme Finn­lands im Jahr 1939 – noch nie ein gut ver­tei­dig­tes moder­nes Land ange­grif­fen hat. Die poli­ti­schen und ter­ri­to­ria­len Gewinne der Sowjet­union haben die Folgen für die UdSSR kaum auf­ge­wo­gen, vor allem die ver­hee­ren­den mili­tä­ri­schen Ver­luste und das geschä­digte inter­na­tio­nale Ansehen. Putin könnte sich an diese Lek­tio­nen erinnern.

Textende

Portrait von Petro Burkovskyi

Petro Bur­kovs­kyi ist Senior Fellow der Stif­tung Demo­kra­ti­sche Initia­tive in Kyjiw. 

 

 

 

 

 

 

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