Im Donbas vertraut man immer noch Wolodymyr Selenskyj, glaubt aber nicht mehr an den „schnellen Frieden“
Während der einjährigen Präsidentschaft von Wolodymyr Selenskyj fand im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbas eine wichtige Änderung der öffentlichen Meinung statt – eine wachsende Zahl von Bürgern (an-)erkennt die Rolle Russlands in diesem Konflikt und ist mit einem Frieden um jeden Preis nicht einverstanden. Von Petro Burkovskyi
Der Donbas ist kein einheitlicher Organismus, obwohl er im Westen und von vielen Ukrainern oft als solcher dargestellt wird. Man kann diese Region der Ukraine als ein Spiegelbild der ukrainischen post-Maidan-Gesellschaft bezeichnen. Das erlebte ich selbst, als ich mich an einer großen Meinungsumfrage in den Regionen Donezk und Luhansk beteiligte, die seit 2015 von der Stiftung für demokratische Initiativen jährlich durchgeführt wird.
Dieses Jahr wurde unsere Meinungsumfrage elf Monate nach den Präsidentschaftswahlen und sechs Monate nach der Amtseinführung der neuen Regierung und der neuen Gouverneure durchgeführt. Deshalb waren wir während der repräsentativen Befragung der Bürger (1000 Befragte) im Donbas nicht nur an Antworten auf traditionelle Fragen über Krieg und Frieden und am Wohl der Bürger*innen interessiert, sondern auch an der Bewertung der Arbeit der neuen Regierung.
Jeder hat seinen eigenen Selenskyj
Laut der Februar-Umfrage verspürte die Mehrheit der Einwohner des Donbas im Allgemeinen keine wesentliche Verbesserung des Lebens nach den Wahlen. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen den Regionen:
Während 37 Prozent der Bürger der Region Donezk glauben, dass sich die Situation in den vergangenen neun Monaten zum Besseren verändert hat, stimmen in der Region Luhansk nur 12 Prozent dieser Aussage zu.
Dies lässt sich dadurch erklären, dass es im ukrainisch kontrollierten Teil der Region Donezk mehr Städte mit erfolgreichen Unternehmen gibt und auch das Durchschnittsgehalt dort höher ist als in der Region Luhansk.
Es ist auch anzumerken, dass im Vergleich zur Umfrage im November 2018 in der Region Donezk die Zahl derer ebenfalls gestiegen ist (von 43 Prozent Ende 2018 auf 54 Prozent Anfang 2020), die den Behörden zutrauen mit den bestehenden Problemen fertig zu werden. In Luhansk hingegen sah die Mehrheit keine Verbesserung der Arbeit der lokalen Verwaltungen und Rathäuser (ein Rückgang von 31 Prozent auf 24 Prozent).
Die unterschiedliche Einstellung zur Problemlösung und zu den Kapazitäten der Behörden korreliert auch mit dem Vertrauensniveau gegenüber Präsident Selenskyj. Während ihm in der Region Donezk mehr als 36 Prozent der Bürger vertrauen, ist das Vertrauen in ihn in der Region Luhansk neunmal geringer.
Was ist der Grund für diese unterschiedliche Haltung?
Erstens hat man bei der Umfrage gesehen, dass die Menschen in der Region Luhansk die Zukunft pessimistischer einschätzen, insbesondere was die mögliche friedliche und rasche Beendigung des Krieges betrifft. Und dies war eines von Selenskyjs Hauptversprechen bei den Präsidentschaftswahlen. Die Umfrage bestätigte unsere Beobachtungen: In der Region Donezk glauben die meisten Bürger, dass Selenskyj in der Lage sein wird, einige Bezirke der Regionen Donezk und Luhansk innerhalb der nächsten 5 Jahre für die Ukraine zurückzubekommen. In der Region Luhansk gibt es jedoch nur halb so wenige Menschen, die an eine solche Zukunft glauben.
Zweitens verlassen sich in der Region Luhansk mehr Bürger auf eine starke staatliche Fürsorge und Unterstützung. (Übrigens wurde im Luhansker Novopskov zum ersten Mal eine kommunale Selbstverwaltung geschaffen). Dagegen gibt es in der Region Donezk mehr Menschen, die den Staat eher als Partner denn als Gönner betrachten. Insbesondere hat die Umfrage gezeigt, dass mehr als die Hälfte der Befragten in der Region Luhansk auf zusätzliche Geldleistungen und Subventionen für öffentliche Versorgungseinrichtungen hofft. In der Region Donezk sind es nur etwa vierzig Prozent. Und umgekehrt hätte sich ein Viertel der Einwohner der Region Donezk Hilfe vom Staat gewünscht, um ein eigenes Unternehmen gründen zu können oder ihre beruflichen Fähigkeiten zu verbessern. Aber diese Zahl ist in der Region Luhansk dreimal niedriger. Da paternalistische Erwartungen weitgehend unerfüllt bleiben, hätten sich die Menschen, die für Selenskyj gestimmt haben, von ihm abwenden können.
Drittens hörten wir während der Diskussionen in der in der Region Luhansk immer wieder, dass es mehrere Versuche von Kandidaten gab, die Wähler in den Wahlkreisen zu bestechen. Insbesondere wurde öfters erwähnt, dass solche Methoden vom Schachow-Team benutzt wurden, eine Gruppe von Kandidaten unter der Führung des lokalen autoritären Luhansker Abgeordneten Sergej Schachow (bekannt als einer der ersten, der während eines Luxusurlaubs in Cursavel mit dem Coronavirus infiziert wurde – Anmerkung des Autors). Es zeigt sich, dass die Kyjiwer Staatsgewalt weit weg ist, während die wirkliche „Hilfe“ von sehr unterschiedlichen Menschen geleistet wird, die auch dauerhaft die Regierung kritisieren.
All dies zeigt nur, dass Selenskyj im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie und der Rezession im Donbas eine neue Kraftprobe bevorsteht. Und die Situation kann dort explodieren, wo die Erwartungen der Öffentlichkeit noch zunehmen. Laut der Umfrage ist die Hälfte der Bewohner der Region Donezk bereit, sich an Protesten zu beteiligen, falls die Gründe wichtig genug sind, die Forderungen der Protestierenden gerechtfertigt und ihre Zahl ausreichend ist. In der Luhansk Region beträgt das Protestpotential weniger als ein Drittel.
Frieden hat höchste Priorität, aber unter Bedienung
Wolodymyr Selenskyj wurde von Anfang an als Befürworter konstruktiver Verhandlungen mit Russland gesehen, im Unterschied zu seinem Vorgänger. Seine Gegner warfen ihm eine zu weiche, versöhnliche Rhetorik vor und verdächtigten ihn sogar, inakzeptable Zugeständnisse zum Wohle des Friedens zu machen.
Dementsprechend hätte man erwartet, dass die Position des Präsidenten sich bei seinen Anhängern widerspiegelt. Doch die Realität erwies sich als komplexer und vielschichtiger.
Die bedeutendste Entdeckung der neuen Forschung war die Tatsache, dass zum ersten Mal während unserer Beobachtungen die öffentliche Meinung der Einwohner des Donbas in einer Reihe von Positionen nicht mehr von der öffentlichen Stimmung im ganzen Land abweicht.
Noch im November 2018 glaubte eine Mehrheit der Bürger der Regionen Donezk und Luhansk, dass man einen “beliebigen Kompromiss für Frieden eingehen sollte“ (45 Prozent bzw. 47 Prozent). Nun teilt die Hälfte der Befragten in beiden Regionen eine andere Meinung: „Um Frieden zu erreichen, kann man Kompromisse eingehen, aber nicht jeden“. Es ist bezeichnend, dass dies auch die Meinung der Mehrheit der Bürger im ganzen Land ist.
Darüber hinaus bejahte die Mehrheit der Befragten in beiden Regionen die Frage, ob sie Russland für eine Konfliktpartei halten (76 Prozent in der Region Donezk und 46 Prozent in der Region Luhansk). Ein etwas anderes Bild ergibt sich, was die Wahrnehmung der Art der russischen Intervention betrifft. Zwei Drittel der Befragten in der Region Donezk sind davon überzeugt, dass es einen Krieg zwischen der Ukraine und Russland gibt. Gleichzeitig stimmt etwas mehr als ein Drittel in der Region Luhansk dieser Interpretation zu, während 43 Prozent diese Meinung nicht teilen.
Es gab auch interessante Veränderungen in der Haltung der Einwohner des Donbas zu einigen Schlüsselpunkten des Minsker Abkommens.
Einerseits unterstützen die Hälfte der Einwohner von Donezk und 70 Prozent der Einwohner der Region Luhansk die Initiative zu direkten Verhandlungen zwischen DNR/LNR. Außerdem steht die Hälfte der Befragten in Donbas einen „Sonderstatus“ für einige Bezirke der Regionen Donezk und Luhansk positiv gegenüber.
Wenn es andererseits aber um die Zugeständnisse der Ukraine im Rahmen des Minsker Abkommen geht, so ist die Haltung der Bürger recht hart. Insbesondere ist die Mehrheit der Einwohner des Donbas gegen eine vollständige Amnestie für alle militanten Gruppen. Darüber hinaus sprachen sich 67 Prozent in der Region Donezk und 35 Prozent in der Region Luhansk gegen Kommunalwahlen unter den Bedingungen dieser militanten Gruppen aus. Ein ebenso negatives Bild zeigt sich bei der Einstellung der Bürger gegenüber der Idee, die lokale Polizei, Gerichte und Staatsanwälte in den Regionen Donezk und Luhansk ausschließlich aus Vertretern der „DNR“ und „LNR“ zu bilden.
Auf die Frage über mögliche Wege zum Erreichen eines nachhaltigen Friedens entschieden sich zudem nur 19 Prozent der Einwohner von Donezk und 38 Prozent der Region Luhansk für die Variante direkte Verhandlungen mit „DNR“ und „LNR“ und erkannten diese als legitime Autoritäten in bestimmten Bezirken der Regionen Donezk und Luhansk an. Gleichzeitig wünschen sich 59 Prozent in den besetzten Gebieten der Region Donezk und 40Prozent der Region Luhansk, dass „DNR“ und „LNR“ sich wieder den Bezirken Donezk und Luhansk anschließen, so wie es früher der Fall war.
Was folgt aus all dem?
Wenn wir in Betracht ziehen, dass es in den besetzten Gebieten der Region Donezk viel mehr Bürger gibt als in der Region Luhansk, so stellt man fest, dass die Mehrheit der Bürger im Donbas aus verschiedenen Gründen zu der Schlussfolgerung kamen, dass Russland für die Kampfhandlungen und die Verwaltung der sogenannten „selbsternannten Republiken“ die Verantwortung trägt.
Viele Menschen haben die Illusion aufgegeben, dass man den Konflikt schnell und durch einseitige Zugeständnisse beenden könne.
Gleichzeitig wollen die Menschen in Donbas natürlich einen dauerhaften Waffenstillstand und Frieden, sowie die Möglichkeit, die verwandtschaftlichen und die wirtschaftlichen Beziehungen zu den besetzten Gebieten wiederherzustellen.
Es stellt sich heraus, dass die Staatsgewalt in Kyjiw und die lokale Bevölkerung im Donbas bisher in parallelen Welten leben. Während die Verhandlungsführer von Selenskyj die Einrichtung gemeinsamer „beratender Gremien“ mit Vertretern der DNR/LNR zum Zwecke der Reintegration nicht ausschließen, sehen die einfachen Bürger in den Regionen Donezk und Luhansk nur dann einen Sinn in solchen Verhandlungen, wenn sie eine vollständige Einstellung der Kampfhandlungen und ein Ende der russischen Intervention garantieren.
Falls es bei Selenskyj einen „Plan B“ gibt, wäre es daher Zeit, ihn zu zeigen, um sich den Respekt der Menschen im Donbas sowie ihr Vertrauen zu bewahren. Hier muss man sich an die Worte des derzeitigen politischen Emigranten und ehemaligen Gouverneurs der Region Donezk Wiktor Janukowytsch erinnern, der einmal sagte: „Der Donbas macht keine Leerfahrten”, das heißt, man wird keine weiteren fünf Jahre leerer Versprechungen akzeptieren.
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