Sowjetische Mosaike – Kulturgeschichte aus bunten Steinen
Der Fotograf Yevgen Nikiforov hat etwa 5000 Mosaike in der Ukraine fotografiert. In einem neuen Bildband stellt er sie vor. Zumindest fotografisch rettet er sie damit vor dem Verschwinden.
Das Hotel sollte ein Prestigeprojekt werden. Groß, prächtig, erbaulich. Also sollte ein Mosaik, so beschlossen die Sowjets, die Fassade schmücken – als ideologischer Hingucker, wie es damals gerade Mode war. Der Künstler Oleksandr Yaremov, dem diese Aufgabe zufiel, wollte wohl auf Nummer sicher gehen, nachdem zuvor schon eine Kyjiwer Künstlergruppe mit ihren Plänen abgeblitzt war. Als Motiv schlug Yaremov die Danko-Legende vor, eine Geschichte, niedergeschrieben von Maxim Gorki, dem Schriftsteller, nach dem schon eine Stadt in Sowjetrussland benannt worden war. Die Legende um Danko geht so: Um seiner Sippe den Weg durch die Dunkelheit der Wälder zu weisen, reißt sich der Junge sein brennendes, leuchtendes Herz aus der Brust.
Das Opfer muss Prometheus sein
Eine Figur, die sich opfert, um der Gesellschaft den Weg in die Zukunft zu weisen: Kein Wunder, dass die Danko-Legende zu einem beliebten Motiv der sowjetischen Propaganda wurde. Doch als Yaremov mit seinen Entwürfen beim regionalen Kunstrat vorstellig wurde, bekam er eine Absage. Erst, nachdem er seinem Helden einen Bart und eine zottelige Mähne verpasst hatte, und aus dem volkstümlichen Danko der griechische Prometheus wurde, gab es grünes Licht von den Behörden. 1983 erstrahlte schließlich ein kantiger Prometheus, der „Feuerbringer“, an der Fassade des achtstöckigen Gebäudes in der westukrainischen Stadt Netischyn, im Oblast Chmelnyzkyj. Bis heute schmückt das Mosaik in strahlenden Gelb- und Rottönen die Fassade des Horyn-Hotels, ein Mann, der sich nach einem Atom streckt.
Es ist nur eine von vielen faszinierenden und unerwarteten Entstehungsgeschichten, die der Fotograf Yevgen Nikiforov in seinem aktuellen Buch „Art for Architecture Ukraine. Soviet Modernist Mosaics from 1960 to 1990“ festgehalten hat.
120 sowjetische Mosaike aus der gesamten Ukraine werden in diesem Buch detailreich, in mehr als 300 Bildern, vorgestellt.
Sie schmücken marode Amtsgebäude, Fabrikruinen, ehemalige Kulturpaläste, alte Kinos, bis heute. Nikiforov greift dabei auf seine Sammlung von 5000 Mosaiken zurück, die er in den vergangenen Jahren quer durch das Land fotografiert und bereits 2017 für seinen Bildband „Decommunized“ dokumentiert hat. In einem einführenden Essay ordnet die Kunsthistorikerin Polina Baitsym die Entstehung der Mosaike ein.
„Schöner unsere Städte und Dörfer!“
Nikiforov konzentriert sich dabei auf die Jahre zwischen 1960 und 1990, der „goldenen Zeit“ der ukrainischen dekorativen Kunst. Der große Bauboom, der auf die verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges folgte, rückte das Mosaik als dekoratives Element auf öffentlichen Gebäuden in den Mittelpunkt und wurde später zu einem zentralen Element der „Ästhetisierung“ des urbanen Lebens in der Sowjetunion. Das zog auch Künstler aus nahen Disziplinen an. Der künstlerischen Freiheit kam zugute, dass unter der Führung Nikita Chruschtschows der dogmatische Anspruch des Sozialistischen Realismus („national in der Form und sozialistisch im Inhalt“) etwas gelockert wurde. Das sieht man diesen Mosaiken an, die mal fantastisch, mal surrealistisch, mal abstrakt daherkommen.
Der Zahn der Zeit
Doch inzwischen sind viele Mosaike bedroht, von Verfall wie von Zerstörung. Seit der Maidan-Revolution ist eine Diskussion um die sowjetischen Kunstwerke entbrannt. Nach dem 2015 in der ukrainischen Rada beschlossenen „Gesetz über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regime in der Ukraine und das Verbot der Propaganda mit deren Symbolen“ müssen Denkmäler, die unter diese Kategorie fallen, entfernt werden.
Da Mosaike nicht als Kunstwerke im engeren Sinn gelten, fallen auch sie unter das so genannte „Dekommunisierungsgesetz“.
Nikiforov will mit diesem Buch eine Lanze für die sowjetischen Mosaike brechen. Er lenkt den Blick auf das Unkonventionelle, das Originelle, das Subversive. Werke, denen man ansieht, wie um Form und Inhalt gerungen wurde, zwischen Freiheit und Konformität, dem ewigen Spannungsfeld der sowjetischen Mosaike, der Parteipropaganda auf der einen, und dem „künstlerischen Durst nach Experimenten“ auf der anderen Seite. Auch die Biografien ihrer Schöpfer waren längst nicht so stramm systemtreu, wie man heute vielleicht meinen möchte. Manche der Künstler verstanden sich als „schistidisjatnyki“, die sich auch in der Bürgerrechtsbewegung der Sechziger Jahre engagierten und die ukrainische Kultur popularisieren wollten. „Wir hoffen, dass dieses Buch den allzu simplen Blick auf das sowjetische Kulturerbe in der Ukraine erweitern kann“, schreibt Baitsym.
Faszinierende Vielfalt
Dabei hat Nikiforov richtige Schätze gehoben, Mosaike von Bushaltestellen bis Bahnhofshallen fotografiert. Von idealisierten Darstellungen des sowjetischen Alltags auf Wohnblöcken bis hin zu abstrakten Meisterwerken in Schwimmhallen, immer auch mit einer Prise Folklore, von den bunten Wyschywanka-Mustern über das Zupfinstrument Bandura bis hin zur traditionellen Tracht der Huzulen, einem Bergvolk in den Karpaten. Bei manchen Mosaiken wundert man sich regelrecht, wie sie die Sowjet-Zensur umgehen konnten, wie etwa bei der Darstellung einer Frau mit Harfe in einem gelb-blauen Sonnenbad – quasi der Bild gewordene Inbegriff des verbotenen „ukrainischen bourgeoisen Nationalismus“, auf der Fassade des Kino- und Konzertsaals Ukraina in Charkiw. Oder die Fassade eines Sportstadiums im westukrainischen Chotyn, das mit seinen avantgardistischen Piktogrammen mit allen Regeln sowjetischer Kunst bricht.
Ein künstlerisches, zeithistorisches wie auch tragisches Highlight sind die Kunstwerke des Künstlers Ivan Lytovchenko in Prypjat, einer Wohnsiedlung, die in den Siebziger und Achtziger Jahren als „utopisches Projekt“ nahe des Atomkraftwerks Tschernobyl aus dem Boden gestampft wurde und später, nach dem Reaktorunfall, zum Sinnbild der Katastrophe wurde. Lytovchenkos großflächige, epischen Mosaike auf den Wohnblöcken sollten dem Alltag in diesem „Miniatur-Modell der Sowjetunion“ das nötige Pathos verleihen. Heute lösen die Fotografien dieser Kunstwerke Beklemmung aus. Zehn Jahre lang hatte sich der Künstler mit der Gestaltung der Retortenstadt beschäftigt. Die Katastrophe von Tschernobyl zerstörte nicht nur diesen Raum, sondern auch sein Lebenswerk.
So erzählen die Mosaike, verfallen, geächtet und bedroht, immer auch etwas über die Geschichte des Landes. Das Buch erscheint als Architekturführer in der Reihe „Art for Architecture“, es sind bereits Bände zur DDR und zu Georgien erschienen, und 2021 soll ein weiterer zu Belarus folgen. Nikiforov empfielt sogar Rundfahrten durch fünf verschiedene Regionen des Landes, Reiserouten „zwischen 1500 und 2400 Kilometern“, wenngleich man Touristenreisen in die pro-russischen Separatistengebiete im Osten des Landes oder auf die annektierte Krim wohl lieber mit dem Zeigefinger auf der Landkarte unternimmt. Ein „Must have“ für Kunst- und Ukraineinteressierte ist es allemal.
„Ukraine. Art for Architecture – Soviet Modernist Mosaics“ ist im Juni 2020 im Verlag DOM publishers, Berlin, erschienen.
Anmerkung der Redaktion: Der Fotograf Yevgen Nikoforov und sein Bruder wurden Mitte März 2021 von zwei Männern nach Filmarbeiten mit einer Drohne in der Nähe von Odesa körperlich bedroht. Sie konnten fliehen, aber einer der Angreifer wurde von Nikiforovs Auto mitgeschleift und starb. Yevgen Nikiforov wurde zu einem zwei monatlichen Hausarrest verurteilt und muss mit einer Gefängnisstrafe rechnen.
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