Talkin’ About a Revolution: Sachbücher über die Ukraine
Worum ging es auf dem Maidan? War die Krim wirklich schon immer russisch? Sind die Ukrainer nun eine eigene Nation, oder nicht? Und wieso herrscht im Osten des Landes noch immer Krieg? Die Journalistin Simone Brunner empfiehlt fünf Sachbücher über die Ukraine, um die Zusammenhänge besser zu verstehen.
Jens Mühling: „Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine“
Ein deutscher Reporter auf der Suche nach der „ukrainischen Seele“
Die Ukraine war für den deutschen Journalisten Jens Mühling lange ein unbekanntes Land. Obwohl – oder gerade weil – er zwei Jahre als Reporter in Moskau gearbeitet hat, von wo er mit der russischen Brille auf das Land blickte. Doch im Sommer 2015 packt er seine Koffer, um diese „terra incognita“ zu bereisen. Er durchstreift das Land von Westen nach Osten, auf den Spuren von Kirchenwundern, Legenden, Propaganda und Mythen. Er reitet durch die Steppe, picknickt im ehemaligen Protzanwesen des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch und springt in Sewastopol ins Meer. Er trifft trinkfeste Bürgermeister am vermeintlichen „Mittelpunkt Europas“, couragierte Archäologinnen auf der annektieren Krim, unerbittliche Kriegsherren im Donbas und rührige Nostalgiker einer vermeintlichen ukrainisch-russischen „Völkerfreundschaft“, die es nicht mehr gibt.
Man bekommt einen wunderbaren Eindruck von der Vielfalt der Ukraine, die in deutschen Medien meistens weniger als Faszinosum, sondern vorwiegend als Pulverfass beschrieben wird. Doch die oberflächlichen und fatalistischen Berichte über die „Zerrissenheit“ des Landes, die suggerieren, dass die Kontraste zwischen einem pro-europäischen Westen und einem pro-russischen Osten früher oder später unweigerlich zu einem Krieg geführt hätten, werden der Ukraine nicht gerecht. Vielmehr schürft Mühling bei seiner Reise durch Zeit und Raum tiefer in der „Schwarzerde“, dem fruchtbaren wie blutigen Boden des Steppengürtels, und der „ukrainischen Seele.“
Dabei ist der Text nie sperrig, sondern bleibt immer farbig und flüssig zu lesen , mit vielen Zwischentönen und einer klaren persönlichen Perspektive
Erschienen bei Rowohlt, ab 10,99€.
Marci Shore: „The Ukrainian Night. An Intimate History of Revolution“
Die preisgekrönte Osteuropahistorikerin über die Hintergründe des Maidan
Wie entsteht eine Revolution? Was bringt die Bürger einer europäischen Metropole dazu, sich unter Lebensgefahr gegen ihren Staat zu stellen? Die Osteuropahistorikerin Marci Shore versucht sich an einer Phänomenologie der Maidan-Revolution auf dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz, jener Proteste, die sich im Herbst 2013 am geplatzten EU-Assoziierungsabkommen entzündet und die ukrainische Hauptstadt in den ersten Wochen des Jahres 2014 in eine rußschwarze Hölle aus Barrikaden, Rauch und Toten verwandelt hatten.
Es ist keine nüchterne Chronik der Ereignisse, sondern „eine „Erkundung der Revolution der gelebten Erfahrung von Individuen (...), wo das Politische zum Existenziellen wurde“, schreibt Shore. Dem westlichen Mediengedöns über Geopolitik, NATO und westliche oder russische Einflusszonen stellt sie ganz bewusst die subjektive Innensicht der handelnden Akteure entgegen, jener Ukrainer, die sich plötzlich im Epizentrum eines Aufstandes wiederfanden, der mit fortschreitender Dauer immer weiter eskalierte. Es ist kein „Putsch der Faschisten“, wie es die russische Propaganda seinem Auditorium immer wieder einzuhämmern versuchte, sondern eine von breiten Bevölkerungskreisen, insbesondere der ukrainischen Mittelschicht, getragene Protestbewegung, ein Heer aus Lehrern, Psychotherapeuten, Feministen, Priestern, Rabbis und Philosophen.
Shore liefert ein packendes wie authentisches Protokoll der Proteste, nahe an den Protagonisten und ihren Ängsten, Motiven und Hoffnungen, und zeichnet zugleich den intellektuellen wie emotionalen Überbau der Maidan-Revolution nach.
Erschienen bei Yale University Press, ab 20$.
Andreas Kappeler: „Ungleiche Brüder: Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“
Eine kompakte Einführung in die ukrainisch-russische Geschichte
Die Geschichte der Ukraine lässt sich nicht aus der Geschichte Russlands erklären. Aber eben auch nicht völlig ohne sie. Diesen Ansatz der „verschränkten Geschichte“ (histoire croisée) hat der Schweizer Historiker Andreas Kappeler für dieses Buch gewählt. Das ist so überzeugend, dass man sich fragt, warum vorher noch niemand auf die Idee gekommen ist, die ukrainisch-russische Geschichte so zu beschreiben.
Durch die Jahrhunderte wird die Formel der „ungleichen Brüder“ durchdekliniert, beginnend mit dem Erbstreit über das mittelalterliche Fürstentum der „Kiewer Rus“, über die Dominanz des „großen Bruders“ (Russland) bis hin zum Bruderkrieg ab 2014.
Besonders aufschlussreich: das Kapitel über die Zeit zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert, als die Geschwister getrennte Wege gingen – die Ukraine als Teil Polen-Litauens, das sich mit seiner ständischen Ordnung immer weiter europäisierte und sich somit fundamental von der Moskauer Autokratie unterschied, die in Russland tiefe Wurzeln schlug.
Auf kompakten 267 Seiten räumt Kappeler mit Verschwörungstheorien, Halbbildung und Mythen auf (Helmut Schmidt: „Die Ukraine ist kein Nationalstaat.“). Er beschreibt indes, warum Moskau beim Blick in die Geschichtsbücher keinen Grund zu kulturellem Hochmut hat: Immerhin galten das Mohyla Collegium in Kyjiw sowie ukrainische Intellektuelle allgemein aufgrund ihrer europäischen Bildung viele Jahrhunderte lang als wichtiger „Kanal der Verwestlichung“ für Russland, das lange in den „erstarrten Traditionen der Orthodoxie“ verharrte, so Kappeler.
Eine wohltuend unaufgeregte und präzise Einführung in die ukrainisch-russische Geschichte, auf dem Boden der historischen Fakten.
Erschienen bei C.H. Beck, 16,95€.
Florian Rainer, Jutta Sommerbauer: „Grauzone. Eine Reise zwischen den Fronten im Donbass“
Ein Reportageband über den drögen Kriegsalltag im Donbass
Sechs Jahre Krieg und kein Ende in Sicht: Über 450 Kilometer verläuft die Frontlinie zwischen den ukrainischen Regierungstruppen und den aus Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine. Die österreichische Journalistin Jutta Sommerbauer („Die Presse“) und der Fotograf Florian Rainer haben die Menschen porträtiert, die in der so genannten „grauen Zone“ leben, die zwischen den gegnerischen Stellungen verläuft. In Reportagen, Anekdoten und Fotografien vermitteln sie das Bild eines Krieges, der längst aus den Schlagzeilen, aber nicht aus der Lebensrealität von Millionen Ukrainern verschwunden ist.
So lebt das Buch von den Stimmen der Protagonisten, ohne Partei zu ergreifen. Da sind die ehemaligen Gangster Albert und Edik, die sich im Krieg als seelsorgende Militärkaplane neu erfunden haben. Oder Julia, die versucht, ein normales Teenagerleben in der Separatistenhauptstadt Donezk zu führen. Oder Santa, der Historiker und Kinderbuchautor, der an der Front zum Soldaten und zur skurrilen Kultfigur wurde. „Sie sind gefangen in einem aussichtslosen Stellungskrieg, in dem es keine Schlachten mehr gibt, sondern nur zermürbende Schusswechsel“, schreibt Sommerbauer. „Das Gleichgewicht der Kräfte ist zum Verzweifeln.“
Es ist ein eindrucksvolle, genau beobachtete Dokumentation der drögen Normalität eines vergessenen Krieges, der bald in sein siebentes Jahr geht, fernab jeglicher Heldengeschichten.
Erschienen bei Bahoe Books, 24€.
Philippe Sands: „Rückkehr nach Lemberg. Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“
Wie zwei Juristen aus Lwiw (Lemberg) die internationalen Menschenrechte maßgeblich geprägt haben
„Nicht die Gestorbenen sind es, die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die aufgrund von Geheimnissen anderer in uns zurückgeblieben sind“, schrieb der Psychoanalytiker Nicolas Abraham über die Beziehung zwischen Enkeln und Großeltern. Eine Reise in die Heimat seiner Großeltern, in das westukrainische Lemberg (Lwiw), steht am Beginn dieser Spurensuche des britischen Völkerrechtlers Philippe Sands. Wie durch Zufall stößt er bei einem Vortrag in Lwiw auf die Biografien zweier Juristen, die mit ihren Begriffen die Nürnberger Prozesse und in der Folge die internationale Strafjustiz maßgeblich prägen sollten: Hersch Lauterpacht mit seinem Konzept „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und Raphael Lemkin mit seiner Idee vom „Genozid“.
Sieben Jahre erforscht Sands die Geschichte der beiden Männer sowie das ihm weitgehend unbekannte Schicksal seiner eigenen Familie – mit vielen verblüffenden Kreuzungspunkten, die ihn immer wieder in die Westukraine zurückführen. „Die Straßen von Lwiw sind ein Mikrokosmos des turbulenten 20. Jahrhunderts in Europa, der Mittelpunkt blutiger Konflikte, die Kulturen auseinandergerissen haben“, schreibt Sands. Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet zwei Männer aus dem ehemaligen multikulturellen Biotop Lemberg, der „Stadt der verwischten Grenzen“ (Joseph Roth), zu zentralen Ideengebern der modernen internationalen Strafgesetzgebung – sowie der Menschenrechte insgesamt – wurden.
Für dieses Buch (Originaltitel: „East West Street“) wurde Sands mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Baillie Gifford Prize for Non-Fiction.
Erschienen im Fischer-Verlag, 14€.
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