„Schwere See“ zwischen Traum und Terror
Kaum eine Landschaft schlägt die Menschen so in ihren Bann, wie das Meer. „Wellen wecken Erinnerungen, Sehnsüchte, beflügeln die Fantasie“, schreibt die französische Autorin Florence Hervé über das Meer. Simone Brunner hat für Ukraine verstehen vier Sachbücher über das Schwarze Meer rezensiert.
Meere sind Sehnsuchtsorte, heute wie früher. Ein Umstand, der für die Anrainer des Schwarzen Meeres allerdings nicht immer ein Vorteil war. Kriege, Gewalt und Vertreibungen durchzieht die Geschichte dieses Binnenmeers zwischen Europa und Asien, bis heute.
Für die Reise im Kopf wollen wir diesmal vier Sachbücher empfehlen, die sich auf ganz unterschiedliche Weise dem Schwarzen Meer nähern: Literarisch-dokumentarisch, wie der deutsche Reporter Jens Mühling, kulinarisch, wie die britische Reisejournalistin Caroline Eden. Der US-Politologe Charles King beschreibt die turbulente Geschichte der legendären Hafenstadt Odessa, während der schottische Journalist Neal Ascherson das Schwarze Meer als einen Ort europäischer Hybris begreift. Die Bücher eint, dass sie alle Zeugnis abgeben über das schwere Erbe der Geschichte, das gerade an den Rändern der Imperien heftig tobte.
Wieso ein Schwerpunkt zum Schwarzen Meer bei Ukraine verstehen? Immerhin ist die Ukraine neben Rumänien, Bulgarien, der Türkei, Georgien und Russland nur einer von sechs Anrainerstaaten. Doch die Ukraine hat mit 1756 Kilometern (inklusive der Halbinsel Krim) den längsten Küstenabschnitt am Schwarzen Meer.
Jens Mühling – Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer
Die Biografie eines von Vertreibungen, Säuberungen und Flucht geprägten Raumes
„Ich habe das Schwarze Meer von allen Seiten gesehen, und von keiner Seite war es schwarz“, schreibt Jens Mühling. Silbrig an der Kaukasusküste, blau in Georgien, grün in der Türkei, trüb und milchig auf der Krim.
Der deutsche Tagesspiegel-Reporter Jens Mühling, der bereits ein Buch über die Ukraine geschrieben hat („Schwarze Erde“), ist um das Schwarze Meer gereist. In Taman beginnt er seine Reise, am russischen Ostufer der Straße von Kertsch, wo er mit den Fischern trinkt, und endet, ein Jahr und vier Jahreszeiten später, am Westufer der Meerenge auf der ukrainischen Halbinsel Krim. Die umstrittene Brücke über die Meerenge, die das russische Festland mit der 2014 annektierten Halbinsel verbindet, wird so zur Klammer dieses Buches, ohne, dass der Autor sie jemals betreten hätte. Sinnbild für die ewige Wiederkehr der Konflikte, um die sich auch die Geschichten und Deutungen der Protagonisten immer wieder drehen, Symbol für eine „tief verinnerlichte Schwarzmeertradition, von seinen Nachbarn stets das Schlimmste zu erwarten.“
Dazwischen liegen die Lebensgeschichten, die Mühling auf seiner Reise sammelt. Da ist der rührige Kleinstadtoligarch der russischen Provinz, der patriotische Botaniker in Sotschi, die zugezogenen Glücksritter des bulgarischen Sonnenstrands in Warna und die einsame Uni-Dozentin von Simferopol. Ein Strom an Geschichten und bunter Erzählstoff aus allen Zeiten, von der antiken Argonautensage bis heute, dokumentarisch und poetisch, sachlich und persönlich.
Mühlings Buch ist mehr als ein Reisetagebuch, sondern die Biografie eines von Vertreibungen, Säuberungen und Flucht geprägten Kulturraumes, in dem Imperien und Interessen immer wieder aneinander prallen.
Geschichten, die wieder kehren in den Erzählungen, auf die Mühling auf seiner langen Reise trifft, den Schicksalen von Entwurzelten, Vertriebenen und Rückkehrern. Eine Vermessung des Schwarzen Meeres, in Dutzenden Geschichten.
Erschienen 2020 bei rowohlt, ab 19,99 Euro.
Charles King – Genius and Death in a City of Dreams
Ein opulentes Porträt über die Stadt, die sich jeder eindeutigen Zuordnung entzieht
Als Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Stadt am Nordufer des Schwarzen Meeres gegründet wurde, sollte sie nicht nur mit ihrer Eleganz hervorstechen. Alle anderen Orte, die Katharina die Große in das Russische Zarenreich einverleibt hatte, trugen männliche Namen. Für das ehemals tatarische Khadjibej wünschte sich die wohl mächtigste Frau der russischen Geschichte aber einen weibliche Bezeichnung. Odessa.
Es ist eine Legende, die sich heute nicht mehr überprüfen lässt, wie Charles King in seinem Buch „Odessa. Genius and Death in a City of Dreams“ schreibt. Aber sie passt nur zu gut zu einer Stadt, um die sich so viele Legenden und Mythen ranken. Gegründet von einem spanischen Militäroffizier (José De Ribas), aufgebaut von einem französischen Herzog (Armand du Plessis, duc de Richelieu), besungen vom russischen Nationaldichter Alexander Puschkin, ist Odessa heute mit einer Million Einwohner die drittgrößte Stadt der Ukraine. Eine Stadt, die im 19. Jahrhundert zu einem Magneten für Juden wurde, die nicht nach Ethnie und Religion, sondern nach Wohlstand und Klasse strukturiert war und wo es – anders als in anderen europäischen Städten – kein jüdisches Ghetto gab. Später erlebte Odessa die schlimmsten Pogrome des 20. Jahrhunderts.
Ein opulentes Stadtporträt über eine Stadt, die vielschichtig und widersprüchlich, mondän und kleingeistig, tolerant und selbstzerstörerisch, kosmopolitisch, aber auch nationalistisch ist.
Mit besonderer Faszination lesen sich heute die Schilderungen, wie sich die Stadt immer wieder gegen die Heimsuchungen von Krankheiten über den Seeweg zu wappnen versuchte: „Drohende Epidemien wurden ein weiteres Charakteristikum der Identität Odessas“, schreibt King. Durch die Pest durchlief Odessa die erste Episode eines Kampfes, der bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dauern sollte, „ein Konflikt zwischen dem Selbstbild von Offenheit und Pracht einerseits sowie Engstirnigkeit und Terror andererseits.“
Erschienen 2012 bei Norton & Company, ab 15 Euro.
Caroline Eden: „Schwarzes Meer. Ein Reise- und Kochbuch“
Ein Reisebuch mit kulinarischem Tiefgang: Das Schwarze Meer zum Nachkochen
Wie lässt sich das Schwarze Meer „erschmecken“? Diese Frage hat sich die britische Reisejournalistin Caroline Eden gestellt. Die Autorin, mit einem offensichtlichen Faible für die kulinarischen Traditionen des ehemals sowjetischen Ostens – 2017 erschien auf Deutsch ihr Buch „Samarkand. Kulinarische Erlebnisse entlang der Seidenstraße“, für diesen Herbst ist ein Reisekochbuch über Zentralasien („Red Sands. Reportage and recipes through Central Asia“) geplant – bewegt sie sich im Dreieck Odessa, Istanbul und Trabzon, um „eine andere Art von Buch zu verfassen, eine Form multisensorischer Reiseliteratur, die man lesen, betrachten und schmecken kann.“
Im ukrainischen Küstenabschnitt ist es vor allem Odessa, das Eden erkundet. Odessa ist dabei ein „Babylon am Schwarzen Meer“, „elegant-heruntergkommen“, aber „freigeistig“ und „exzentrisch“, mit seinen italienischen, russischen und ukrainischen Einflüssen, die sich in den Speisen zum Nachkochen wiederfinden, vom geflochtenen Brotzopf Challah über den herben Potemkin-Cocktail bis zur Pasta con Polpette, das den italienischen Einwanderern ein kulinarisches Denkmal setzt.
Doch es ist aber vor allem die jüdische Geschichte der Stadt, die sich auch über die Kulinarik erschließt: vom süßlichen Auflauf aus Wurzelgemüse (Zimmes) bis zum würzigen Heringaufstrich (Vorschmack).
Es sind kleine, bekömmliche Happen aus Texten, Fotos und Rezepten, mit denen Eden sich den Plätzen, der Geschichte und Kochkultur des Schwarzen Meeres nähert. Auch in den literarischen Texten aus und über die Ukraine schärft Eden ihre Sinne auf die Kulinarik, von Nikolaj Gogols „Toten Seelen“ über den berühmtesten Schriftsteller der Stadt, Isaak Babels, den sie als „Food-Wrighter“ beschreibt, bis hin zum US-Schriftsteller Mark Twain, der dereinst auf den Märkten von Odessa Eiscreme schleckte.
Erschienen 2019 bei Prestel, ab 30 Euro.
Neal Ascherson: „Black Sea. Coasts and Conquests: From Pericles to Putin“
Das Schwarze Meer als Wiege des europäischen Selbstbildes
Das Buch beginnt mit einem Donnerschlag: Als im Sommer 1991 die Kommunisten in Moskau beim „Augustputsch“ versuchen, die Uhren zurück zu drehen, ist der schottische Journalist Neil Ascherson mit einer Delegation des Weltkongresses des Byzantinisten auf der Halbinsel Krim. Weit weg von den Panzern und Protesten in der Hauptstadt eines Riesenreiches, das gerade zerfällt. Doch wenig später erklärte sich die Sowjetrepublik für unabhängig, zu dem die Krim fortan gehören sollte: die Ukraine.
Der schottische Journalist beschreibt das Schwarze Meer als einen Raum, der wie kein anderer an den Nahtstellen der Kultur und den Sollbruchstellen der Geschichte liegt. Zwischen Europa und Asien, Christentum und Islam, Zivilisation und Barbarei.
Ein begehrter Sehnsuchtsort, fernab kitschiger Postkartenidylle oder mediterranen Leichtigkeit, sondern bitter umkämpft und ewiger Quell imperialer Phantomschmerzen. Eine offene Wunde, bis zum heutigen Tag, auch wenn der Untertitel der 2015 neu aufgelegten Ausgabe „Coasts and Conquests: From Pericles to Putin“ etwas zu viel verspricht. Die russische Krim-Annexion 2014 wird nur im Vorwort gestreift.
Der Original-Titel aus dem Jahr 1995 „Black Sea: The Birthplace of Civilisation and Barbarism“ trifft es da schon eher. Gerade an den Stellen über den europäischen Ursprungsmythos entfaltet Ascherson seine ganze Brillianz: „An den Küsten des Schwarzen Meeres wurden die Zwillinge ‚Zivilisation’ und ‚Barbarei’ geboren“, schreibt Ascherson. Dort, wo die sesshaften Griechen dereinst auf die nomadischen Skythen trafen, die zum „Spiegel wurden, in dem die Griechen lernten, ihre eigene Überlegenheit zu sehen. (...) Bei diesem Treffen wurde die Idee von Europa geboren.“ Die Idee eines Europas, überlegen und kultiviert, aber auch anmaßend und überheblich, von der sich die europäischen Kolonialisten das Recht ableitete, über andere zu herrschen.
Es ist eine üppige, kenntnisreiche, episodische Kulturgeschichte über das Schwarze Meer als jenen Ort, an dem sich die Europäer einen Begriff davon zu machen versuchten, wer sie eigentlich sind.
Erstmals 1995 erschienen, 2015 bei Pinguin neu aufgelegt, ab 10 Euro.
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