(Un)diplomatische Gedanken
Der ehemalige ukrainische Botschafter in Wien, Olexander Scherba, hat ein Buch über seine 26 Jahre im auswärtigen Dienst geschrieben. Eine Rezension von Simone Brunner.
„Diplomatie ist die Kunst, mit hundert Worten zu verschweigen, was man mit einem einzigen Wort sagen könnte.“ Es ist ein Ausspruch, der dem französischen Lyriker, Literatur-Nobelpreisträger und Diplomaten Saint-John Perse nachgesagt wird.
Der ehemalige ukrainische Diplomat Olexander Scherba ist hingegen nicht dafür bekannt, lange um den heißen Brei herumzureden. Schon in seinen sieben Amtsjahren in Wien (2014–2021) erwarb sich der streitbare Diplomat den Ruf, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Noch weniger tut er das in seinem Buch, das in diesem Jahr im ibidem-Verlag auf Englisch erschienen ist: „Ukraine vs. Darkness. Undiplomatic Thoughts.“ Darin blickt Scherba auf 26 Jahre im ukrainischen Außendienst zurück.
Die Ukraine, Russland und die EU – es ist eine komplexe, überladene Beziehungskiste, die Scherba auf kompakten 162 Seiten und in 18 Kapiteln 162 Seiten durchleuchtet, die zum Teil die Kolumnen umfassen, die er zwischen 2015 und 2020 für die ukrainische Wochenzeitung Dzerkalo Tyzhnia (ukrainisch: Дзеркало тижня) geschrieben hat. Welcher Ort könnte für einen ukrainischen Diplomaten besser dazu geeignet sein, dieses Beziehungsdreieck zu beschreiben, als Wien, die Hauptstadt des innerhalb der EU als besonders pro-russisch geltenden Österreichs?
Geboren 1970 im sowjetischen Kyjiw, gehörte Scherba in den Neunziger Jahren zu den jungen, aufstrebenden Beamten, die sich im Außenministerium die Klinke in die Hand gaben, mit einem klaren Bekenntnis zu einer unabhängigen Ukraine. Später wurde Scherba zum Redenschreiber des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko und nach der Maidan-Revolution 2014 zum Botschafter der Ukraine in Österreich ernannt. Scherba kehrte im Frühsommer 2021 nach Kyjiw zurück. Im Oktober verließ er den diplomatischen Dienst und trat einen Posten als Berater beim staatlichen Energiekonzern Naftogaz an.
Explizit kommt sein langjähriges Gastland im Buch nur selten vor. Doch die öffentliche Debatte, die Business-Deals, das Schielen auf die österreichischen Wirtschaftsinteressen in der Region, der gerade in Osteuropa immer wieder Menschenrechte und politische Fragen untergeordnet werden, sind das Hintergrundrauschen, vor denen Scherba seine griffigen Thesen formuliert.
„Russland liest den Westen wie ein offenes Buch und nutzt jede seiner Schwächen aus, während der Westen einen ‚Reset‘ nach dem anderen vorschlägt.“
Dass der Westen immer wieder vergeblich versuche, mit Russland „einen Kompromiss zwischen Freiheit und Unfreiheit“ auszuhandeln. Dass jedes Appeasement mit Putin, der seine anti-westliche Rhetorik längst als politische Machtressource einsetzt, scheitern muss. In Westeuropa herrsche eine Mischung aus Naivität, Verdrängung und Gier, statt Moral, Klarsichtigkeit und Verantwortung, schreibt Scherba.
Es ist eine klare, schnörkellose, deutliche Sprache, der sich Scherba in seinen Texten bedient und die keinen Raum für Interpretationen, Missverständnisse oder gar Zweifel lässt. Geschickt und ohne Umschweife kommt Scherba immer wieder auf seinen Grundgedanken zurück: dass sich in der Ukraine die großen europäischen Zukunftsfragen kristallisieren, hier, im Kreuzungspunkt zwischen den Welten, „der EU, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht dazu gegründet wurde, Feinde zu attackieren, sondern einen Kompromiss zu finden“ und dem Herrschaftsanspruch von „Putin & Co., die sie als den Kern ihrer künftigen Sowjetunion 2.0 sehen.“ Ein zivilisatorisches Bollwerk gegen Putin, ein Lackmustest für Europa. Freiheit oder Unfreiheit, Propaganda oder Wahrheit, Moral oder Gier. In der Ukraine, schreibt Scherba, geht es um uns alle.
Neu sind diese Überlegungen freilich nicht. Aber je weiter man liest, desto mehr klingt in dem Buch Selbstkritik an, etwa an den nationalistischen Strömungen im Land, dem Zynismus der ukrainischen Bürger, der Korruption und dem trägen, post-sowjetischen Filz in der Verwaltung. Wie gerne würde man auch mehr über Scherbas früheren Wirkungskreis erfahren, als er vor der Maidan-Revolution 2013/14 noch den engen Vertrauten des damaligen Präsidenten Viktor Janukowytsch, den Ex-Nationalbanker und stellvertretenden Ministerpräsidenten Serhij Arbusow, in außenpolitischen Fragen beriet. Diese Stellen bleiben hingegen skizzenhaft.
Es ist kein Buch, das sich per se an Ukraine-Kenner richtet. Vielmehr sei es ihm darum gegangen, die (west-)europäischen Wissenslücken über das größte Flächenland Europas zu füllen, wie er in seinem ersten Kapitel schreibt. Gegen die Mythen und Propaganda anzuschreiben, die sich so hartnäckig halten. Scherba gibt Einblicke in die Komplexität der ukrainischen Identität, die nicht so schablonenhaft verlaufen, wie man glauben könnte – oder die russische Propaganda einen glauben machen will. Russischsprachige Ukrainer, die Lew Tolstoj und Alexander Puschkin lieben, wie Scherba selbst, die aber dennoch nicht Teil der Putinschen Schicksalsgemeinschaft, „Russkij Mir“ sein wollen.
Es gibt Stellen, an denen Scherba ziemlich pathetisch wird. Etwa, wenn er über die Treue der ukrainischen Soldaten an der Front im Donbas schreibt, eine Treue, die dem Westen schon lange abhanden gekommen sei. Wenn er der Ukraine mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten in Europa bescheinigt, der letzte Hüter des „Heiligen Grals“ demokratischer Werte zu sein. Oder wenn er das Schicksal seines Landes zum Kulturkampf zwischen Gut gegen Böse, zwischen der liberalen, europäischen Zivilisation und der anti-aufklärerischen „Dunkelheit“ überhöht, einem Kampf um die Seele Europas.
Ist das nicht ein bisschen zu dick aufgetragen? Vielleicht. Aber man kann Scherbas Buch auch vor dem Hintergrund eines europäischen Diskurses lesen, der gerade in Russland-Fragen von der Relativierung, der False Balance und der Schönfärberei lebt und demokratiepolitische Fragen nach unten nivelliert. Scherba setzt einen rhetorischen Kontrapunkt in einer öffentlichen Debatte, in der es immer nur darum geht, zu beschwichtigen, zu relativieren, einzuebnen. Eine Debatte, in der es auch im achten Kriegsjahr nicht gelungen ist, die „Ukraine-Krise“ bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen: Krieg mit Russland. „Worte spielen eine Rolle“, schreibt Scherba. „Gerade bei Russlands Propaganda gegenüber dem Westen.“
Auch, wenn ihm ein österreichischer Geschäftsmann zuletzt attestiert haben soll, er sei über die Jahre „milder“ geworden: Milde ist die Sache des ehemaligen Botschafters auch als Buchautor nicht. So wenig, wie die pure Analyse. In Summe liest sich das Buch mehr wie ein Appell an zwei Seiten: An die EU, mehr Anteil am Schicksal der Ukraine zu nehmen. Und an seine Landsleute, trotz allen Fehlern, Mühen und Rückschritten nicht den Glauben an eine reformierte Ukraine zu verlieren.
Olexander Scherba: „Ukraine vs. Darkness. Undiplomatic Thoughts.“ With a foreword by Adrian Karatnycky. ibidem-Verlag, Stuttgart 2021. 162 Seiten, 19,90 Euro
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