Legenden, Jazz und Bienen: Die Ukraine erlesen
Von den Frontlinien im Donbas bis zum Atommeiler von Tschernobyl: Eine strikt subjektive Auswahl der fünf besten literarischen Texte über die Ukraine, die auf Deutsch erschienen sind.
„Wer in der Zukunft lesen will, muss in der Vergangenheit blättern“, schrieb der französische Schriftsteller André Malraux. Ein Satz, der auch für die Ukraine gilt, deren Vergangenheit und Gegenwart man sich über die Literatur annähern kann. Es ist allerdings keine leichte Kost, etwas über dieses Land der Revolutionen zu lesen, in dem seit mehr als fünf Jahren Krieg herrscht und das zudem ein Herzland der „Bloodlands“ ist, wie der US-Historiker Timothy Snyder jene Teile Osteuropas nannte, in denen sich die imperialen Pläne von Hitler und Stalin überlappten. Ein Martyrium, das erst ganz am Anfang steht, sich in die kollektive europäische Erinnerungskultur einzuschreiben.
Katja Petrowskaja: „Vielleicht Esther“
In diesem Familienmosaik kämpft die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin gegen die „Windmühlen der Erinnerung“
Familiengeschichte ist manchmal Weltgeschichte, und nirgendwo gilt das so sehr wie in Osteuropa, das im 20. Jahrhundert so sehr gebeutelt wurde. Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die in Kyjiw geboren wurde, schickt ihr Erzähl-Ich auf eine mythische Reise durch ihre Familienhistorie, die „Koordinaten der Weltgeschichte“, eine Fahrt durch die Trümmerhaufen der Geschichte, von Berlin über London nach Warschau und Kyjiw.
So versucht sie, die Spuren ihrer Familie freizulegen und die Puzzlesteine zusammenzuführen. Ein buntes Kaleidoskop aus Kriegshelden, Revolutionären, Lehrern, Physikern und Holocaust-Opfern. Doch das Familiengedächtnis ist unzuverlässig, die Erinnerungen trügerisch. „In meiner Familie gab es alles – vor allem gab es aber Legenden“, schreibt die Ich-Erzählerin. Ein Kampf gegen die „Windmühlen der Erinnerung“, der mit keiner Recherche, keiner Nachforschung und keiner Reise mehr zu gewinnen ist. Allein der Titel ist eine Kapitulation: Die Urgroßmutter Esther, die 1941 als einzige zurückblieb, als ihre Familie aus Kyjiw floh. „Vielleicht Esther“, denn so genau weiß heute auch ihr Vater nicht mehr, ob das wirklich ihr Name gewesen ist. „Vielleicht Esther“ wurde im besetzten Kyjiw von den Nazis ermordet. Wie mehr als 33.000 andere Juden auch, im Massaker von Babyn Jar.
Petrowskaja lässt die Schicksale ihrer jüdischen Familie mit ihrer poetischen, betörend schönen Sprache auferstehen, die einen Sog entwickelt, dem man sich nur schwer entziehen kann. 2013 wurde sie für diesen Text mit dem österreichischen Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet.
Erschienen im Suhrkamp Verlag, 19,95€.
Andrej Kurkow: „Graue Bienen“
Über den Alltag und Leiden der Zivilbevölkerung in der Ostukraine
Der Frührentner Sergej Sergejitsch lebt sein Leben – so gut das eben geht im Niemandsland der so genannten „Grauen Zone“, dem wenige Kilometer breiten Landstrich zwischen den feindlichen Stellungen in der Ostukraine, wo noch jede Nacht geschossen wird. Ohne Strom, ohne Fernseher, ohne Familie und ohne Zivilisation. Sergejitsch ist einsam und arglos, unparteiisch und genügsam. Es ist nicht sein Krieg, „dessen Sinn nun schon seit drei Jahren für Sergejitsch schleierhaft blieb“ und der hier zwischen den ukrainischen Truppen und den pro-russischen Separatisten tobt. Erst eine Leiche im Schnee, die er eines Tages am Rande seines Gemüsegartens findet, bringt dieses fragile Gleichgewicht durcheinander. Als der Schnee schmilzt beschließt Sergejitsch, mit seinen sechs Bienenstöcken aus dem Kriegsgebiet zu fliehen, damit seine Bienen endlich wieder ungestört ausschwärmen können.
Bisher sind nicht viele literarische Texte übersetzt worden, die sich mit dem Krieg in der Ostukraine auseinander setzen. Aber Kurkows Roman, der dieses Jahr auf Deutsch erschienen ist, gehört neben Serhij Zhadans „Internat“ zu den großen Texten dieses Genre. Wie „Internat“ erzählt er über den Alltag und das Leiden der ostukrainischen Zivilbevölkerung, die zwischen die Fronten geraten ist. In einer nüchternen Sprache schreibt der 58-jährige Kurkow – im Original auf Russisch – aber nicht nur über den Krieg, sondern auch über eine Gesellschaft, in der es nicht mehr so leicht ist, sich für keine Seite zu entscheiden.
Erschienen im Diogenes Verlag, 24€.
Swetlana Alexijewitsch: „Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft“
Der fulminante Text der Literaturnobelpreisträgerin über die größte technologische Katastrophe des 20. Jahrhunderts
Wenn es ein Buch gibt, das Sie über Tschernobyl lesen sollten, dann ist es dieses hier.
Die aus Belarus stammende Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch hat über viele Jahre hinweg mit Menschen über Tschernobyl gesprochen. Aus diesen Gesprächsprotokollen hat sie mit ihrer eigenen Collagetechnik einen literarischen Stil entwickelt, für den sie 2015 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Es ist eine Chronik des Unerhörten, des Unfassbaren, mit der sie in nüchternen Monologen die Abgründe dieses beispiellosen Unglücks ausleuchtet. Mit den Stimmen der Liquidatoren, der Umsiedler, der Rückkehrer und der Opfer. Verdichtet zu einer Litanei des Grauens und der Traumata, aber auch des Staunens und der Faszination („Eine andere Welt inmitten der übrigen Welt.“)
Ein imposanter Text, in dem Alexijewitsch versucht, neben der menschlichen auch die philosophische Dimension dieser großen technologischen Katastrophe zu fassen. Was bleibt von Tschernobyl? Eine Katastrophe, die nicht nur die Sowjetunion in ihren Grundfesten erschüttert hat, sondern auch die Menschen in ihr an allem bisher Gültigen zweifeln lässt: die Wissenschaftler an der Ratio, die Schriftsteller an der Sprache und die Augenzeugen an dem, was sie dort, in der so genannten „Zone“, gesehen haben.
Erschienen im Suhrkamp Verlag, 18€.
Serhij Zhadan: „Die Erfindung des Jazz im Donbass“
Der phantastische Realismus des Donbass
Diese wundersame Reise beginnt, wie eine Reise in den Donbass eben beginnen muss: mit einer Fahrt durch die Steppe des Donbass in einem klapprigen, stickigen und ächzenden Kleinbus, der legendären „Marschrutka“. Besser kann man den Donbass, wie er auch noch jenseits des Krieges existiert (das Buch wurde 2010 noch vor dem Kriegsausbruch veröffentlicht) nicht kennen lernen. Hermann, der junge Werbeunternehmer aus Charkiw, macht sich auf den Weg in den „wilden Osten“, um auf der heruntergekommenen Tankstelle in der Pampa seines vermissten Bruders nach dem Rechten zu sehen – und doch für immer zu bleiben.
Wie ein Schlafwandler stolpert Hermann in diese abgesonderte Welt mit ihren magischen, eigenen Gesetzen und glamourös-skurrilen Figuren. Da sind Olga, die harsche Buchhalterin und der ehemalige Knastbruder Kotscha und Schura der Versehrte, der beste Automechaniker weit und breit. Ein Reich der Improvisationen, bevölkert mit einer schrägen Schicksalsgemeinschaft aus Schmugglern, Priestern, Ganoven, Bauern und Sowjet-Zombies, erzählt wie in einem Tagtraum. „Easy-Rider-Atmosphäre am Rande Europas“, schreibt Suhrkamp in seinem Klappentext. Der phantastische Realismus des Donbass.
Zhadan (45), der selbst aus dem Donbass stammt und nebenbei auch Sänger in einer Punkband ist („Zhadan i sobaky“, „Zhadan und die Hunde“), gilt als die wichtigste Stimme der jungen ukrainischen Literatur. Unter dem Originaltitel „Woroschilowgrad“ (der sowjetische Name für die Stadt Luhansk) wurde das Buch zuletzt auch verfilmt.
Erschienen im Suhrkamp Verlag, 21,95€.
Natascha Wodin: „Sie kam aus Mariupol“
Eine Geschichte aus dem dunkelsten Dunkel des blutrünstigen 20. Jahrhunderts
Es gibt Geschichten, die einem in all ihrer Tragik die Kehle zuschnüren. Und es gibt Natascha Wodins „Sie kam aus Mariupol.“ Die 1945 als Tochter von ukrainischen Zwangsarbeitern in Bayern geborene Wodin heftet sich an die Spuren ihrer verstorbenen Mutter. Sie begibt sich in das Labyrinth der eigenen Familiengeschichte, ausgehend von Mariupol, der Geburtsstadt ihrer Mutter, jener Hafenstadt am Asowschen Meer, wo die europäische Geschichte mit beispielloser Brutalität gewütet hat. Bürgerkrieg, stalinistische Säuberungen, Hungerkatastrophen, der Zweite Weltkrieg und der Einmarsch der Wehrmacht, von der Wodins Mutter 1944 zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wird. Ein Leben zu den Unzeiten und an den Unorten des 20. Jahrhunderts, an deren Ende ihre Mutter mit nur 36 Jahren Suizid begeht.
„Sie war nicht erst in Deutschland zum Untermenschen erklärt worden, sie war bereits in der Ukraine einer gewesen, meine arme, kleine, verrückt gewordene Mutter, die aus dem dunkelsten Dunkel des blutrünstigen 20. Jahrhunderts kam“, schreibt Wodin in diesem Buch. Es sind vor allem die Zwangsarbeiter aus Osteuropa, die bis heute keinen fixen Platz in der deutschen Erinnerungskultur gefunden haben. Wodins minutiöse Spurensuche, immer wieder mit literarischen Reflexionen gebrochen, wird aber auch von der Gewalt der Gegenwart überlagert, als im Sommer 2014 wieder der Krieg nach Mariupol kommt. Für dieses Buch wurde Wodin mit dem Alfred-Döblin-Preis ausgezeichnet.
Erschienen im Rowohlt Verlag, ab 12€ (Taschenbuch).
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