Die Akte Maidan

© Shut­ter­stock

Die Auf­ar­bei­tung, wer vor mehr als fünf Jahren für die Toten auf dem Maidan ver­ant­wort­lich ist, ver­läuft schlep­pend. Doch jetzt schla­gen Akti­vis­ten Alarm, die Ermitt­lun­gen stünden über­haupt vor dem Aus.

Portrait von Simone Brunner

Simone Brunner arbei­tet als freie Jour­na­lis­tin mit Fokus Osteuropa.

Ein Inferno aus Bar­ri­ka­den, Feuer und Toten. Die Welt sah fas­sungs­los zu, als im Februar 2014 die Gewalt auf dem Kyjiwer Unab­hän­gig­keits­platz, dem Maidan, eska­lierte, die Son­der­ein­heit der ukrai­ni­schen Polizei „Berkut“ auf die Zelt­stadt der Demons­tran­ten vor­rückte und die ersten Schüsse fielen. Szenen, wie es sie schon lange nicht mehr in einer euro­päi­schen Haupt­stadt gegeben hatte.

Die Ereig­nisse auf dem Maidan sind der Dreh- und Angel­punkt der jüngs­ten ukrai­ni­schen Geschichte. Ohne die „Revo­lu­tion der Würde“, die mit fried­li­chen Pro­tes­ten gegen die Nicht­un­ter­zeich­nung des EU-Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­mens begann, wäre Prä­si­dent Wiktor Janu­ko­witsch nicht nach Russ­land geflo­hen, rus­si­sche Truppen hätten wohl kaum die ukrai­ni­sche Halb­in­sel Krim annek­tiert und in der Ost­ukraine wäre nicht der Krieg aus­ge­bro­chen. Min­des­tens 100 Men­schen sind auf dem Maidan gestor­ben, die „Himm­li­sche Hun­dert­schaft“, wie sie von den Ukrai­nern seither genannt wurden.

So alt wie die „Revo­lu­tion der Würde“ ist die For­de­rung, diese Gewalt­ta­ten auf­zu­klä­ren. „Die offene Wunde des Maidan, die jeden Ukrai­ner immer noch schmerzt“, sagte Ex-Prä­si­dent Petro Poro­schenko kurz nach seinem Amts­an­tritt, und ver­sprach volle Auf­klä­rung. Doch bis heute, sechs Jahre nach dem Aus­bruch der Pro­teste, sind die Ereig­nisse nicht restlos auf­ge­klärt. „Ich möchte diese Ange­le­gen­heit wirk­lich zum Ende bringen“, sagte Prä­si­dent Wolo­dymyr Selen­skyj zwar dieser Tage vor Jour­na­lis­ten, auf die Maidan-Ver­bre­chen ange­spro­chen. Doch daran haben viele Betrof­fene so ihre Zweifel. Mehr noch: Akti­vis­ten schla­gen jetzt Alarm, dass die Ermitt­lun­gen ins­ge­samt vor dem Aus stehen könnten.

Der Anlass: Dieser Tage, am 20. Novem­ber, wird die Akte Maidan von der bisher zustän­di­gen Staats­an­walt­schaft zum Staat­li­chen Ermitt­lungs­büro wandern. Eine Behörde, in der es jedoch an den nötigen Res­sour­cen fehle, um die kom­ple­xen Vor­gänge auf dem Maidan, mit seiner Unmenge an Straf­ta­ten, Video- und Foto­ma­te­rial, Zeugen und Opfern, zu unter­su­chen. „Fünf Jahre Ermitt­lungs­ar­beit, die wir nun völlig neu auf­rol­len und quasi von Null begin­nen müssen“, schrieb Roman Truba, Chef des Staat­li­chen Ermitt­lungs­bü­ros, zuletzt in einer Kolumne in der Tages­zei­tung „Ukrainska Prawda“. „Das wird die Unter­su­chung zum Still­stand bringen.“

In einem offenen Brief haben sich auch die Ange­hö­ri­gen der Maidan-Opfer, ihre Anwälte sowie Ver­tre­ter der Zivil­ge­sell­schaft an den Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj gewandt. „Die Wei­ter­gabe dieser Fälle an das Staat­li­che Ermitt­lungs­büro führt dazu, dass der Ermitt­lungs­pro­zess ins Nichts läuft – oder für min­des­tens sechs Monate unter­bro­chen wird“, heißt es darin. Zeit, die viele Ange­hö­rige der Maidan-Opfer nicht mehr warten wollen. «Viele der Ange­hö­ri­gen, wie etwa die Eltern von Ermor­de­ten, haben Angst, dass sie den Schuld­spruch gar nicht mehr erleben», erklärt der Anwalt Pawlo Dykan, der 15 Maidan-Opfer ver­tritt, auf Anfrage. 17 Ange­hö­rige von Opfern sollen bereits gestor­ben sein, so Dykan. Ver­ständ­lich, dass sich bei den Ange­hö­ri­gen viel Frust ange­sam­melt hat. Ihre For­de­rung: Inner­halb der neuen Behörde eine Son­der­ab­tei­lung zu gründen, die sich aus­schließ­lich mit dem Maidan beschäf­tigt, sowie jene Ermitt­ler, die bisher mit der Causa betraut waren, zu übernehmen.

Konkret geht es dabei um Ermitt­ler wie Serhij Hor­bat­juk. Der 46-jährige Jurist leitete seit fünf Jahren die Abtei­lung für Son­der­er­mitt­lun­gen zu den Ver­bre­chen am Maidan in der Staats­an­walt­schaft. Er gilt als Mann der Zivil­ge­sell­schaft, medi­en­af­fin und bestens in der Akti­vis­ten-Szene ver­netzt. Die Maidan-Ikone Mustafa Najjem schlug ihn sogar für das Amt des Gene­ral­staats­an­wal­tes vor. Immer wieder pran­gerte Hor­bat­juk das kor­rupte, nicht aus­rei­chend refor­mierte Jus­tiz­we­sen an. Im Gegen­zug gab es immer wieder perfide Ver­su­che, den „Que­ru­lan­ten“ Hor­bat­juk abzu­set­zen. Doch erst unter dem neuen Prä­si­den­ten Wolo­dymyr Selen­skyj und seinem Gene­ral­staats­an­walt wurde Hor­bat­juk sus­pen­diert, weil er sich einem Prü­fungs­ver­fah­ren wider­setzt hatte, dem sich alle Mit­ar­bei­ter der Staats­an­walt­schaft unter­zie­hen müssen.

Ob die Abset­zung nun gerecht­fer­tigt ist oder nicht – es ist eine heikle Per­so­na­lie, denn für viele war Hor­bat­juk der einzige, der die Akte Maidan inner­halb des zähen ukrai­ni­schen Jus­tiz­sys­tems über­haupt vor­an­ge­bracht hatte. So fordern die Aktivs­ten in ihrem Brief, dass Hor­bat­juk die neue Abtei­lung führen soll. Die Bilanz unter Hor­ba­tiuk: Ermit­telt wurde bisher in 94 Todes­fäl­len – 81 Tote unter den Demons­tran­ten, 13 aus den Reihen der Sicher­heits­kräfte. Darüber hinaus sollen aber alle Straf­ta­ten auf dem Maidan ver­folgt werden. Immer­hin 448 Per­so­nen führen Hor­ba­ti­uks Ermitt­ler als Ver­däch­tige, 298 von ihnen wurden schon vor Gericht gebracht. Urteile gab es indes erst 57, bei den Mord­ver­däch­ti­gen waren es über­haupt nur 16, so Hor­ba­tiuk auf Anfrage.

Zahlen, die unter­mau­ern sollen, dass es nicht an der Staats­an­walt­schaft liegt, dass die Auf­klä­rung so zäh ver­läuft. Sondern am Wider­stand des alten Systems, das sich beson­ders in den ukrai­ni­schen Gerichts­sä­len hart­nä­ckig hält: „Die Gerichte ver­zö­gern die Bear­bei­tung dieser Fälle“, sagt Hor­bat­juk. „Viele Fälle liegen zwei, drei oder vier Jahre vor Gericht. Außer­dem stellt die Staats­füh­rung nicht genü­gend Richter zur Ver­fü­gung: mehr als 3000 offene Stellen werden schon seit langer Zeit nicht nach­be­setzt“, so Horbatjuk.

Zudem fehlte es auch bisher an Fach­per­so­nal, um den Prozess zu beschleu­ni­gen, wie die Ermitt­ler immer wieder klagten. Hinzu kommt, dass viele Ver­däch­tige nach Russ­land geflo­hen sind, wie der Ex-Prä­si­dent Viktor Janu­ko­witsch oder der Berkut-Kom­man­dant Serhij Kusjuk, der erst kürz­lich die gefürch­tete rus­si­sche Son­der­po­li­zei Omon bei den Mos­kauer Anti-Regie­rungs­pro­tes­ten befeh­ligte. Das hat dazu geführt, das bisher vor allem Per­so­nen am unteren Ende der Befehls­kette ver­ur­teilt wurden – wie die soge­nann­ten „Tituschki“, bezahlte Schlä­ger­trupps, die der Polizei halfen, Demons­tran­ten zu ver­prü­geln . Schät­zun­gen zufolge dienen heute noch rund 30 Prozent der Ange­hö­ri­gen der auf­ge­lös­ten Spe­zi­al­ein­heit „Berkut“, die damals gegen die Demons­tran­ten ein­ge­setzt wurden, in den Reihen der neuen ukrai­ni­schen Polizei, einige von ihnen sogar in lei­ten­den Posi­tio­nen. Eine denkbar schlechte Aus­gangs­po­si­tion für volle Transparenz.

Was eine neue Behörde gegen diese alten Seil­schaf­ten leisten kann, muss sich erst zeigen. So alt wie die „Revo­lu­tion der Würde“ sind auch die Spe­ku­la­tio­nen über eine „dritte Kraft“ oder Scharf­schüt­zen, die mit ihren Schüs­sen auf beide Seiten die Gewalt erst ange­facht hätten – und die Schmä­hun­gen der rus­si­schen Pro­pa­ganda, die in düs­te­ren Tönen das Bild des «Faschis­ten­put­sches in Kyjiw» zeich­nete. Wenn­gleich die Ermitt­ler bis heute keine Hin­weise auf eine mys­te­riöse dritte Kraft auf dem Maidan gefun­den haben, sind es solche Mythen, die noch immer über den Maidan erzählt werden. Aber so lange die offi­zi­elle ukrai­ni­sche Auf­klä­rung nicht abge­schlos­sen ist, wird den bei­spiel­lo­sen Vor­gän­gen auf dem Kyjiwer Maidan wei­ter­hin die Aura des Nicht-Auf­ge­klär­ten anhaf­ten – und werden sich die Fakten im Pro­pa­gan­da­ne­bel verlieren.

 

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