Die Akte Maidan
Die Aufarbeitung, wer vor mehr als fünf Jahren für die Toten auf dem Maidan verantwortlich ist, verläuft schleppend. Doch jetzt schlagen Aktivisten Alarm, die Ermittlungen stünden überhaupt vor dem Aus.
Ein Inferno aus Barrikaden, Feuer und Toten. Die Welt sah fassungslos zu, als im Februar 2014 die Gewalt auf dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, eskalierte, die Sondereinheit der ukrainischen Polizei „Berkut“ auf die Zeltstadt der Demonstranten vorrückte und die ersten Schüsse fielen. Szenen, wie es sie schon lange nicht mehr in einer europäischen Hauptstadt gegeben hatte.
Die Ereignisse auf dem Maidan sind der Dreh- und Angelpunkt der jüngsten ukrainischen Geschichte. Ohne die „Revolution der Würde“, die mit friedlichen Protesten gegen die Nichtunterzeichnung des EU-Assoziierungsabkommens begann, wäre Präsident Wiktor Janukowitsch nicht nach Russland geflohen, russische Truppen hätten wohl kaum die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und in der Ostukraine wäre nicht der Krieg ausgebrochen. Mindestens 100 Menschen sind auf dem Maidan gestorben, die „Himmlische Hundertschaft“, wie sie von den Ukrainern seither genannt wurden.
So alt wie die „Revolution der Würde“ ist die Forderung, diese Gewalttaten aufzuklären. „Die offene Wunde des Maidan, die jeden Ukrainer immer noch schmerzt“, sagte Ex-Präsident Petro Poroschenko kurz nach seinem Amtsantritt, und versprach volle Aufklärung. Doch bis heute, sechs Jahre nach dem Ausbruch der Proteste, sind die Ereignisse nicht restlos aufgeklärt. „Ich möchte diese Angelegenheit wirklich zum Ende bringen“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj zwar dieser Tage vor Journalisten, auf die Maidan-Verbrechen angesprochen. Doch daran haben viele Betroffene so ihre Zweifel. Mehr noch: Aktivisten schlagen jetzt Alarm, dass die Ermittlungen insgesamt vor dem Aus stehen könnten.
Der Anlass: Dieser Tage, am 20. November, wird die Akte Maidan von der bisher zuständigen Staatsanwaltschaft zum Staatlichen Ermittlungsbüro wandern. Eine Behörde, in der es jedoch an den nötigen Ressourcen fehle, um die komplexen Vorgänge auf dem Maidan, mit seiner Unmenge an Straftaten, Video- und Fotomaterial, Zeugen und Opfern, zu untersuchen. „Fünf Jahre Ermittlungsarbeit, die wir nun völlig neu aufrollen und quasi von Null beginnen müssen“, schrieb Roman Truba, Chef des Staatlichen Ermittlungsbüros, zuletzt in einer Kolumne in der Tageszeitung „Ukrainska Prawda“. „Das wird die Untersuchung zum Stillstand bringen.“
In einem offenen Brief haben sich auch die Angehörigen der Maidan-Opfer, ihre Anwälte sowie Vertreter der Zivilgesellschaft an den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj gewandt. „Die Weitergabe dieser Fälle an das Staatliche Ermittlungsbüro führt dazu, dass der Ermittlungsprozess ins Nichts läuft – oder für mindestens sechs Monate unterbrochen wird“, heißt es darin. Zeit, die viele Angehörige der Maidan-Opfer nicht mehr warten wollen. «Viele der Angehörigen, wie etwa die Eltern von Ermordeten, haben Angst, dass sie den Schuldspruch gar nicht mehr erleben», erklärt der Anwalt Pawlo Dykan, der 15 Maidan-Opfer vertritt, auf Anfrage. 17 Angehörige von Opfern sollen bereits gestorben sein, so Dykan. Verständlich, dass sich bei den Angehörigen viel Frust angesammelt hat. Ihre Forderung: Innerhalb der neuen Behörde eine Sonderabteilung zu gründen, die sich ausschließlich mit dem Maidan beschäftigt, sowie jene Ermittler, die bisher mit der Causa betraut waren, zu übernehmen.
Konkret geht es dabei um Ermittler wie Serhij Horbatjuk. Der 46-jährige Jurist leitete seit fünf Jahren die Abteilung für Sonderermittlungen zu den Verbrechen am Maidan in der Staatsanwaltschaft. Er gilt als Mann der Zivilgesellschaft, medienaffin und bestens in der Aktivisten-Szene vernetzt. Die Maidan-Ikone Mustafa Najjem schlug ihn sogar für das Amt des Generalstaatsanwaltes vor. Immer wieder prangerte Horbatjuk das korrupte, nicht ausreichend reformierte Justizwesen an. Im Gegenzug gab es immer wieder perfide Versuche, den „Querulanten“ Horbatjuk abzusetzen. Doch erst unter dem neuen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und seinem Generalstaatsanwalt wurde Horbatjuk suspendiert, weil er sich einem Prüfungsverfahren widersetzt hatte, dem sich alle Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft unterziehen müssen.
Ob die Absetzung nun gerechtfertigt ist oder nicht – es ist eine heikle Personalie, denn für viele war Horbatjuk der einzige, der die Akte Maidan innerhalb des zähen ukrainischen Justizsystems überhaupt vorangebracht hatte. So fordern die Aktivsten in ihrem Brief, dass Horbatjuk die neue Abteilung führen soll. Die Bilanz unter Horbatiuk: Ermittelt wurde bisher in 94 Todesfällen – 81 Tote unter den Demonstranten, 13 aus den Reihen der Sicherheitskräfte. Darüber hinaus sollen aber alle Straftaten auf dem Maidan verfolgt werden. Immerhin 448 Personen führen Horbatiuks Ermittler als Verdächtige, 298 von ihnen wurden schon vor Gericht gebracht. Urteile gab es indes erst 57, bei den Mordverdächtigen waren es überhaupt nur 16, so Horbatiuk auf Anfrage.
Zahlen, die untermauern sollen, dass es nicht an der Staatsanwaltschaft liegt, dass die Aufklärung so zäh verläuft. Sondern am Widerstand des alten Systems, das sich besonders in den ukrainischen Gerichtssälen hartnäckig hält: „Die Gerichte verzögern die Bearbeitung dieser Fälle“, sagt Horbatjuk. „Viele Fälle liegen zwei, drei oder vier Jahre vor Gericht. Außerdem stellt die Staatsführung nicht genügend Richter zur Verfügung: mehr als 3000 offene Stellen werden schon seit langer Zeit nicht nachbesetzt“, so Horbatjuk.
Zudem fehlte es auch bisher an Fachpersonal, um den Prozess zu beschleunigen, wie die Ermittler immer wieder klagten. Hinzu kommt, dass viele Verdächtige nach Russland geflohen sind, wie der Ex-Präsident Viktor Janukowitsch oder der Berkut-Kommandant Serhij Kusjuk, der erst kürzlich die gefürchtete russische Sonderpolizei Omon bei den Moskauer Anti-Regierungsprotesten befehligte. Das hat dazu geführt, das bisher vor allem Personen am unteren Ende der Befehlskette verurteilt wurden – wie die sogenannten „Tituschki“, bezahlte Schlägertrupps, die der Polizei halfen, Demonstranten zu verprügeln . Schätzungen zufolge dienen heute noch rund 30 Prozent der Angehörigen der aufgelösten Spezialeinheit „Berkut“, die damals gegen die Demonstranten eingesetzt wurden, in den Reihen der neuen ukrainischen Polizei, einige von ihnen sogar in leitenden Positionen. Eine denkbar schlechte Ausgangsposition für volle Transparenz.
Was eine neue Behörde gegen diese alten Seilschaften leisten kann, muss sich erst zeigen. So alt wie die „Revolution der Würde“ sind auch die Spekulationen über eine „dritte Kraft“ oder Scharfschützen, die mit ihren Schüssen auf beide Seiten die Gewalt erst angefacht hätten – und die Schmähungen der russischen Propaganda, die in düsteren Tönen das Bild des «Faschistenputsches in Kyjiw» zeichnete. Wenngleich die Ermittler bis heute keine Hinweise auf eine mysteriöse dritte Kraft auf dem Maidan gefunden haben, sind es solche Mythen, die noch immer über den Maidan erzählt werden. Aber so lange die offizielle ukrainische Aufklärung nicht abgeschlossen ist, wird den beispiellosen Vorgängen auf dem Kyjiwer Maidan weiterhin die Aura des Nicht-Aufgeklärten anhaften – und werden sich die Fakten im Propagandanebel verlieren.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.