Zum 210. Geburtstag von Nikolai Gogol
Heute vor 210 Jahren, am 1. April 1809, wurde Nikolai Wassiljewitsch Gogol in der ukrainischen Kossaken-Stadt Sorotschynzi geboren. Christoph Brumme blickt zurück auf einen der großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts
Alles Verrückte, alle merkwürdigen und komischen Zufälle, können in Poltawa mit dem Begriff Gogolewschina erklärt werden, abgeleitet vom Namen des Schriftstellers Nikolai Gogol.
Sofia, eine junge Designerin aus Poltawa, beschreibt die Gogolewschina so: „Mir ist dieses Gefühl bekannt, aber es ist mit Worten schwer zu erklären. Gogol war ein sehr spezieller Schriftsteller, er schrieb viele mystische Geschichten, die auf unserem Territorium spielen. Und manchmal scheint mir, er schrieb die Wahrheit. Gogolewschina ist, wenn du eine Situation wirklich erkennst oder einen Menschen. Und du verstehst, wenn Gogol ein moderner Schriftsteller wäre, würde er genau das beschreiben.“
Nikolai Gogol wurde am 1. April 1809 in der nordwestlich von Poltawa gelegenen Siedlung Welyki Sorotschynzi geboren. Dort verbrachte er seine Kindheit, bis er in Poltawa im Alter von dreizehn bis fünfzehn Jahren die Schule besuchte. In seinen Erzählungen „Abende auf dem Vorwerk von Dikanka“ schildert er in fantastisch überhöhter Weise das dörfliche Leben der Menschen dieser Gegend. Obwohl vor fast zweihundert Jahren geschrieben, prägen diese satirischen Darstellungen das Bewusstsein der Bürger von Poltawa bis heute. Das alles beherrschende Element in ihnen ist der Wahnsinn. Ehrbare Bürger verwandeln sich in Monster, Teufel kichern auf den Dächern. Der Nachbar, der dich tagsüber umarmt, beißt dir nachts in die Kehle. Nichts ist wirklich wahr, alles kann sich jederzeit ins Monströse, Unheimliche, Komische und Böse verwandeln, so lehren es die Gogolewschina und die Erfahrung.
Man redet in Poltawa von Nikolai Gogol wie von einer lebenden Autorität, einem Freund oder einem Mitglied der Familie. Keine Abendgesellschaft ohne Gogol-Zitat. Das Theater trägt seinen Namen, sein Denkmal steht natürlich gegenüber dem Theater und ist eines der höchsten der Stadt. Auf jedem Jahrmarkt werden die Figuren aus seinen Erzählungen angeboten, ob aus Porzellan, Holz, Metall, Keramik oder Wolle. Mit seinem Bildnis wird auf Zuckertüten, Bier- und Mineralwasserflaschen Reklame gemacht. In den Galerien werden die neuesten Gogol-Porträts der Maler ausgestellt und ausführlich in den Medien besprochen. Der Meister selbst hat in seiner Erzählung „Das Porträt“ beschrieben, welch schreckliche Kraft ein Porträt entfalten kann; alle Gogolianer wissen, wie gefährlich dieses Genre ist. Maler aus Poltawa muss mindestens ein Mal im Leben sein Porträt malen, sein Gesicht mit der langen Nase und den schreckhaften Augen. Ein Hypochonder, der nie in eine Frau verliebt war, wahrscheinlich niemals Sex hatte und sich zu Tode fastete, weil ein Priester ihm eingeredete, er habe teuflische Bücher geschrieben. Als Vorbild für die Jugend taugt er also eigentlich nicht.
Meine Frau Katarina begegnet der Gogolewschina fast jeden Tag. Ein Großvater spricht sie auf der Straße an, er kennt ihren Namen und kann ihre Gedanken lesen. „Wie geht es Ljoscha, wie geht es der Krim?“, fragt der Großvater sie. Sie hat wenige Minuten zuvor ihren früheren Mann Ljoscha getroffen, der von der Krim zurückgekommen war. Und dieser Großvater erzählt ihr nun, dass sie vor acht Jahren zusammen mit Ljoscha in einem Zugabteil von der Krim nach Poltawa gefahren seien. Nun erinnert sie sich. Sie war damals schwanger, der Großvater hat noch Videos von der Zugfahrt.
Während sie mir von diesem seltsamen Zufall berichtet, ruft mich ein Wladimir an, ein Name aus der Liste meiner Adressen. Doch ich kann mich an keinen Wladimir erinnern. Aber in wenigen Minuten bin ich mit einem Wolodymyr verabredet und höre deshalb meiner Frau etwas ungeduldig zu. Vielleicht habe ich Wolodymyrs Namen in der russischen Variante Wladimir gespeichert? Wladimir oder Wolodymyr entschuldigt sich am Telefon. Sein Großvater brauche Hilfe, der wolle auf die Krim fahren, obwohl er kein Geld und keinen Ausweis habe, er müsse ihm jetzt helfen. Und Wladimir ist offenbar in Eile, er beendet das Gespräch rasch, bevor ich ihn in meiner Verwirrung fragen kann, wer er sei und warum er sich bei mir entschuldigt. Ich sehe meine Frau an, da schickt Wolodymyr mir eine Nachricht. Auch er entschuldigt sich, er wird etwas später zu unserem Treffen kommen, etwa 15 Minuten. Die Gogolewschina hat wieder zugeschlagen!
Alles hängt mit allem zusammen, auf nichts kann man sich verlassen. Kein Abgrund ist zu tief, kein Aphorismus scharfsinnig genug. Jeder kann in Poltawa ein Genie sein, auch so ein verschrobener Mensch wie Nikolai Wassiliwitsch Gogol.
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