Von Tätern und Opfern
Der Russland-Ukraine-Konflikt ließe sich nur politisch, nicht militärisch lösen, lautet die Grundüberzeugung der deutschen Außenpolitik. Dieser Satz ist zugleich richtig und falsch. Von Christoph Brumme
Richtig ist: Wirklicher Frieden braucht den Willen zum Kompromiss, zum Ausgleich von Interessen, zur Anerkennung des Rechts und letztlich die Bereitschaft zu Versöhnung. Falsch ist der Satz dann, wenn ein Aggressor durch den Einsatz militärischer Mittel Fakten schafft, Terrain erobert, Menschen vertreibt oder tötet.
Es besteht kein Zweifel: Die Ukrainer wollen Frieden. Präsident Selenskyj gewann die Wahl, weil er versprach, Frieden zu bringen. Den wollte er wirklich. Er hoffte, durch Zugeständnisse an den Kreml das Leiden der Menschen endlich beenden zu können. Er suchte neue Verhandlungsformate, die ihm sogar den Verdacht einbrachten, er könne ein Mann des Kremls sein. Sein Vorgänger Poroschenko bezichtigte ihn sogar des Verrats. Selenskyjs Kompromissbereitschaft hat viele ukrainische Bürger befremdet. Um die Front zu „entflechten“ und einen Waffenstillstand zu ermöglichen, hat er den Separatisten ukrainisches Staatsgebiet überlassen, für dessen Verteidigung Ukrainer gestorben sind.
Alle ukrainischen Verantwortlichen, auch die Kritiker und politischen Gegner des Präsidenten wissen, dass sie einen Krieg gegen Russland nicht gewinnen können, selbst wenn sie so verrückt wären, das zu versuchen.
Aber den Ukrainern ist bewusst, dass trotz aller rechtsstaatlichen Unzulänglichkeiten, anders als in Russland, frei diskutiert werden kann. Dass es ein Demonstrationsrecht gibt und dass politische Opposition möglich ist.
Nicht schnödes Geld, sondern die Macht der Ideologie
Deutschlands Außenminister Heiko Maas hat vor einer Videokonferenz der Nato-Außenminister zwar Waffenlieferungen an die Ukraine weiterhin abgelehnt, aber zugleich darauf hingewiesen, dass Deutschland „weltweit der größte bilaterale Geber für die Ukraine“ sei. Seit 2014 habe man das Land mit fast zwei Milliarden Euro im zivilen Bereich unterstützt. Jeder Deutsche hat demnach drei Euro und sechzig Cent pro Jahr für die Ukraine quasi gespendet. Das ist lobenswert. Deutschland leistet in der Ukraine humanitäre Hilfe und ist in vielen Branchen beratend tätig, es finanziert den Bau von Häusern für Flüchtlinge und Stadtentwicklungsprogramme, gewährt und vermittelt Kredite, beispielsweise auch für die ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft und für den Bau von Müllverwertungsanlagen. Waffenlieferungen jedoch würden den Menschen in der Ukraine kein Mehr an Sicherheit bringen, so der Außenminister.
Diese Hypothese kann in Frage gestellt werden. Wie weit wären die Separatisten und die russische Armee in das ukrainische Festland vorgedrungen, wenn ihnen nicht mit militärischen Mitteln Widerstand geleistet worden wäre? Der Preis für diesen Widerstand war hoch. Ukrainische Männer verteidigten ihre Heimat anfangs ohne Schutzhelme, geschweige denn sichere Unterstände oder Vorwarnsysteme für anfliegende Artillerie.
Man kann behaupten, Ankündigungen russischer Militärs, die russische Armee könne auch bis Kyjiw durchmarschieren, seien nur Großmäuligkeit. Hat die ukrainische Gegenwehr – so unzulänglich sie militärisch auch ausgerüstet war – eine solche Entwicklung verhindert? Hätten die Separatisten und ihre russischen Unterstützer Charkiw, Mariupol, Cherson, Odesa in Ruhe gelassen, wenn es keine ukrainische Verteidigung gegeben hätte?
Wer vom sicheren Deutschland aus behauptet, Russlands Aggressionen ließen sich allein durch Worte und Verhandlungen eindämmen, der hat das Wesen des Putinismus nicht verstanden. Das Russland Putins sieht sich als Imperium und Drittes Rom, welches den Westen vor seiner moralischen Verkommenheit retten will. Es versteht sich zudem als Hüter des einzig wahren Christentums.
Dem Putinismus wird oft unterstellt, er sei lediglich eine Symbiose aus Mafiakultur und Geheimdiensten, lediglich interessiert am Machterhalt der herrschenden „Elite“. Anders als zu Zeiten der Sowjetunion gebe es aber keine übergeordnete Ideologie. Dieser Ansatz unterschätzt das messianische Bewusstsein des herrschenden Regimes. Es unterschätzt den quasi heiligen, zeitlosen Anspruch, dass Russland der europäischen Zivilisation überlegen sei. Wladimir Putin stellt sich in die Tradition von Dostojewskij, wenn er die größere Leidensfähigkeit des russischen Volkes gegenüber dem Westen reklamiert.
„Die historische, orthodoxe Herrschaftsideologie bildet auch heute wieder den Goldgrund für Putins autokratisches und seinen wiederbelebten russischen Expansionismus“, erklärt Jörg Himmelreich in der Neuen Züricher Zeitung – „Putins Dienerin. Die russisch-orthodoxe Kirche und ihre Mission“ (NZZ, 2. April 2015).
„Wer im orthodoxen Alleinbesitz letzter Wahrheiten ist, kann ernsthafte und dauerhafte Kompromisse nicht zulassen. Denn solche setzen Toleranz gegenüber anderen, gleichberechtigten Wahrheiten voraus. Das macht die fortdauernde Gefährlichkeit dieser tief verankerten, orthodox gerechtfertigten russischen Herrschaftspsychologie aus. Wer im Rahmen eines missionarischen Auftrags für sich das politische Recht in Anspruch nimmt, alleine den rechten Glauben zu verbreiten, der kennt keine Grenzen.“
Internationale Konsequenzen
Bis zur faktischen Okkupation der Krim durch Russland glaubten die Ukrainer an das Versprechen der drei Atommächte USA, Großbritannien und eben dieses Russlands, ihre territoriale Integrität zu garantieren. Dafür hatten sie ihre Atomwaffen abgegeben und sich dem Schutzversprechen dieser drei Mächte anvertraut. Der Vertrauensbruch, den die Nichteinlösung dieses Schutzversprechens des Budapester Memorandums geschaffen hat, ist immens. Wer sollte sich nach der ukrainischen Erfahrung noch einmal auf so ein atomares Abrüstungsrisiko einlassen? Zurückgekehrt ist das Gesetz des Stärkeren – und damit die Gründungsidee der UNO wieder einmal geschwächt. Der nordkoreanische Diktator wird sich bestätigt fühlen, dass sein Atomprogramm ihn unangreifbar macht.
Die Nichteinlösung des Budapester Vertrages ist Sauerstoff für all jene, die atomar aufrüsten wollen. Nationalistische Kräfte in der Ukraine wie die “Freiheitspartei” haben diese gefährliche Parole schon wieder auf die Tagesordnung gesetzt.
Wenn in russischen Talk-Shows hämisch die Möglichkeit der Bombardierung Kyjiws angedroht werden kann, so steigert das die Verzweiflung und Wut auch in der Ukraine. Und das ist ein gefährlicher Nährboden. Kriege beginnen bekanntlich nicht an Fronten, sondern in den Köpfen der Menschen, als Wille und Vorstellung.
In der ukrainischen Wata-Show des bekannten Bloggers und Abgeordneten der Poroschenko-Partei „Europäische Solidarität“ Andrej Poltawa erzählte der russische Soldat Wladimir Nitischin von seinen Abenteuern im Krieg in Syrien und in der Ukraine. Er bedauerte, dass er für das Kämpfen in der Ukraine nur normale Bezahlung erhalten habe, „wie bei Schießübungen“.
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Mehr Informationen@ Youtube „Вата Шоу“, Video mit deutschen Untertiteln
Aber er bekam eine Medaille für die „Teilnahme an Kampfhandlungen“, und er wird deshalb auch eine höhere Rente bekommen. Als Artillerist hat er „ein Quadrat gereinigt“, wie man es ihm befohlen hat. Zur Rechtfertigung erzählt er unter anderem, im ukrainischen Donbas gegen die NATO gekämpft zu haben. Er habe zwar selber keine NATO-Vertreter im Donbas gesehen, aber im Fernsehen seien sie gezeigt worden – also müssten sie wohl dagewesen sein. Am Ende des halbstündigen Gesprächs bedankt sich Andrej Poltawa bei seinem Gast aus Russland und gratuliert ihm, dass er so viel gequatscht und geprahlt habe. Sicherlich werde der russische Inlandsgeheimdienst FSB sich deshalb mit ihm noch beschäftigen. Nach der letzten Frage, ob er sich bei den Ukrainern entschuldigen wolle, bricht Wladimir das Gespräch ab.
Viele solcher Shows erhalten bei YouTube oft mehrere hunderttausend Likes. Sowohl in der Ukraine als auch in Russland wissen deswegen viele, dass im Donbas nicht nur einheimische “Separatisten” gegen die ukrainische Armee kämpfen. Sie wissen, dass dieser Krieg von russischen Kräften organisiert und finanziert wird.
Anders als Deutschland haben westliche Staaten wie die Baltischen, Polen, Großbritannien oder Kanada die ukrainische Armee mit militärischer Ausrüstung unterstützt. Das Recht auf Selbstverteidigung wird dort anders gesehen als in weiten Teilen der deutschen Politik und Öffentlichkeit. Es bleibt die Frage, wie dem Bösen begegnet werden kann und muss. Das “Nie wieder Krieg” ist eine wichtige Selbstverpflichtung, nie zum Aggressor zu werden. Diese Selbstverpflichtung erwuchs aus den unvorstellbaren Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Frage jedoch, wie und mit welchen Mitteln jene zu schützen seien, die zu Unrecht angegriffen werden und die Opfer zu werden drohen, diese Frage stellt sich immer wieder neu.
Mit dem Zerfall Jugoslawiens und den Verbrechen der serbischen Extremisten auf dem Balkan mussten beispielsweise die Grünen sich dieser Frage stellen. Eine, die sich der Bitte nach Schutz oder Ausstattung zur Selbstverteidigung stellen musste, war die junge Abgeordnete Marieluise Beck. Sie schrieb: „Warum ich keine Pazifistin bin“. Ehrlicher wäre gewesen zu sagen “Warum ich keine Pazifistin “mehr” bin“.
„Noch in den 1980er-Jahren habe ich auf jedem „Antikriegspodium“ vertreten, mich solle man nie und nimmer mit militärischen Mitteln verteidigen. Ich würde lieber ein weißes Betttuch heraushängen und mit den „Feinden“ verhandeln – um des Überlebens willen. Heute schäme ich mich für solche unbedachten Worte. Denn wie können ausgerechnet wir als Angehörige einer Nation, die zwischen 1933 und 1945 alle menschlichen Werte außer Kraft gesetzt hatte, so tun, als gäbe es keine Bedrohungen, denen wir – zum Schutz von potentiellen Opfern und zur Verteidigung des Völkerrechts – notfalls auch mit militärischer Gewalt entgegentreten müssen?“
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