Ukraine – Mythen, Heimat, Freiheit

© Pavel Kosenko

Ein Essay über Kli­schees und den Drang der Ukrai­ner nach Frei­heit und Selbst­be­stim­mung von Chris­toph Brumme.

Je nach Kli­schee soll die Ukraine ent­we­der ein gespal­te­nes Land sein oder gar nicht exis­tie­ren. Gespal­ten oder zer­ris­sen soll sie angeb­lich in West und Ost sein, in einen ukrai­nisch­spra­chi­gen und rus­sisch­spra­chi­gen Teil. Gar nicht exis­tie­ren soll sie als Nation, wie etwa der His­to­ri­ker Jörg Bab­e­row­ski oder der ehe­ma­lige Bun­des­kanz­ler Helmut Schmidt behaup­te­ten. Der ukrai­ni­schen Kultur gesteht man dann nur den Status einer Bau­ern­kul­tur ohne inter­na­tio­nal bedeu­tende Lite­ra­tur zu. Viele ukrai­ni­sche Autoren wie Nikolai Gogol, Anton Tschechow oder Michail Bul­ga­kow haben ihre Werke auf Rus­sisch geschrie­ben, aus unter­schied­li­chen, auch oppor­tu­nis­ti­schen und kom­mer­zi­el­len Gründen. Selbst die Werke des ukrai­ni­schen Natio­nal­dich­ters Taras Schewtschenko sind im Ausland kaum bekannt.

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

Keine Lite­ra­tur, kein Staat, erklärte mir deshalb kürz­lich in Poltawa die Tochter eines sowje­ti­schen Offi­ziers, deren Vater mich bei unserem Treffen mit Hitler-Gruß begrüßt hatte. Ihr sieb­zehn­jäh­ri­ger Sohn ver­steht sich als Leni­nist oder Trotz­kist, nach jah­re­lan­ger Beries­lung durch rus­si­sche Fern­seh­pro­gramme. Als Heimat akzep­tiert sie ledig­lich ihre Hei­mat­sied­lung, aber für die Ukraine wünscht sie sich eine „Rus­si­sche Welt“. In Russ­land ist sie nie gewesen, aber sie glaubt den Fern­seh­be­rich­ten, wonach in Russ­land alles viel sau­be­rer und schöner ist als in der Ukraine.

„Die Ukrai­ner sind sich ja selbst nicht einig“, schrie mir einmal eine deut­sche Auto­fah­re­rin am Stadt­rand von Poltawa ins Gesicht. Ihr VW-Minibus stand vor der McDo­nalds-Filiale und hatte einen platten Reifen. Ich hielt mit dem Fahrrad an. „Die deut­schen Medien lügen!“, schrie sie, nachdem ich nur gefragt hatte, wie es ihr in der Ukraine gefalle. Sie war schon einige Tage durchs Land gereist. In der Sowjet­union hatte sie einige Jahre besucht. Damals habe doch Völ­ker­freund­schaft geherrscht, sie habe es ja selbst erlebt. Jetzt besuchte Freunde aus dieser Zeit, offen­bar eben­falls ent­täuschte Kom­mu­nis­ten, die der Sowjet­union nach­trau­er­ten und ihre Gäste aus Deutsch­land mit Hit­ler­gruß emp­fin­gen. Weil das ja so lustig ist, so typisch deutsch, als Kom­pli­ment gedacht.
„Natür­lich sind nicht alle Ukrai­ner glei­cher Meinung, es sind ja keine Faschis­ten oder Kom­mu­nis­ten“, ant­wor­tete ich ihr.
„Lügen­presse! Sie haben Putin falsch dar­ge­stellt! In der Tages­schau wurde behaup­tet, dass niemand mit ihm in Aus­tra­lien spre­chen wollte. Er saß angeb­lich allein am Tisch. Aber das stimmt nicht! Da saßen noch zwei andere Politiker!“
Ich konnte ihr nicht klar­ma­chen, dass ich nicht für die Tages­schau arbeite.

Trauer nach der UdSSR?

Natür­lich gibt es in der Ukraine Men­schen, die den alten Zeiten nach­trau­ern, als es keine freien Berufe gab, als Rechts­an­wälte nicht gebraucht wurden und als alle guten Befehle von oben kamen. Mil­lio­nen Men­schen haben Ver­wandte oder Freunde in Russ­land, oft reden sie nicht mehr mit­ein­an­der, weil sie auf unter­schied­li­chen Kometen leben. Im Fer­ne­hen Russ­lands wundert und empört man sich allen Ernstes, warum Russ­land in der Ukraine jeden Tag als Aggres­sor bezeich­net wird. Man glaubt, es sei Satire, aber es ist ernst gemeint. Unzäh­lige Beweise für „Urlau­ber aus Russ­land“, die auf ukrai­ni­schen Ter­ri­to­rium kämpf­ten und starben, aber „Es sind nicht Unsere“, „Wir“ sind da nicht! Grotesk, aber wahr. Sie haben Watte im Kopf, sagen die ukrai­ni­schen Verwandten.

Die über­große Mehr­heit der Ukrai­ner will in Ruhe und Frieden in ihrem eigenen Land leben. Nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union hatten 91 Prozent der Ukrai­ner für die Unab­hän­gig­keit und Eigen­stän­dig­keit ihres Landes gestimmt, selbst im angeb­lich Russ­land-freund­li­chen Donbas noch 84 Prozent. Als Russ­land im Jahre 2014 den ver­deck­ten Krieg gegen die Ukraine begann, ent­schie­den sich etwa 80 Prozent der Men­schen aus den besetz­ten Gebie­ten für die Flucht in die Ukraine, nicht nach Russ­land. Natür­lich auch aus rein prak­ti­schen Gründen, wegen der Ren­ten­an­sprü­che und um die stres­si­gen büro­kra­ti­schen Pro­ze­du­ren in Russ­land nicht durch­lau­fen zu müssen.

Heimat als das sinn­lich Erlebbare

Für Ukrai­ner gilt, was für alle Men­schen auf der Welt gilt – als Heimat wird zumeist die eigene Umge­bung emp­fun­den. Die Familie, das Haus, das Dorf, die Land­schaft, der Dialekt, die Region, also das sinn­lich Erleb­bare. Dann erst der Staat, der Kon­ti­nent oder die Mensch­heit. Und wer Mensch­heit sagt, betrügt, das erkannte schon Fried­rich Nietzsche.

So wie sich in Bayern viele Men­schen als Bayern fühlen, fühlen sich viele Men­schen in Poltawa als Pol­taw­schini. Sie lieben die kuli­na­ri­schen Spe­zia­li­tä­ten wie Pol­taw­ski Galuschki oder Bier aus Dikanka, die regio­na­len Feste wie den berühm­ten Sor­onschin­skij Jahrm­akt, die Fluss­tä­ler der Worskla, die beson­dere Men­ta­li­tät, den Sinn für schwar­zen Humor. Wer Wunder erleben will, kann bei­spiels­weise an den Dnipro fahren und die Kirch­türme einer geflu­te­ten Stadt sehen oder in der Luft schwe­bende Ske­lette, weil der halbe Fried­hof in den Fluss gerutscht ist.
Men­schen aus Poltawa lachen und staunen über die teuf­li­schen Intri­gen und ver­rück­ten Zufälle im Alltag, was man „Gogo­lew­schina“ nennt, benannt nach dem Dichter Nikolai Gogol, der hier zwei Jahre lang das Gym­na­sium besuchte und seine ersten Joints rauchte.

Poltawa als Kulturhauptstadt

Man ist wie überall stolz auf die eigenen Mythen – keine andere ukrai­ni­sche Stadt außer Kiew habe so viele Genies her­vor­ge­bracht, es soll die Kul­tur­haupt­stadt der Ukraine sein, das Herz und das Zentrum der ukrai­ni­schen Kultur. Dabei ist die Grenze zu Russ­land nur eine Tages­reise mit dem Fahrrad ent­fernt. Doch nir­gendwo sonst werde solch ein reines Ukrai­nisch gespro­chen außer viel­leicht in Lwiw und in den Kar­par­ten, behaup­ten die Einheimischen.
Wer als Aus­län­der durchs Land radelt und Poltawa als Rei­se­ziel angibt, dem wird auf die Schul­ter geklopft und gra­tu­liert. Poltawa ist so, wie die Ukraine sein möchte, bekommt man von Men­schen zu hören, die noch nie in Poltawa gewesen sind.
Die Geschichte der Stadt ist tat­säch­lich ein­zig­ar­tig, denn es gibt ja keine Kopie von Poltawa. Geschirr aus Poltawa wurde schon nach Peking expor­tiert, als Moskau noch keine Stadt, sondern nur ein Sumpf­ge­biet war. Manche Pol­taw­schani sind über­zeugt davon, dass bei Poltawa die Argo­nau­ten gelan­det sind und den hei­mi­schen Wein gekos­tet und gelobt haben. Die Kosaken prak­ti­zier­ten schon Basis-Demo­kra­tie, als man in Deutsch­land noch gar nicht wusste, was das ist.

Kosaken aus Poltawa als Symbol der Freiheit

An die ver­lo­rene Schlacht bei Poltawa erin­nert unter anderem die haus­hohe Figur des ukrai­ni­schen Kosaken-Hetmans Iwan Masepa. Sie hatte nach ihrer Fer­tig­stel­lung etliche Jahre in einem Depot gestan­den und ist erst vor zwei Jahren von Prä­si­dent Poro­schenko ein­ge­weiht worden. Eigent­lich sollte sie schon zum drei­hun­dert­jäh­ri­gen Jubi­läum der Schlacht im Jahre 2007 der Öffent­lich­keit prä­sen­tiert werden. Doch die dama­lige Regie­rungs­par­tei unter Prä­si­dent Janu­ko­wytsch nahm Rück­sicht auf Emp­find­lich­kei­ten in Russland.
Denn Iwan Ste­pano­witsch Masepa gilt in Russ­land als Ver­rä­ter, in der Ukraine als Kämpfer für Frei­heit und Unab­hän­gig­keit. Er war der letzte frei gewählte Anfüh­rer der ukrai­ni­schen Kosaken. Zuerst hatte er in einer „sla­wi­schen Allianz“ zusam­men mit Peter I. gegen tür­ki­sche und schwe­di­sche Truppen gekämpft. Als der rus­si­sche Zar die Kosaken aber immer stärker wie Vasal­len behan­delte und ihnen Befehle erteilte, ver­bün­dete sich Masepa mit den Schweden.

Es war der gleiche Kon­flikt, der zum jet­zi­gen Krieg im Donbas führte. Russ­land will keine gleich­be­rech­tig­ten Bezie­hun­gen mit den Ukrai­nern, sondern Unter­wer­fung. Die Ukrai­ner wollen ihre Frei­heit und Selbst­be­stim­mung nicht auf­ge­ben und suchen sich deshalb Ver­bün­dete im Westen.
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