Ukraine – Mythen, Heimat, Freiheit
Ein Essay über Klischees und den Drang der Ukrainer nach Freiheit und Selbstbestimmung von Christoph Brumme.
Je nach Klischee soll die Ukraine entweder ein gespaltenes Land sein oder gar nicht existieren. Gespalten oder zerrissen soll sie angeblich in West und Ost sein, in einen ukrainischsprachigen und russischsprachigen Teil. Gar nicht existieren soll sie als Nation, wie etwa der Historiker Jörg Baberowski oder der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt behaupteten. Der ukrainischen Kultur gesteht man dann nur den Status einer Bauernkultur ohne international bedeutende Literatur zu. Viele ukrainische Autoren wie Nikolai Gogol, Anton Tschechow oder Michail Bulgakow haben ihre Werke auf Russisch geschrieben, aus unterschiedlichen, auch opportunistischen und kommerziellen Gründen. Selbst die Werke des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko sind im Ausland kaum bekannt.
Keine Literatur, kein Staat, erklärte mir deshalb kürzlich in Poltawa die Tochter eines sowjetischen Offiziers, deren Vater mich bei unserem Treffen mit Hitler-Gruß begrüßt hatte. Ihr siebzehnjähriger Sohn versteht sich als Leninist oder Trotzkist, nach jahrelanger Berieslung durch russische Fernsehprogramme. Als Heimat akzeptiert sie lediglich ihre Heimatsiedlung, aber für die Ukraine wünscht sie sich eine „Russische Welt“. In Russland ist sie nie gewesen, aber sie glaubt den Fernsehberichten, wonach in Russland alles viel sauberer und schöner ist als in der Ukraine.
„Die Ukrainer sind sich ja selbst nicht einig“, schrie mir einmal eine deutsche Autofahrerin am Stadtrand von Poltawa ins Gesicht. Ihr VW-Minibus stand vor der McDonalds-Filiale und hatte einen platten Reifen. Ich hielt mit dem Fahrrad an. „Die deutschen Medien lügen!“, schrie sie, nachdem ich nur gefragt hatte, wie es ihr in der Ukraine gefalle. Sie war schon einige Tage durchs Land gereist. In der Sowjetunion hatte sie einige Jahre besucht. Damals habe doch Völkerfreundschaft geherrscht, sie habe es ja selbst erlebt. Jetzt besuchte Freunde aus dieser Zeit, offenbar ebenfalls enttäuschte Kommunisten, die der Sowjetunion nachtrauerten und ihre Gäste aus Deutschland mit Hitlergruß empfingen. Weil das ja so lustig ist, so typisch deutsch, als Kompliment gedacht.
„Natürlich sind nicht alle Ukrainer gleicher Meinung, es sind ja keine Faschisten oder Kommunisten“, antwortete ich ihr.
„Lügenpresse! Sie haben Putin falsch dargestellt! In der Tagesschau wurde behauptet, dass niemand mit ihm in Australien sprechen wollte. Er saß angeblich allein am Tisch. Aber das stimmt nicht! Da saßen noch zwei andere Politiker!“
Ich konnte ihr nicht klarmachen, dass ich nicht für die Tagesschau arbeite.
Trauer nach der UdSSR?
Natürlich gibt es in der Ukraine Menschen, die den alten Zeiten nachtrauern, als es keine freien Berufe gab, als Rechtsanwälte nicht gebraucht wurden und als alle guten Befehle von oben kamen. Millionen Menschen haben Verwandte oder Freunde in Russland, oft reden sie nicht mehr miteinander, weil sie auf unterschiedlichen Kometen leben. Im Fernehen Russlands wundert und empört man sich allen Ernstes, warum Russland in der Ukraine jeden Tag als Aggressor bezeichnet wird. Man glaubt, es sei Satire, aber es ist ernst gemeint. Unzählige Beweise für „Urlauber aus Russland“, die auf ukrainischen Territorium kämpften und starben, aber „Es sind nicht Unsere“, „Wir“ sind da nicht! Grotesk, aber wahr. Sie haben Watte im Kopf, sagen die ukrainischen Verwandten.
Die übergroße Mehrheit der Ukrainer will in Ruhe und Frieden in ihrem eigenen Land leben. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatten 91 Prozent der Ukrainer für die Unabhängigkeit und Eigenständigkeit ihres Landes gestimmt, selbst im angeblich Russland-freundlichen Donbas noch 84 Prozent. Als Russland im Jahre 2014 den verdeckten Krieg gegen die Ukraine begann, entschieden sich etwa 80 Prozent der Menschen aus den besetzten Gebieten für die Flucht in die Ukraine, nicht nach Russland. Natürlich auch aus rein praktischen Gründen, wegen der Rentenansprüche und um die stressigen bürokratischen Prozeduren in Russland nicht durchlaufen zu müssen.
Heimat als das sinnlich Erlebbare
Für Ukrainer gilt, was für alle Menschen auf der Welt gilt – als Heimat wird zumeist die eigene Umgebung empfunden. Die Familie, das Haus, das Dorf, die Landschaft, der Dialekt, die Region, also das sinnlich Erlebbare. Dann erst der Staat, der Kontinent oder die Menschheit. Und wer Menschheit sagt, betrügt, das erkannte schon Friedrich Nietzsche.
So wie sich in Bayern viele Menschen als Bayern fühlen, fühlen sich viele Menschen in Poltawa als Poltawschini. Sie lieben die kulinarischen Spezialitäten wie Poltawski Galuschki oder Bier aus Dikanka, die regionalen Feste wie den berühmten Soronschinskij Jahrmakt, die Flusstäler der Worskla, die besondere Mentalität, den Sinn für schwarzen Humor. Wer Wunder erleben will, kann beispielsweise an den Dnipro fahren und die Kirchtürme einer gefluteten Stadt sehen oder in der Luft schwebende Skelette, weil der halbe Friedhof in den Fluss gerutscht ist.
Menschen aus Poltawa lachen und staunen über die teuflischen Intrigen und verrückten Zufälle im Alltag, was man „Gogolewschina“ nennt, benannt nach dem Dichter Nikolai Gogol, der hier zwei Jahre lang das Gymnasium besuchte und seine ersten Joints rauchte.
Poltawa als Kulturhauptstadt
Man ist wie überall stolz auf die eigenen Mythen – keine andere ukrainische Stadt außer Kiew habe so viele Genies hervorgebracht, es soll die Kulturhauptstadt der Ukraine sein, das Herz und das Zentrum der ukrainischen Kultur. Dabei ist die Grenze zu Russland nur eine Tagesreise mit dem Fahrrad entfernt. Doch nirgendwo sonst werde solch ein reines Ukrainisch gesprochen außer vielleicht in Lwiw und in den Karparten, behaupten die Einheimischen.
Wer als Ausländer durchs Land radelt und Poltawa als Reiseziel angibt, dem wird auf die Schulter geklopft und gratuliert. Poltawa ist so, wie die Ukraine sein möchte, bekommt man von Menschen zu hören, die noch nie in Poltawa gewesen sind.
Die Geschichte der Stadt ist tatsächlich einzigartig, denn es gibt ja keine Kopie von Poltawa. Geschirr aus Poltawa wurde schon nach Peking exportiert, als Moskau noch keine Stadt, sondern nur ein Sumpfgebiet war. Manche Poltawschani sind überzeugt davon, dass bei Poltawa die Argonauten gelandet sind und den heimischen Wein gekostet und gelobt haben. Die Kosaken praktizierten schon Basis-Demokratie, als man in Deutschland noch gar nicht wusste, was das ist.
Kosaken aus Poltawa als Symbol der Freiheit
An die verlorene Schlacht bei Poltawa erinnert unter anderem die haushohe Figur des ukrainischen Kosaken-Hetmans Iwan Masepa. Sie hatte nach ihrer Fertigstellung etliche Jahre in einem Depot gestanden und ist erst vor zwei Jahren von Präsident Poroschenko eingeweiht worden. Eigentlich sollte sie schon zum dreihundertjährigen Jubiläum der Schlacht im Jahre 2007 der Öffentlichkeit präsentiert werden. Doch die damalige Regierungspartei unter Präsident Janukowytsch nahm Rücksicht auf Empfindlichkeiten in Russland.
Denn Iwan Stepanowitsch Masepa gilt in Russland als Verräter, in der Ukraine als Kämpfer für Freiheit und Unabhängigkeit. Er war der letzte frei gewählte Anführer der ukrainischen Kosaken. Zuerst hatte er in einer „slawischen Allianz“ zusammen mit Peter I. gegen türkische und schwedische Truppen gekämpft. Als der russische Zar die Kosaken aber immer stärker wie Vasallen behandelte und ihnen Befehle erteilte, verbündete sich Masepa mit den Schweden.
Es war der gleiche Konflikt, der zum jetzigen Krieg im Donbas führte. Russland will keine gleichberechtigten Beziehungen mit den Ukrainern, sondern Unterwerfung. Die Ukrainer wollen ihre Freiheit und Selbstbestimmung nicht aufgeben und suchen sich deshalb Verbündete im Westen.
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