Fotografin mit magischen Augen – Interview mit Viktoria Sorochinski
Sie hat in vielen Ländern gelebt, doch sie ist immer wieder in ukrainische Dörfer zum Fotografieren zurückgekehrt. Die alten Menschen dort sind für sie die letzten verbliebenen Zeugnisse der einst magischen und lebendigen Kultur.
Viktoria Sorochinski ist eine in der Ukraine geborene kanadische Künstlerin-Fotografin. Sie erforscht Themen wie Intimität, Familiendynamik, Traditionen, Kultur und Mythologie. In ihrem Langzeitprojekt „Lands of No-Return“ porträtiert sie die letzten Überreste der authentischen ukrainischen Dörfer und ihrer alten Bewohner.
Ukraine verstehen: Du wurdest in der ukrainischen Stadt Mariupol am Asowschen Meer geboren, und im Alter von vier Jahren zogen deine Eltern mit dir nach Magadan in den Fernen Osten, beinahe ans Ende der Welt. Mit dem Zusammenbruch der UdSSR seid ihr 1990 nach Israel ausgewandert. Dann hast du in Montreal und New York Kunst studiert, inzwischen lebst du in Berlin. In die Ukraine bist du immer wieder zurückgekehrt, unter anderem um hier die Dörfer rund um die Hauptstadt zu fotografieren. Deine Fotos loten oft die Grenzen zwischen Realität und Fantasie aus. Nimmst du die Welt als verzaubert wahr, weil du schon an so vielen spektakulären Orten gelebt hast?
Viktoria Sorochinski: Ich denke, dass sicherlich mein Migrationshintergrund meine Sicht und Wahrnehmung dieser Welt beeinflusst. Die Welt als einen verwunschenen Ort zu sehen, ist vielleicht auch eine Art Abwehrmechanismus für jemanden wie mich, der sein ganzes Leben lang ein Immigrant war. Ich fühle mich immer ein wenig deplatziert. Ich denke, aus diesem Grund bin ich teilweise Beobachter und teilweise Schöpfer meiner eigenen Realität. Aber gleichzeitig hat es sicher auch mit meiner Persönlichkeit zu tun, denn tief im Inneren bin ich immer noch ein Kind, und deshalb bin ich in der Lage, die Magie um mich herum zu sehen. Als Kind bin ich mit viel Fantasie aufgewachsen, habe Märchen auf Schallplatten gehört und mir endlose Geschichten ausgedacht.
Die persönlichste Arbeit
Ukraine verstehen: Ist es Nostalgie, dass du diese Menschen in den ukrainischen Dörfern fotografierst? Sehnst du dich nach einer heilen Welt der Kindheit zurück?
Viktoria Sorochinski: Für mich ist diese Serie „Lands of No-Return“ eine Art Hommage an die Vergangenheit. Dieses Projekt ist das persönlichste von allen meinen Arbeiten, weil es in direktem Zusammenhang mit meinem Großvater und meiner Urgroßmutter steht, die in einem dieser Dörfer geboren und begraben sind. Aber auch wenn dieses Projekt als persönliche Reise begann, wurde mir, je mehr ich daran arbeitete, klar, dass das Festhalten und Gedenken an diese Menschen und Orte einen größeren Wert hat. Sie sind die letzten verbliebenen Zeugnisse der einst magischen und lebendigen Kultur, die bald nur noch aus den Geschichtsbüchern bekannt sein wird.
Ukraine verstehen: Dein Großvater war selbst ein begeisterter Fotograf. Das war damals in einem ukrainischen Dorf sicherlich sehr ungewöhnlich? Und möglicherweise auch gefährlich? Was hat er fotografiert? Hat er einen eigenen Stil entwickeln können?
Viktoria Sorochinski: Mein Großvater war nicht nur Fotograf, er war ein multidisziplinärer Künstler, er malte, schuf Skulpturen, spielte Theater und führte Regie, er spielte auch Akkordeon. Als er klein war, baute er sich selbst ein Radio zusammen und hörte sich Theaterstücke an und führte sie dann den Dorfbewohnern vor. Das alles war natürlich höchst ungewöhnlich für einen Dorfjungen. Die Nachbarn im Dorf lachten und verurteilten sogar seine Mutter (meine Urgroßmutter) dafür, dass sie ihn so sehr „verwöhnte“, indem sie all diesen „Unsinn“ unterstützte. Meine Urgroßmutter, eine Dorffrau, ohne höhere Bildung, war eine sehr weise Frau. Sie bemerkte, dass ihr Sohn kein gewöhnliches Kind war, und sie tat alles, um ihm zu helfen, sich zu entwickeln und seine künstlerischen Talente zu entfalten. Sie tauschte sogar Eier und andere Waren aus ihrem Hof und Garten gegen Bleistifte, Papier und andere künstlerische Materialien für meinen Großvater.
Als Fotograf interessierte er sich sehr für die Menschen, insbesondere für die Dorfbewohner. Er sah eine besondere Schönheit in ihnen, und auch in der ukrainischen Landschaft, die die Dörfer umgab. Ich denke, dass ich meine romantische Vision dieser Orte und Menschen zu einem großen Teil von meinem Großvater bekommen habe, wir waren auf einer spirituellen Ebene sehr verbunden, auch wenn ich erst 11 Jahre alt war, als er starb. Ich denke immer noch oft an ihn. Er hat auch sehr viel seine Mutter fotografiert, und er träumte davon, eines Tages eine Ausstellung mit ihren Porträts zu machen. Tatsächlich plante er diese Ausstellung noch kurz bevor er an Krebs starb.
Im Schatten des Krieges
Ukraine verstehen: Die Ukraine begeht in diesem Jahr den 30. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit. Was erzählen dir die alten Menschen, die du porträtierst, über ihr Leben? Eine wirklich glückliche Epoche haben sie ja wohl leider nicht erleben können?
Viktoria Sorochinski: Der aktuelle Konflikt in der Ukraine lenkt die Aufmerksamkeit aller auf die Kriegsgebiete, die Soldaten und die Familien, die direkt vom Krieg betroffen sind. Es gibt jedoch einen großen Teil der ukrainischen Bevölkerung, der in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Menschen, deren Leben vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs begann, die die Härten des sowjetischen Regimes überstanden haben und die jetzt, in ihren letzten Lebensjahren, erneut ums Überleben kämpfen müssen. Diese alte Generation ist stark betroffen, vor allem diejenigen, die in Dörfern leben, weil sie jetzt mehr als je zuvor von der Regierung und oft auch von ihren eigenen Familien im Stich gelassen werden. Außerdem verlieren sie auch immer wieder ihre Söhne und Enkel, die in diesem sinnlosen Krieg kämpfen.
Ukraine verstehen: Deine Fotos erzählen oft Geschichten, und sie verführen dazu, sich zu ihnen Geschichten auszudenken. Du hältst nicht nur zufällige Momente fest, es gibt auch ein Davor und Danach. Warum ist es dir so wichtig, über das Dargestellte gedanklich hinauszugehen? Brauchst du ein theoretisches Konzept zum Fotografieren?
Viktoria Sorochinski: Ich habe mich schon immer dafür interessiert, was unter der Oberfläche des Sichtbaren liegt. Ich bin nicht daran interessiert, nur zufällige schöne Momente einzufangen, denn ich möchte, dass die Betrachter mit mir in ihr Unterbewusstsein reisen und ihre Vorstellungskraft, ihre Erinnerungen und ihre Emotionen erforschen.
Ich glaube an das kollektive Wissen – ein philosophisches Konzept, das von der Idee spricht, dass alle Menschen durch ein bestimmtes Ahnengedächtnis oder Wissen verbunden sind, aus dem wir oft unsere Assoziationen oder unsere Wahrnehmung dieser Welt schöpfen.
Deshalb arbeite ich in meiner Arbeit auch oft mit Symbolen, zu denen Menschen aus verschiedenen Kulturen auf ihre Weise Zugang finden können, auch wenn sie für sie letztlich etwas anderes bedeuten würden.
Ich denke, dass die Fotografie ein ziemlich einzigartiges Medium ist, das es unserer Vorstellungskraft erlaubt, eine Erzählung von „vorher und nachher“ zu schaffen, und das ist für mich die Hauptmagie dieses Mediums.
Das ist für mich der größte Zauber dieses Mediums. Auch weil die Fotografie in der Vergangenheit als ein Medium angesehen wurde, das die „wahre Realität“ einfängt und dokumentiert, ist sie in unserer Wahrnehmung bis heute so geblieben, auch wenn wir wissen, wie leicht sie manipuliert werden kann. Und dieses Spiel zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem, was sichtbar ist, und dem, was unter der Oberfläche bleibt, ist das, was mich als Künstler am meisten interessiert, zu erforschen. Und natürlich habe ich mich auch immer für Psychologie und Philosophie interessiert und lasse dieses Wissen und meine persönlichen Beobachtungen gerne in meine Arbeit einfließen.
Ukraine verstehen: Viele deiner Fotos zeigen sehr intime Momente. Wie erreichst du es, dass deine Modelle dir vertrauen?
Viktoria Sorochinski: Ja, es stimmt, ich arbeite oft sehr intim mit Menschen und porträtiere sie in Momenten, die etwas Persönliches über sie preisgeben. Es ist auch für mich manchmal überraschend zu sehen, dass Menschen mir ihre Intimität anvertrauen, vor allem wenn es Menschen sind, die ich zum ersten Mal treffe. Ich vermute, einer der Gründe dafür ist, dass ich wirklich versuche, mit jeder Person, die ich fotografiere, auf einer tieferen Ebene in Kontakt zu treten. Es ist für mich sehr wichtig, eine solche Verbindung zu meinen Motiven aufzubauen. Außerdem arbeite ich normalerweise in einer Art „langsamen Modus“, ohne die Personen, die ich fotografiere, unter Druck zu setzen, und ich arbeite immer alleine, nie mit Assistenten, selbst wenn diese sehr hilfreich sein könnten, und ich verwende meist vorhandenes/natürliches Licht. Denn all diese Faktoren erlauben es mir, in einer engeren und intimeren Verbindung mit denjenigen zu bleiben, die ich fotografiere, ohne Unterbrechung oder eine „fremde“ Energie, die die Verbindung und den Fluss bremsen könnte.
Die weniger romantische Seite des Jobs
Ukraine verstehen: Du hast an 70 Ausstellungen in 21 Ländern in Europa, Nord- und Südamerika und Asien teilgenommen und warst Gewinnerin und Finalistin zahlreicher internationaler Wettbewerbe, Stipendien und Auszeichnungen. Dein Traumhaus sollte wahrscheinlich fliegen können? Wie kann man heute mit dem Fotografieren Geld verdienen? Zeigst du viele deiner Fotos im Internet?
Viktoria Sorochinski: Ich fühle mich manchmal „in der Luft schwebend“, weil ich an so vielen Orten gelebt habe und weil ich so viel für Ausstellungen und Projekte reise. Auf eine eigenartige Art und Weise denke ich, dass ich ein „fliegendes Zuhause“ habe, weil ich mir antrainiert habe, mich wohl zu fühlen, wo auch immer ich hingehe. Ich hatte viele Jahre lang das Gefühl, nirgendwo hinzugehören, und nach einiger Zeit hat sich dieses Gefühl in die entgegengesetzte Richtung verändert, jetzt habe ich das Gefühl, dass mein Zuhause immer bei mir ist, egal wo ich hingehe.
Was das Geldverdienen angeht, so habe ich ein paar Einnahmequellen. Ich unterrichte Fotografie in verschiedenen Institutionen und auf Fotofestivals, die mich einladen, Workshops zu geben. Und vor kurzem, während der Corona-Zeit, habe ich angefangen, selbstständig Online-Workshops zu geben. Und diese Arbeit macht mir sehr viel Spaß, weil ich oft Studenten aus der ganzen Welt in einer Gruppe habe, was faszinierend und sehr bereichernd ist. Natürlich verkaufe ich auch meine Fotografien, und gelegentlich mache ich auch private Auftragsporträts sowie Aufträge für Zeitschriften.
Ich zeige meine Arbeiten auch online, ich habe eine Website: www.viktoria-sorochinski.com
Und auch auf meinem Instagram-Account, den ich seit dem ersten Lockdown aktiver nutze, da ich dort mein Selbstporträt-Projekt „INsideOUTside“ poste, das komplett während des ersten COVID-19 Lockdowns in Berlin entstanden ist.
Darüber hinaus hatte ich mehrere Veröffentlichungen, Interviews und Online-Ausstellungen, daher ist meine Arbeit definitiv aktiv online präsent.
Ukraine verstehen: Wie wichtig ist die Technik, die Kamera? Welche Eigenschaften sollte eine Kamera haben?
Viktoria Sorochinski: Die Kamera ist ein Werkzeug, sie ist nicht der wichtigste Faktor bei der Erstellung interessanter und aussagekräftiger Bilder (wie manche Leute denken), denn wenn man kein Auge für die Komposition hat, keine persönliche Vision oder wenn man nichts Interessantes zu sagen hat, wird keine Kamera der Welt das korrigieren können. Aber natürlich hat sie eine gewisse Bedeutung, weil sie den Arbeitsablauf und auch die endgültige Qualität der Bilder beeinflusst. Ich denke, dass die Vorlieben für jeden Fotografen unterschiedlich sind, je nach Art der Arbeit, die er macht. Ich persönlich habe bis jetzt mit mehreren verschiedenen Kameras gearbeitet, und die meisten davon waren analoge Mittelformatkameras, da ich erst vor etwa 3–4 Jahren auf digital umgestiegen bin. Aber im Moment bin ich total verliebt in die Leica Q2 Kamera, die ich seit fast 3 Jahren für meine Arbeit verwende. Was ich an dieser Kamera liebe, ist, dass sie sehr klein und tragbar ist, ich kann sie immer mit mir herumtragen, wenn ich sie brauche. Sie ist sehr einfach zu bedienen, ohne zusätzliche Tasten und Funktionen, die den Arbeitsablauf stören könnten. Und gleichzeitig hat sie ein erstaunliches 28-mm-Objektiv mit Makro-Option und eine Auflösung von 47 Megapixeln, was es mir ermöglicht, sowohl Umgebungsporträts als auch Landschaften zu fotografieren und meine Bilder für Ausstellungen so groß zu drucken, wie ich möchte. Ich sage natürlich nicht, dass dies die beste Kamera da draußen ist. Aber für mich scheint sie im Moment die perfekte Wahl zu sein.
Das Rätsel Poltawa – eine Art Ahnenerinnerung
Ukraine verstehen: Du hast über Poltawa gesagt, du hättest hier das Gefühl, hier schon früher gewesen zu sein. Was ist hier einzigartig, besonders? Scheint in der Ukraine ein besonderes Licht?
Viktoria Sorochinski: In Poltawa habe ich in den letzten 3 Jahren an einem neuen Projekt „Poltava Neverland“ gearbeitet. Es ist noch nicht vollständig veröffentlicht, aber es wird bald zu sehen sein. Es wurde in diesem Jahr für den Leica Oskar Barnack Award nominiert. Im September 2021 wird eine große Ausstellung dieses Projekts stattfinden.
Poltawa hat für mich etwas ganz Besonderes, ich glaube, ich habe das bei keinem anderen Ort so empfunden. Vielleicht ist das eine Art Ahnenerinnerung, denn meine Großmutter wurde dort geboren. Als ich das erste Mal nach Poltawa kam, hatte ich ein klares Gefühl, dass ich mit diesem Ort vertraut bin und auch all die Menschen, die ich traf und mit denen ich interagierte, fühlten sich wie alte Freunde an. Ich kann es mir immer noch nicht erklären, es bleibt ein Rätsel für mich. Ich bin von diesem Ort jedes Mal, wenn ich ihn besuche, mehr und mehr fasziniert. Was die Ukraine im Allgemeinen angeht, ja, ich denke, es gibt definitiv etwas Besonderes für mich in diesem Land. Die Landschaft/Natur, die Menschen, alles ist etwas anders und liegt mir mehr am Herzen, ungeachtet der Tatsache, dass ich die meiste Zeit meines Lebens im Ausland lebe. Ich bleibe immer mit diesem Land verbunden. Ich denke, vor allem wegen meiner Kindheitserinnerungen und meiner Verbindung zu meinem Großvater.
Ukraine verstehen: Vielen Dank für diese zauberhaften Antworten!
Die Fragen stellte Christoph Brumme.
Viktoria Sorochinski verließ 1990 im Alter von 11 Jahren mit ihrer Familie die Ex-UdSSR. Nachdem sie in Israel gelebt hatte, setzte sie ihr Studium der Bildenden Kunst in Montreal-Kanada fort, wo sie ihr BFA-Diplom erworben hat. Im Jahr 2008 erhielt Viktoria ihren Master of Fine Arts an der New York University (NYU). Seitdem hatte sie über 70 Ausstellungen in 21 Ländern in Europa, Nord- und Südamerika und Asien. Ihre Arbeiten wurden in über 70 internationalen Publikationen veröffentlicht und rezensiert, darunter ihre Monografie „Anna & Eve“, die 2013 in Deutschland bei Peperoni Books erschienen ist. Sie ist Gewinnerin und Finalistin zahlreicher internationaler Wettbewerbe, Stipendien und Auszeichnungen, darunter der Arnold Newman Prize for New Directions in Photographic Portraiture, der Leica Oskar Barnack Award, der LensCulture Exposure Award, der Critics Choice Award, der Lucie Award (Discovery of the Year), der Felix Scholler Award, der Grand Prix Fotofestiwal Lodz, der Magenta Flash Forward, der PDN Photo Annual, der Voies Off Arles Award, der Photo London / La Fabrica Book Dummy Award, der Meitar Award, der Encontros da Emagem Prize, der J. M. Cameron Award, Visible White Photo Prize, Descubrimientos PHE, BluePrint Fellowship, und Canada Council for the Arts Grant, neben vielen anderen. Zusätzlich zu Sorochinskis künstlerischer Karriere hält sie Vorträge, Workshops und Gespräche in verschiedenen Institutionen weltweit, sowie privates Mentoring und Beratertätigkeit.
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