Religiöse und kulturelle Vielfalt in der Ukraine
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fanden viele Ukrainer Trost im Glauben. Ohne Angst vor Verfolgung und Repressionen kann sich jeder sein eigenes Ich basteln. Auf Atheisten wirkt die Suche nach Identität und Herkunft manchmal kurios.
Wir stehen am Sonntagmorgen im zentral-ukrainischen Tynivka im Hof meines Gastgebers Anatoli und trinken im Stehen den ersten Becher Kaffee. Im Schatten ist es noch kühl. Nebelschwaden ziehen über den nahen See. Anatoli hat schon die Schweine und Hühner gefüttert, ein halbes Feld umgegraben und wer weiß was noch gemacht.
Eine Gruppe Frauen geht auf der Straße vorbei, alle tragen dunkle Kleider und fest gebundene Kopftücher. Sie grüßten über den Zaun hinweg. Sonntag, Kirchenzeit. Anatoli sagt, die Frauen seien Baptistinnen, eine von ihnen sei seine Schwester. Bald kommt wieder eine Gruppe Frauen, alle grüßen einander.
Anatoli erklärt, die Frauen seien Sieben-Tags-Adventistinnen, eine von ihnen sei seine Schwester.
„Wieso gehen sie in unterschiedliche Kirchen?“, will ich wissen. „Hatten sie schon in der Kindheit unterschiedliche Glauben? Und du, gehst du nicht in die Kirche?“
Anatoli erzählt, dass seine Schwestern früher überhaupt keine Gottesdienste besucht haben. Ihre Eltern hatten sie mehr oder weniger atheistisch erzogen. Aber seit dem Ende der Sowjetunion praktizierten auch in dieser zentral-ukrainischen Siedlung immer mehr Religionsgemeinschaften ihren Glauben. Es gab hier vorher schon eine griechisch-katholische und eine ukrainische-orthodoxe Kirche für die 1500 Einwohner. Die erste Holzkirche war hier in Tynivka im Jahre 1776 erbaut worden, und die erste Fünfkuppelkirche 1833.
Unter der Herrschaft der Bolschewiki wurde die Zwangskollektivierung in der grausamsten Weise vollzogen und ein „Lenin-Kolchos“ gegründet. 600 Dorfbewohner nahmen an den Schlachten des Zweiten Weltkrieges teil, 216 von ihnen wurden getötet, 205 erhielten Orden und Medaillen. 200 junge Menschen wurden zur Arbeit nach Deutschland deportiert, nur 140 kehrten zurück.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion ermöglichte, dass sich alle ihren Glauben frei aussuchen können
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Kulturhaus geschlossen worden, in dem früher die Arbeiterinnen und Arbeiter vom Lenin-Kolchos Auszeichnungen erhalten hatten und die Kinder getanzt und gesungen hatten. Den Kolchos hatte man aufgelöst, viel Land war privatisiert worden. Das Dorf aber ist immer noch nicht an das Gasnetz angeschlossen, die Einwohner müssen Gas in Flaschen kaufen. Im Winter können viele Höfe nicht mit Autos befahren werden, also müssen die Flaschen weite Wege geschleppt oder auf Schlitten gezogen werden.
Nun wird also nicht mehr im Kulturhaus gesungen, sondern in den Kirchen. Aber Anatoli ist seinem Glauben treu geblieben, nicht an Gott zu glauben. Wie fünfhundert Kilometer weiter östlich auch Mascha in Poltawa, Tochter eines atheistischen sowjetischen Offiziers. Nachdem die Ukraine unabhängig geworden war, gab es zwei Moden, erzählt sie mir. „In der ersten Welle entdeckten viele Leute, dass sie von Aristokraten abstammen. Gestern waren sie noch Lenin-Pionier wie ich, heute schon Gräfin oder Fürstin mit königlichem Blut. Gestern noch per Du, heute schon seine Majestät oder Durchlaucht. In der zweiten Welle entdeckten viele, dass sie von Kosaken abstammen. Da ist der Nachweis schwerer, denn es gibt keine Kosaken-Register, aber ein europäisches Adels-Register.“
Nachdem das sowjetische Regime des Schreckens endete, das im Namen der absoluten Vernunft agierte, kann jeder Mensch sich ein Ich basteln und an den baptistischen oder an den adventistischen oder an griechische Götter glauben, ohne Angst vor Verfolgung und Repression zu haben. Wer sich vor Gott schuldig fühlen möchte, kann das tun, es ist eine freie Entscheidung. Es lebe die Vielfalt!
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