Porträt eines ukrainischen Nationalisten
Über ukrainische Nationalisten wird viel geredet und geschrieben. Aber wer sind diese Menschen? Wie fanatisch oder gefährlich sind sie? Christoph Brumme porträtiert einen von ihnen.
Dima hat zweifellos goldene Hände, mit ihnen spielt er die Bandura, formt er Keramiken, Geschirr und Skulpturen, baut er lustige Möbel oder Musikinstrumente. Aber das sind nur Hobbys, mit ihnen verdient er nur wenig Geld. Im Hauptberuf baut er Kamine. Der Kamin sei die älteste Erfindung der Menschheit, erzählte er gern, da das Feuer ja vom Himmel gefallen war.
Das Spielen der Bandura hat er an der Musikschule gelernt. Viele ukrainische Lieder kennt er von seinem Vater und von seinem Großvater, deren Heimat die Bukowina war. Seine Mutter hingegen stamme von Zaporishjer Kosaken ab, erzählt Dima. Seiner Meinung nach haben seine Vorfahren gleich zwei Mal gegen die Mongolen gesiegt, in den Bergen der Karpaten und in den Steppen am Dnipro. „Auch damals haben wir Ukrainer die Europäer im Westen verteidigt!“ Für Dima endet das heutige Europa und somit die Zivilisation hinter seiner Banja, denn von dort bis zur Grenze mit Russland sind nur noch etwa einhundert Kilometer Wald.
Ziemlich verblüfft war ich, als er mir lange vor der letzten Maidan-Revolution erklärte, er sei Nationalist, nicht bloß Patriot. Ich hatte in der Ukraine noch nie gehört, dass jemand sich so bezeichnete. Was sollte das heißen? Ukraine, Ukraine, über alles? Ausgerechnet ein so umfassend gebildeter Mensch wie Dima sollte so engstirnig denken?
Oskar, ein anderer Freund, erklärte, Dima sei schon immer Dissident gewesen, immer im Widerstand gegen die Sowjetisierung und Russifizierung der Ukraine. Ich konnte mit dem Begriff Nationalist nicht viel anfangen. Würde ein Deutscher sich so nennen, würde ich ihm einen Vogel zeigen und ihn verspotten. Doch Nationalismus ist in jedem Land etwas anderes. Der ukrainische ist ein Nationalismus aus Verzweiflung, quasi Notwehr angesichts der kulturellen, politischen und militärischen Hegemonie Russlands. Das begriff ich unter anderem, als mir in Russland eine ehemalige KGB-Mitarbeiterin und Leiterin eines deutschen Kulturzentrums über die Ukrainer sagte: „Ohne uns können die nicht leben. Sie brauchen unser Gas, unser Geld und unsere Führung.“ Dass die meisten Ukrainer das anders sehen, dass sie sich nicht entmündigen und nicht von Moskau aus regieren lassen wollen, ließ die Frau nicht gelten. Ukrainer, die nicht anerkennen wollten, dass sie Russen zweiter Klasse seien, kleinere, unfähige „Brüder“, seien vom Westen gekauft und manipuliert.
Es scheint, als könnte Dima Dinge vorhersehen
Dima war auch der einzige Ukrainer, der mir und unseren Freunden lange vor dem Maidan prophezeite, Russland werde die Krim okkupieren und Krieg gegen die Ukraine führen. Mir erschien das völlig absurd, unvorstellbar. Nie würden sich russische Soldaten dafür hergeben, auf Ukrainer zu schießen, davon war ich überzeugt. Solch ein Krieg würde Russland ja selbst enorm schaden, ökonomisch und moralisch. Doch ich sollte mich irren und musste lernen, dass die russische Gesellschaft liebend gern zum eigenen Nachteil handelt. Der Präsident persönlich hat dort erklärt, dass die Russen eine höher entwickelte Zivilisation haben als die Europäer, weil sie leidensfähiger seien.
Dima behauptete damals auch, der russländische Geheimdienst FSB habe schon Diversanten in die Ukraine geschickt, und die ehemaligen sowjetischen Offiziere bereiteten eine Art hybriden Krieg vor. Wir, Dimas Freunde, taten seine Horrorvisionen damals als Verschwörungstheorien ab. Heute neige ich der Meinung zu, er habe ein drittes Auge und sehe Dinge, die uns Normalsterblichen verborgen bleiben.
Episoden, wie ich sie nur aus Büchern über den Stalinismus oder aus Filmen kenne, kennt er aus den Beschreibungen der Betroffenen oder ihrer Nachfahren. Den Homo Sovieticus nennt er eine Degeneration. Die Gegenwart beschreibt er gern mit dem Begriff der Simulation. Das Bildungs- oder Kulturministerium täuscht nur vor, etwas für Bildung und Kultur zu tun. Das Handelsministerium handelt nicht, sondern erpresst die Händler. Die Polizei verhaftet die Marihuana-Farmer und Verkäufer, weil sie Konkurrenten sind. Wenn jemand betrunken Auto fährt, dann sowieso nur Polizisten. Das sind natürlich Zuspitzungen und Übertreibungen.
Humanismus hilft uns nicht gegen Putin, nicht gegen diesen hybriden Krieg
Oft sitzen wir im Cafe Minute, das ich mittlerweile seit zwölf Jahren regelmäßig besuche. Dima schon seit dreißig Jahren. Gute Freunde aus der Kneipe sind schon von uns gegangen, Friede ihren Seelen. Je mehr Wodka wir trinken, desto radikaler werden Dimas Gedanken. „Putin sucht seinen gestrigen Tag, das ist unsere stärkste Bedrohung“, erklärt er. „Humanismus hilft uns nicht gegen Putin, nicht gegen diesen hybriden Krieg. Humanismus ist nur eine Spritze in den Po. Zum Einschlafen. Euer Humanismus kann uns nicht helfen! Wir sind keine Humanisten und wir waren keine Kommunisten und wir sind auch keine Faschisten. Wir sind keine Polen, keine Russen, keine Armenier. Wir sind Ukrainer. Mit unseren Seelen, mit unseren Wurzeln. Wir sind keine Diebe, wir wollen kein Land okkupieren und nicht zum Kreml marschieren. Oder doch? Nur, wenn es sein muss. Wenn der Kreml uns nicht schlafen lässt. Warum wurden in dieser Straße so viele Juweliergeschäfte eröffnet? Wo kommt das Geld her? Wer dient, und wer verdient an der Front? Stell dir vor, du sollst für zehntausend Griwna (330 Euro) dein Leben riskieren.“
Dann erzählt er vom Vatikan-Museum und von der Bibel und fragt, warum Jesus für die Mächtigen gefährlich war. „Was wollte Jesus? Er wollte alle Menschen zur Taufe im Jordan auffordern? Was will Falun Gong in China? Durch stumme Gymnastik die Mythen der kommunistischen Partei lächerlich machen? Die Autoritäten stören? Wir haben keine Botschaft, und das ist auch eine Botschaft.“
Manche Geschichten erzählt er im Telegramm-Stil. „Eine Gruppe konformistischer Alkoholiker reiste vor einigen Jahren von Poltawa auf die Krim. Sie wollten mit Yoga ihren Alkoholismus heilen. Doch als sie dort ankamen, nahmen sie an einem Wettbewerb „Wissen des Islam“ teil, weil das Preisgeld siebzigtausend Rubel betrug. Tatsächlich gewannen sie den Preis und versoffen das Geld.“
Im Trachtenhemd Wyschywanka mit den jahrhundertealten Mustern und Farben (weiße Muster auf weißem Stoff in Poltawa) und mit der Bandura wirkt Dima wie eine zeitlose Erscheinung. Oft trägt er zu seinen Vorträgen ukrainische Volkslieder vor, Sprichworte, Anekdoten.
Auch über mich spottet er gern. „Im siebzehnten Jahrhundert, da hatten wir Freiheit, als ihr Deutschen noch Fürsten gedient habt! Wir waren Männer mit Schwertern und mit Verstand, keiner Herrschaft etwas schuldig! Wann endete eure Sklaverei?“
„Die Leibeigenschaft? Nachdem Napoleon uns besucht hatte.“
„Wir brauchten keinen Napoleon, keine ausländischen Lehrer! Auf die Freiheit!“
Ja, in Poltawa herrscht eine besondere Freiheit. Als Beweis erzählt Dima diese Episode. Einer seiner Freunde habe ihn eingeladen zu seiner Hochzeitsfeier. Der Freund habe ein Restaurant gemietet, etwa achtzig Gäste waren gekommen, bloß keine Braut. Man habe auf die Braut nicht gewartet, sondern schon kräftig gefeiert. Langsam aber wunderten sich die Gäste und auch das Personal des Restaurants. Jemand petzte dann. Der Bräutigam war aus der Psychiatrie geflohen, wo er wegen paranoider Wahnvorstellungen behandelt worden war. Vielleicht hatte er sich das Vorhandensein einer Braut bloß vorgestellt. Die Rechnung des Restaurants aber war echt. Weil er nicht zahlen konnte, wurde die Polizei gerufen und der Mann „zur Erholung“ wieder in die Psychiatrie gebracht. Wahrhaftig ein Beweis für besondere Freiheit!
Dass er außer goldenen Händen auch ein drittes Auge haben muss, sieht man an Dimas Möbeln. Alles krumm und schief und wie zufällig ineinander verwachsen, dabei so stabil und effektiv, dass man es gar nicht glauben kann. Er hat uns nach der Hochzeit einen Kleiderständer angefertigt, der lediglich aus drei Teilen besteht. Die Hauptlast trägt ein geschälter Holzstamm, dessen Äste vier Füße bilden, die nur zwei Handlängen auseinander stehen. Und doch träg dieser Gepäckständer Dutzende schwerer Mäntel und Jacken. Eine weitere Astgabel klemmt unter einer Holzschale, die als Ablage dient, wobei mir völlig rätselhaft ist, wie sie um den Stamm herum gekommen ist, denn man sieht keinen Schnitt. Die ganze Konstruktion hält ohne einen einzigen Nagel und ohne Schrauben, nur mit Stricken. Man hat beim Betrachten dieses Kleiderständers das Gefühl, Dima habe die Gesetze der Schwerkraft überwunden.
Als ich Dima nach seinen drei wichtigsten Wünschen fragte, diktierte er mir diese Antwort. „Erstens, nicht für Geld arbeiten müssen. Sondern für mich. Zweitens, ich wäre gern ein Bürger. Aristokrat zu sein, das wäre nur Simulation. Drittens, ich möchte mich mit unterschiedlichen Künsten beschäftigen, eine Sammlung von authentischen ukrainischen Musikinstrumenten hätte ich gern. Über den Krieg können wir nicht entscheiden, das entscheiden Bürger Russlands, die so aussehen, als hätten sie dort die Macht.“
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