„Der Dnipro stöhnt und brüllt“: Die stin­kende Stadt

© Lana Sator

Der Dnipro gilt als Natur­wun­der, als Seele und Arterie der Ukraine. Durch ille­gale Indus­trie­ab­fälle und Müll­ent­sor­gung wird er jedoch ver­schmutzt, durch falsche Bewirt­schaf­tung droht seine Ver­fla­chung. Wie leben die Men­schen mit den öko­lo­gi­schen Problemen?

Im dritten Teil trifft unser Autor Chris­toph Brumme auf Akti­vis­ten in Sapo­rischschja, die ein Bewusst­sein für die Umwelt­aus­wir­kun­gen schaf­fen wollen.

TEIL 1: Das ‚Atten­tat‘ auf den Bür­ger­meis­ter von Dnipro
TEIL 2: Kri­mi­nelle Machenschaften
TEIL 3: Die stin­kende Stadt

Das Märchen vom japa­ni­schen Filter

Oleg, der Sapo­rischschjer, hat mir schon viel über seine Hei­mat­stadt Sapo­rischschja erzählt. Nur Alko­ho­li­ker trinken dort das Lei­tungs­was­ser, meint er. Das Wasser des Dnipro war in Olegs Kind­heit oft rot gefärbt. Gift­stoffe vom Elek­tro­stahl­werk, das war ein offenes Geheim­nis. Über die Qua­li­tät der Luft erzählte man schon zu Olegs sowje­ti­scher Kind­heit Witze.

Ein Bewoh­ner von Sapo­rischschja fliegt auf die Krim zur Erho­lung. Er ver­lässt das Flug­zeug und fällt in Ohn­macht. „Was ist pas­siert? Junger Mann!?“ – „Wo kommt er her?“, fragt ein erfah­re­ner Groß­va­ter. – „Aus Sapo­rischschja, aber warum?“ – „Nun, setzen Sie ihn unter das Aus­puff­rohr eines Autos, dann wird er sofort zur Besin­nung kommen.“ 

Auch heute noch bekommt man in Sapo­rischschja Kopf­schmer­zen vom Atmen, zumin­dest am frühen Morgen im Park gegen­über dem noch immer arbei­ten­den Elek­tro­stahl­werk. So erzählt es Valen­tyna, mit der meine Frau in Dnipro so schnell Freund­schaft schloss. In der Nacht „lüften“ die Fabri­ken, weil dann niemand kon­trol­liert. Angeb­lich sollen die Schad­stoffe so wert­voll sein, dass Japaner den Fabrik­be­sit­zern ange­bo­ten haben sollen, kos­ten­los Filter ein­zu­bauen; dafür wollten sie nur die her­aus­ge­fil­ter­ten Stoffe behal­ten. Angeb­lich hätten die Ukrai­ner das Angebot abge­lehnt. Kann das sein? Es klingt eigent­lich ein biss­chen zu glatt, um wahr zu sein. Meines Erach­tens handelt es sich um ein moder­nes Märchen, leider ohne Pointe. Aber meine Frau hat es in einer Zeitung gelesen und Valen­tyna hat es von Exper­ten gehört. Doch Oleg, der Sapo­rischschjer kennt diese Geschichte schon aus seiner Kindheit.

Unstrit­tig ist aber wohl, dass infolge der Luft- und Was­ser­ver­schmut­zung die Region die höchste Lun­gen­krebs­rate des Landes zu ver­zeich­nen hat. Man könnte frei­gie­bige Japaner und ihre Filter also gut gebrauchen. 

Grund zu verzweifeln

Valen­tyna fährt uns mit dem Auto auf die legen­däre Insel Chor­tyzja, Gerichts­hof und Ver­wal­tungs­zen­trum des Sapo­rischschjer Kosa­ken­staats bis zu seiner Zer­stö­rung im Jahre 1775 durch die Russen. Wir fahren über die Stau­mauer des Dnipro [Dnipro HES], 290 Meter lang, 36 Meter Hubhöhe, 1927 bis 1932 erbaut. Par­al­lel zum Stau­damm steht eine ewige Bau­stelle im Wasser – Pfeiler für eine neue Brücke. Jede neue Macht ver­spricht ihre Fer­tig­stel­lung, keine hat bisher ihr Ver­spre­chen gehalten. 

Auf der Insel Chor­tyzja wächst an den Weg­rän­dern wilder Hanf; in den nach­ge­bau­ten Wehr­bau­ten kann man die topf­gro­ßen Pfeifen der Kosaken bewun­dern. Es sind Nach­bau­ten für den Film Taras Bulba nach der Erzäh­lung von Nikolai Gogol, erklärt Valen­tyna. Von hier aus hat man einen freien Blick auf den Dnipro und auf den Stau­damm. Eigent­lich ein roman­ti­scher Ort. Doch der Blick trügt.

© Chris­toph Brumme

Denn das Wasser ist nicht immer sauber, weil es keine (neuen) Auf­be­rei­tungs­an­la­gen gibt, erzählt Valen­tyna. Am rechten Ufer befin­det sich eine Rei­fen­ver­ar­bei­tungs­an­lage. „Sie kühlen die Pro­dukte und lassen das Wasser in den Fluss ab.“ So sei es in der ganzen Ukraine, wo die Pro­duk­tion in Flüsse über­geht. „Es ist strengs­tens ver­bo­ten, Wasser aus dem Dnipro zu trinken. Es gibt alle Arten von Esche­ri­chia coli (Koli­bak­te­rium), Viren, Bak­te­rien.“ Sie hat in anderen Ländern Urlaub gemacht und war immer wieder erstaunt, dass man dort Lei­tungs­was­ser trinken konnte.

„Wenn wir nicht lernen, dass die Natur unser Gast­ge­ber ist, und wir in diesem Haus leben und es respek­tie­ren müssen, dann frisst es uns einfach. Im 21. Jahr­hun­dert reicht es nicht darüber zu spre­chen, sondern man muss es schreien – rette die Natur!“

Doch als Akti­vis­tin enga­giert sich Valen­tyna nicht mehr. Zu viel Kraft hat es sie gekos­tet dafür zu kämpfen, dass der Tod ihres Neffen an der Front nicht fälsch­li­cher­weise als Selbst­mord ein­ge­stuft wird.
„In unserer Schei ... kann nichts getan werden“, flucht sie. „Das Maximum, das wir tun können, ist, einen Brief zu schrei­ben oder zu einer Pro­test­ver­an­stal­tung zu gehen. Aber niemand beach­tet diese Pro­teste, das hilft über­haupt nicht. Sie können auch „Tanten“ bestel­len (Schlä­ger, Pro­vo­ka­teure), die angeb­lich mit nie­man­dem etwas zu tun haben. Sie können diese Kund­ge­bung zer­streuen – wie sie glauben. Dann fangen sie einen nach dem anderen und schla­gen, töten, zerstören. 

Es ist sehr gefähr­lich für uns, für Gerech­tig­keit zu kämpfen. 

Zum Bei­spiel der Jour­na­list Heorhij Gon­gadse kam mit seinen Unter­su­chun­gen zu weit und 25 Jahre sind seit seiner Ermor­dung ver­gan­gen und niemand wurde bestraft. Nur ein schreck­li­ches Bei­spiel für andere Akti­vis­ten. Und wir haben Angst um unser Schick­sal und unsere Lieben.“

Posi­tive Veränderungen

Doch nicht alle Men­schen in Sapo­rischschja sind so pes­si­mis­tisch. Nach dem Mit­tag­essen treffen wir Olesya Kra­ma­renko von der Umwelt­schutz­or­ga­ni­sa­tion Dsiga, auf Deutsch Kreisel. Warum dieser Name? „Wenn Sie ihn starten, dreht er sich und diese Energie ist die Energie der Ver­än­de­run­gen“, erklärt Olesya poe­tisch. „Er kann sich nicht drehen, wenn ihn nicht jemand antreibt. Ein Mensch nimmt diese tief­grei­fen­den Ver­än­de­run­gen vor.“ Ein Sinn­bild für Eman­zi­pa­tion und Bewe­gung also. 

Olesya stammt aus der Region Donezk. Hier in Sapo­rischschja hat sie an der Uni­ver­si­tät Jour­na­lis­mus stu­diert. Im zweiten Stu­di­en­jahr absol­vierte sie ein Prak­ti­kum im Lwiw, im Kultur-Zentrum Dsiga, „und dort began­nen die Ver­än­de­run­gen in unseren Köpfen“, erzählt sie. Dort spürte sie, was ukrai­ni­sche Iden­ti­tät aus­macht, vor 20 Jahren. Dann wurde ihre Tochter mit einem Herz­feh­ler geboren und musste mehr­mals ope­riert werden. 

Olesya suchte nach einer Ursache. Sie lernte und ver­stand, dass es einen Zusam­men­hang gab zwi­schen der Luft- und Was­ser­ver­schmut­zung und den Sta­tis­ti­ken über Kinder mit Herz­er­kran­kun­gen. „Warum leben wir in dieser Stadt und warum sollten wir zum Schei­tern ver­ur­teilt sein?“, fragte sie sich. Eine kleine Gruppe von 10 Per­so­nen traf sich zu Pro­tes­ten – sie trugen weiße Anzüge zum Che­mi­ka­li­en­schutz, ver­teil­ten Flug­blät­ter, gingen mit Mega­pho­nen spazieren. 

Die meisten Men­schen hatten sich an das Ste­reo­typ gewöhnt, dass es hier immer gestun­ken hat und immer stinken wird, dass nichts geän­dert werden kann, denn es ist nun mal eine Industriestadt. 

Während des Euro­mai­dan konnten die Akti­vis­ten in Sapo­rischschja endlich auch das Umwelt­thema in ein brei­te­res öffent­li­ches Bewusst­sein bringen. Dort traf Olesya auch einen zukünf­ti­gen Abge­ord­ne­ten der neuen Regie­rung, dessen stell­ver­tre­tende Assis­ten­tin sie später wurde, ver­ant­wort­lich für ihr Lieb­lings­thema Umwelt. So kann sie in einer Öko-Koali­tion arbei­ten, zu der Abge­ord­nete, Jour­na­lis­ten und „Mei­nungs­füh­rer“ aus Sapo­rischschja gehören. Für Olesya sind Poli­ti­ker nicht von vor­ne­her­ein Feinde. „Das sind ja auch Men­schen, die mit bestimm­ten Pro­ble­men kämpfen. Sie können die Fabri­ken ja nicht einfach schließen.“

Und die Pro­bleme sind so immens, dass es schon ein Fort­schritt ist, wenn sie erkannt und pro­to­kol­liert werden. Auch Olesya meint, am Schlimms­ten für die Men­schen sei die Luft­ver­schmut­zung. Dann folgt die Abfall­wirt­schaft, die über­füll­ten Depo­nien. Jetzt wurde ein umfas­sen­der Plan erstellt, und eine zweite Deponie soll bereits unter Berück­sich­ti­gung der Abfall­sor­tie­rung gebaut werden. „Aber aus irgend­ei­nem Grund dürfen wir nicht einmal einen Ausflug dorthin machen.“ Der Bau wurde gestoppt, man weiß nicht, wie es wei­ter­ge­hen wird. 

Im Herbst soll ein Umwelt­fo­rum ver­an­stal­tet werden, wobei die Behör­den „bei der Unter­zeich­nung von Maß­nah­me­ver­ein­ba­run­gen helfen“, erzählt Olesya. Die Öko­kul­tur in der Stadt sei aber niedrig und sinke sogar. Pro­teste, Flash­mobs und Haus­be­su­che helfen nicht. Die Men­schen wollen „keine nega­ti­ven Infor­ma­tio­nen und nicht sehen, was raucht, was alles schlecht ist. Durch posi­tive Formen wird dieses Problem besser auf die Men­schen übertragen.“
Inter­es­sant! Wie stellt man Umwelt­pro­bleme positiv dar?

„Wir kon­zen­trie­ren uns nicht auf Umwelt­ver­schmut­zer, auf Fabri­ken. Wir sagen, die Behör­den tun etwas. Zum Bei­spiel ver­wen­den wir jetzt aktiv das Gesetz „Umwelt­aus­wir­kun­gen“, obwohl die Wer­chowna Rada in Kyjiw die Anhö­rung des Geset­zes abge­sagt hat.

Aber wir ver­wen­den es sehr aktiv, denn es ermög­licht den Men­schen, Ein­fluss zu nehmen und die Aus­wir­kun­gen wirt­schaft­li­cher Akti­vi­tä­ten zu mini­mie­ren. Das ist ein Projekt zur Bewer­tung der Umwelt­ver­schmut­zung. Sie können damit For­de­run­gen und Ent­schä­di­gun­gen stellen – zum Bei­spiel zusätz­li­che Bäume pflan­zen oder Straßen reparieren.“ 

Außer­dem soll in vier Städten der Region, in Meli­to­pol, Berdjansk, Cherson und Sapo­rischschja eine krea­tive Umwelt­aus­stel­lung zur Auf­klä­rung bei­tra­gen. Jedoch ist die Finan­zie­rung noch nicht gesi­chert. Bei­spiels­weise soll ein Raum mit Indus­trie­staub gefüllt werden, der zeigt, wie Men­schen an den Staub gewohnt sind und es nicht bemerken.
Für erheb­li­ches Auf­se­hen erregte auch der Kauf eines mobilen Labors durch die Stadt für 12 Mil­lio­nen Hrywna (rund 300.000 Euro), mit dem Ver­schmut­zungs­da­ten erfasst werden können, sowohl aus der Luft als auch aus dem Boden. Denn, so die Kri­ti­ker der teuren Anschaf­fung, durch das Messen werden die Luft und das Wasser ja nicht besser. 

„Wir ver­ste­hen“, sagt Olesya, „dass dies lang­fris­tige Pro­jekte sind und dass erst unsere Kinder die Pro­bleme wahr­schein­lich lösen können.“ 

Inzwi­schen ist man mit Akti­vis­ten aus anderen Städten gut ver­netzt. Olesya freut sich, dass wir Ilja Rybakow von Save Dnipro getrof­fen haben. „Sie sind die Haupt­ent­wick­ler von Luft­ver­schmut­zungs­sen­so­ren in der Ukraine“, lobt sie. „Wir kom­mu­ni­zie­ren mit­ein­an­der, unter­stüt­zen uns, ergrei­fen gemein­sam Initia­ti­ven, wir treten zusam­men in die Arbeits­grup­pen des Minis­te­ri­ums auf. Je mehr solche Akti­vis­ten in der Ukraine sind, desto besser für alle. Wir werden soli­da­risch sein und uns ver­ei­nen. Ich sehe, wie sie es in Europa und Deutsch­land machen. Dies hilft bei der Lösung von Problemen.“ 

„Wann wird es in der Ukraine eine starke grüne Partei geben?“, will ich noch wissen.
Olesya ant­wor­tet lako­nisch. „Wenn wir sie selbst schaffen.“ 

Textende

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

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