„Der Dnipro stöhnt und brüllt“: Das ‚Attentat‘ auf den Bürgermeister von Dnipro
Der Dnipro gilt als Naturwunder, als Seele und Arterie der Ukraine. Durch illegale Industrieabfälle und Müllentsorgung wird er jedoch verschmutzt, durch falsche Bewirtschaftung droht seine Verflachung. Wie leben die Menschen mit den ökologischen Problemen?
Unser Autor Christoph Brumme berichtet anlässlich des heutigen Tag des Dnipro aus Dnipro und seiner Begegnung mit dessen Bürgermeister, Borys Filatow.
TEIL 1: Das ‚Attentat‘ auf den Bürgermeister von Dnipro
TEIL 2: Kriminelle Machenschaften
TEIL 3: Die stinkende Stadt
Wir spazieren in der Stadt Dnipro am Fluss Dnipro auf der längsten Uferpromenade Europas und staunen immer wieder. Die Promenade ist wohl etwa 27 Kilometer lang, vielleicht auch 30, bestehend aus drei Teilen.1 Wir besuchen zuerst den Yacht-Club „Sitsch“, dort laufen seltene weiße Nutrias und indische Pfaue über Rasen und Fußwege. Die Balzrufe eines Pfaus mischen sich mit Hammerschlägen von der angrenzenden Baustelle, einem künftigen Restaurant auf dem Wasser, auf Pfählen aus Eisen errichtet.
Ein Eisverkäufer weist höflich darauf hin, dass man die Pfaue und andere Tiere nur mit Smartphones fotografieren dürfe. Vielleicht auf Wunsch der Pfaue? Die Restaurants sind mit Strohdächern bedeckt und fügen sich harmonisch in die Landschaft ein. Auf künstlichen Inseln wachsen Edeltannen, das Wasser unter einer Holzbrücke ist klar, Möwen und Enten bedienen sich aus einem Schwarm silbern glänzender Fische.
Allerdings fließt das Wasser wegen der vielen Bauten und Aufschüttungen nicht überall oder nur langsam, man sieht es am Algenteppich auf der anderen Seite der Brücke.
Die Veralgung des Dnipro und vieler anderer ukrainischer Flüsse ist eines der bekanntesten ökologischen Probleme.
Bekannt, weil es auch von Laien mit bloßen Augen erkannt werden kann. Das Wasser ist grün und schwappt träge für sich hin, keine Nixe will da aussteigen, keine Menschen wollen dort baden in klebriger Finsternis. In den Algen können viele Fischarten nicht auf reflektierende Farben reagieren, keine Beute fangen, ihre Schönheit nicht zeigen und keine Partner anlocken. Es mangelt an Sauerstoff, an Austausch.
Stattdessen herrschen „hohe bakteriologische Vielfalt und fäkale Wasserverschmutzung“, beispielsweise durch Kühe oder durch eingeleitete Nitrate, Phosphate, Sulfate, Ammoniak, Rückstände von Waschmitteln. Das Wasser stinkt, der Boden verschlammt. Dabei sind Algen „der Ursprung unserer Existenz“, ihnen und den Cyanobakterien „wird das Verdienst zugeschrieben, die giftige Uratmosphäre durch Photosynthese in eine sauerstoffreiche verwandelt zu haben“.
Die Katastrophe begann mit den Staudämmen
Der Dnipro entstand vor 6 Millionen, so lautet der erste der zwölf interessantesten Fakten über den Fluss, die von der ukrainischen Zeitung „Rubryka“ zusammengestellt wurden. Ob das stimmt? Verbürgt ist, dass schon Herodot über den Fluss geschrieben hat, wobei er wohl Fake News verbreitet haben soll mit der Behauptung, am unteren Dnipro würden nur Skythen leben. Als gesichert gilt heute die Tatsache, dass die damalige höchste Klasse aus „Reiterkriegern“ bestand, lange vor den ukrainischen Kosaken, wie Reste von Bestattungen zeigen.
Der Fluss entspringt in Russland, 200 Kilometer von Moskau entfernt, wo er Dnjepr heißt. Somit ist er für Ukrainer derzeit vielleicht das einzig Gute, was aus Russland kommt. Unter dem Namen Dnjapro fließt er dann durch Belarus und schließlich etwa 1000 Kilometer durch die Ukraine.
Doch wenn nichts unternommen wird, dann wird der majestätische, bis zu 18 Kilometer breite Fluss in 50 Jahren doppelt so flach sein wie heute, prophezeit „Rubryka“ als weiteren wichtigen Fakt. Demnach besteht die Gefahr, dass die Ukraine dann aufgrund von Wassermangel von anderen Ländern abhängig sein wird.
Seit der Fluss in der Sowjetunion durch sechs Staudämme reguliert wurde, begann die Periode der Verschlechterung.
Die Stauungen mindern die Selbstreinigungskräfte. Der Gesamtabfluss des Dnipro hat sich aufgrund der Wasserentnahmen stark verringert, wodurch die Flachwasserfläche immer größer wird, um bis zu 1.000 ha pro Jahr allein im Kremenchucker Stausee, was zu einer millionenfachen Zunahme der Blaualgen führt.
Die Uferpromenade
Wir fahren in den Norden, dort versprüht die haushohe Fontäne „Sphäre“, auch „Bällchen“ oder „Kügelchen“ genannt, kühles Wasser auf der Uferpromenade. Kinder lassen sich vollspritzen und baden im Becken eines weitläufigen Springbrunnens, Eltern sehen vom Rand aus besorgt zu. Über den Flussarm sind Seile gespannt, an denen hängend ein junger Mann Wasserski fährt. Mehrere Kletter- und Rutschburgen stehen in Sichtweite, eine Pyramide aus Holz mit Seilleitern und bunte Röhren zum Rutschen. Keine Spielanlage gleicht der anderen, die Böden darunter sind aus weichem, buntem Kunststoff. Dazwischen gepflegte Rasen, sattes Grün. Selbst die Zahl der Bäume ist mit der Zahl der Laternen abgestimmt.
Das Attentat auf den Bürgermeister Filatow
Wir wollen zurück zum Auto, da kommen uns eine Gruppe Menschen entgegen, recht schnell, beinahe laufend. Ein Mann trägt eine Filmkamera, ein anderer einen Lichtschirm, eine junge Frau ein Mikrophon mit Windschutz. Ein Filmteam also. Einer der Männer geht mit ausgestrecktem Arm auf meine Frau zu, schiebt sie beiseite, so sieht es für mich aus. Ich will ihn zur Rede stellen, aber meine Frau sagt schnell, dass er sie nicht berührt habe. Auf den zweiten Blick sehe ich, dass er eine Pistole am Gürtel trägt. Bevor ich ihn vielleicht zu Boden werfe, sollte ich mir seinen Ausweis zeigen lassen.
Horst, unser Gastgeber, der sich bei Dnipro ein Haus baut, meint, der relativ kleine Mann in der Mitte der Gruppe sei der Bürgermeister von Dnipro, Borys Filatow.
„Das glaube ich nicht“, sage ich spontan. Dafür ist er meiner Meinung nach zu normal gekleidet. Normale Jeans, normale Schuhe, blaues Oberhemd, kein Jackett. Aber vielleicht will er sich als „Anpacker“ präsentieren, als Mann aus dem Volk?
Horst beharrt darauf, dass er der Bürgermeister ist, deshalb auch die Bodyguards mit den Pistolen. Dann könnte ich doch gleich ein Interview mit ihm führen? Ich ziehe mein Diktaphon aus der Tasche, gehe im Halbkreis an der Gruppe vorbei, auch an den Sicherheitsleuten, direkt zum Bürgermeister, der mit dem Rücken zu seinen Begleitern steht. Mit geschlossenen Augen murmelt er einen Text vor sich hin, ein Blatt Papier in der Hand. Vielleicht lernt er die Antworten für das Interview auswendig? Oder Zahlen und Fakten, die er zitieren will?
Einer seiner Sicherheitsmänner steht einige Meter neben ihm, guckt mich böse an und greift nach der Pistole. Mein Diktaphon ist schwarz, ich halte es dem Bürgermeister entgegen, vielleicht ein Fehler, man könnte es mit einer Pistole verwechseln. Meine Frau Katerina reagiert goldrichtig und fotografiert die ganzen Zeit. Die ukrainischen Journalisten schauen etwas „bedröppelt“, denn ich habe mich vorgedrängelt, das macht man natürlich nicht.
Der Bürgermeister schaut mich an, ich stelle mich als deutscher Journalist vor und bitte um die Beantwortung einer Frage. Er nickt und ist einverstanden. Sein Bodyguard schüttelt resigniert den Kopf.
„Wir kommen aus Poltawa und sind sehr erstaunt, wie schön die Promenade und der Strand in Dnipro sind. Seit wie vielen Jahren gibt es das Programm der Modernisierung Dnipros?“
Lieber mit einem Kompliment beginnen, als gleich mit meinem Thema „ökologische Probleme“.
Seine Antwortet lautet erwartungsgemäß, erst in seiner vierjährigen Amtszeit habe die Modernisierung begonnen. „Bis dahin haben wir nichts Besonders geschafft. Jetzt haben wir mehr gemacht als in den letzten 25 Jahren.“
„Sie sind persönlich dafür verantwortlich?“ (Oder hatte Cäsar auch einen Koch?)
„Nun, ich habe mein Kommando, unsere Architekten in der Stadt.“
„Wir haben gehört, es gibt in der Stadt auch ökologische Probleme? Aber wir sehen hier auf den ersten Blick eine moderne Stadt.“
„Danke, danke.“
„Und gibt es ökologische Probleme?“
„Es gibt sie natürlich. Wir haben große Industrieunternehmen. Sie verursachen große Emissionen. Weiterhin kommt das Wärmekraftwerk Dnipro dazu. Das Problem ist jedoch, dass die Kommunalverwaltung in Städten keine Umweltquoten regelt. Dies geschieht in Kyjiw. Wenn sie dies unter der Dezentralisierung an die Städte weitergeben würden, würden wir dafür beten. Aber so beeinflussen wir dies leider nicht, wir, die lokale Selbstverwaltung.“
„Das heißt, die Menschen in Dnipro sind mehr oder weniger zufrieden mit Ihrer Arbeit?“
„Ich weiß nicht, muss man die Leute fragen.“
Stimmt, eine dämliche Frage. Besser hätte ich fragen sollen, was er (und sein Team) für ökologische Verbesserungen tun, außer, die Verantwortung der Zentralregierung zuzuschieben.
„Gefällt es Ihnen hier?“, will er von mir wissen.
„Ja, sehr.“
„Wir haben viel getan. Sie können immer noch die Korolenka-Straße sehen, dort gibt es moderne Architektur ist dort modern, Sie können zur Barrikaden-Straße gehen, obwohl sie jetzt umstritten ist. Im Allgemeinen muss es sehen – wir haben viel getan.“
„Herzliche Glückwunsch. Danke!“
Statt der einen Frage habe ich nun schon mehrere gestellt. Die ukrainischen Kollegen „stampfen mit den Füßen“, halb zu Recht, schließlich haben sie ein Interview organisiert, nicht ich. Aber ich habe für mein Thema ökologische Probleme eine interessante Antwort bekommen, allein dafür hat sich das Attentat gelohnt.
Boris Filatow ist landesweit bekannt, er war erst kürzlich in den Schlagzeilen, weil er den Eingang zu einer Kirche des Moskauer Patriarchats der Orthodoxen Kirche zumauern ließ. Trotz der Quarantäne-Maßnahmen hatte diese Kirche zum Besuch von Gottesdiensten aufgerufen. Filatow setzte Recht und Gesetz durch.
Als jedoch auf der Website des Stadtrats ein Entscheidungsentwurf zum Verbot von russischen Liedern erschien, lehnte der Bürgermeister dies ab. „Es wird keine solche Entscheidung geben. Erstens kann es nicht gemacht werden. Und zweitens führen wir keinen Krieg gegen Bücher und Musik. Wir kämpfen für die Freiheit und das Glück unseres Landes“, schrieb Filatow.
Fortsetzung folgt im zweiten Teil „Kriminelle Machenschaften“.
1 Auch Lanzarote beansprucht seit 2016 den Titel „längste Uferpromenade Europas“ und sogar „der Welt“, mit einer Länge von 26,3 Kilometern. Auf den nächsten Plätzen werden von Reiseveranstaltern La Coruña (13 km), Usedom an der Ostsee (12 km) und Atlantic City in New Jersey (9,25 km) genannt. Die ukrainische Stadt Dnipro wird in dieser Hit-Liste offenbar gern übersehen, weil sie für westliche Tourismus-Untenehmen (noch) nicht interessant genug ist.
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