Die Sehn­sucht nach dem Kriegsende

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Das Wunsch­den­ken, das viele im Westen hegen, hilft nicht. Denn Putins Hass auf den Westen ist gren­zen­los, er braucht ihn zu seinem Macht­er­halt. Von Chris­toph Brumme

Wieder einmal heulen die Sirenen, zunächst eine, dann alle gleich­zei­tig. Trotz Luft­alarm bleiben wir im Bier­gar­ten sitzen. Zuletzt hat unsere Luft­ab­wehr kurz vor der Stadt einige rus­si­sche Raketen abge­schos­sen. Die Staats­grenze ist ja nur etwas mehr als ein­hun­dert Kilo­me­ter ent­fernt, die Vor­warn­zeit beträgt also nur ein paar Schluck Bier. Luft­alarm wird schon aus­ge­löst, wenn Raketen in unseren Oblast Poltawa ein­drin­gen. Ob sie dann über uns hin­weg­flie­gen und andere Städte treffen sollen oder ob sie direkt für uns bestimmt sind – das kann in dieser kurzen Zeit nicht vor­her­ge­sagt werden.

Ich erzähle meinen ukrai­ni­schen Freun­den, welche Vor­stel­lun­gen von einem Kriegs­ende in Deutsch­land dis­ku­tiert werden. Die Ukrai­ner sollten Kom­pro­misse ein­ge­hen und den Russen einen bestimm­ten Teil ihres Ter­ri­to­ri­ums „anbie­ten“ oder „über­las­sen“. Alle am Tisch sind ent­setzt, lachen, fassen sich an den Kopf. „Welchen Kom­pro­miss? Später oder gleich getötet zu werden?“, fragt der Eng­lisch-Über­set­zer Oleh. „Die Deut­schen wün­schen uns also, dass wir zuerst bei der Ermor­dung unserer Kinder zusehen, dann mit gefes­sel­ten Händen hin­ge­rich­tet werden?“

Ihr Zynis­mus kommt nicht von unge­fähr: Die Mörder von Butscha wurden von Russ­lands Prä­si­dent Putin aus­ge­zeich­net. Er verlieh der dort mor­den­den rus­si­schen Sol­da­teska den Ehren­ti­tel Garde. „Das geschickte und ent­schlos­sene Vor­ge­hen der Brigade während der mili­tä­ri­schen Spe­zi­al­ope­ra­tion in der Ukraine“ seien „Vorbild für die Aus­füh­rung der mili­tä­ri­schen Pflich­ten, für Mut, Ent­schlos­sen­heit und große Pro­fes­sio­na­li­tät“, erklärte Putin. Die rus­si­schen Sol­da­ten hätten das „Mut­ter­land und staat­li­che Inter­es­sen“ verteidigt.

Putin wie Stalin

Ermor­dete Ukrai­ner sind im Inter­esse Moskaus, das ist für die Ukrai­ner nichts Neues. Davon können sie mehr als ein bit­te­res Lied singen. Die fast 300 Jahre rus­sisch-ukrai­ni­sche Kolo­ni­al­ge­schichte steht auch für fast 300 Jahre Repres­sio­nen, staat­lich ange­ord­nete Mas­sen­morde und Verbote der ukrai­ni­schen Sprache und Kultur. In Moskau wird heute in den­sel­ben Gebäu­den, in denen Stalins Scher­gen einst die geno­zi­dale Aus­beu­tung der Ukraine und die Aus­lö­schung ihrer Kultur planten und orga­ni­sier­ten, die Ver­nich­tung, Aus­hun­ge­rung und „Umer­zie­hung“ der Ukrai­ner vor­be­rei­tet und angeordnet.

Diese his­to­ri­sche Dimen­sion des Krieges wird in den öffent­li­chen Dis­kur­sen im Westen nur selten mit­ge­dacht. Zu gern glaubte man das Märchen, Russen und Ukrai­ner seien Bru­der­völ­ker. Dabei ist diese Bezeich­nung für Ukrai­ner schon lange das schlimmste Schimpf­wort – spä­tes­tens seit 2014, seit der Anne­xion der Krim und dem feigen, uner­klär­ten Krieg im Donbas. Aber schon im Jahr 1991 war es kein Zufall, dass bei dem Refe­ren­dum über die Unab­hän­gig­keit des Landes mehr als neunzig Prozent der Ukrai­ner für die Abspal­tung von der Sowjet­union stimm­ten (bei einer Wahl­be­tei­li­gung von mehr als achtzig Prozent). Auch im Donbas mit 83 Prozent und in den süd­li­chen rus­sisch­spra­chi­gen Gebie­ten mit 90 Prozent waren die Mehr­hei­ten zuguns­ten der Unab­hän­gig­keit eindeutig.

Obwohl deut­sche Medien jah­re­lang von „pro-rus­si­schen“ Kräften in der Ukraine spra­chen, war der Anteil der Ukrai­ner, die eine staat­li­che Einheit mit Russ­land wollten, immer sehr gering. Selbst auf der Krim bekam bei den letzten freien Wahlen die einzige Partei, die für einen Anschluss an Russ­land plä­dierte, nur wenige Prozent der Stimmen. Richtig ist viel­mehr, dass eher rus­sisch­spra­chige Men­schen mehr als ukrai­nisch­spra­chige auf freund­li­che Bezie­hun­gen zu Russ­land hofften und sie für möglich hielten. Aber auch sie träum­ten nicht von einer „ruski mir“ – einer rus­si­schen Welt -, schon gar nicht, wenn der Preis dafür ein Krieg ist. Und weil sie nie unter­drückt wurden, wollten sie von den Russen auch nicht befreit werden.

Lieber ein schnel­les Ende

Nun denkt man in Deutsch­land darüber nach, wie viele Opfer die Ukrai­ner noch zu bringen bereit sind, bis sie Putin-Russ­land irgend­wel­che „Kom­pro­misse“ anbie­ten (müssen). Irgend­wann seien doch sowieso alle Panzer zer­stört und keine Waffen mehr da, erklärte mir ein deut­scher Radio-Mode­ra­tor. Am Ende würden die Ukrai­ner ver­lie­ren, also sollten sie lieber gleich kapi­tu­lie­ren. Russ­land habe leider auf eine etwas brutale Art seine Sicher­heits­in­ter­es­sen durch­ge­setzt, mit dieser Spe­zi­al­ope­ra­tion, die in Russ­land nicht Krieg genannt werden darf. Aber Putin habe sich eben von der Nato bedroht „gefühlt“, der Westen sei mitschuldig.

So, als hätten west­li­che Demo­kra­tien die glei­chen kri­mi­nel­len und krie­ge­ri­schen Absich­ten gehabt wie der rus­si­sche Mafia-Geheim­dienst-Staat, den glei­chen Willen, das Faust­recht durch­zu­set­zen. So, als hätte jemals ein Ver­tre­ter der Nato Russ­land gegen­über mili­tä­ri­sche Dro­hun­gen aus­ge­spro­chen. Das Gegen­teil ist der Fall: Russ­land wurde vom Westen bis zur Anne­xion der Krim in viel­fäl­ti­ger Weise unter­stützt und pri­vi­le­giert behan­delt, anfangs mit Lebens­mit­tel­lie­fe­run­gen und Kre­di­ten, dann mit Moder­ni­sie­rungs­part­ner­schaf­ten und zahl­rei­chen kul­tu­rel­len und poli­ti­schen Aus­tausch­pro­gram­men. Selbst für die Ver­schrot­tung ukrai­ni­scher Atom­waf­fen hat Russ­land etliche Mil­li­ar­den Dollar von den USA bekom­men. Tat­säch­lich hofften die USA nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union, die Sta­bi­li­tät der inter­na­tio­na­len Ordnung ins­be­son­dere im post­so­wje­ti­schen Raum zusam­men mit Russ­land gestal­ten zu können. Sie ver­trau­ten Russ­land so sehr, dass sie die Ukraine zuguns­ten Russ­lands atomar ent­waff­ne­ten! Sie bezahl­ten Russ­land dafür, dass die Ukraine ein mili­tä­risch harm­lo­ses Land wurde.

Im Gegen­satz zu fast allen Deut­schen brau­chen Ukrai­ner keine Über­set­zer, um die bös­ar­ti­gen Absich­ten und mör­de­ri­schen Ziele des Puti­nis­mus zu ver­ste­hen. Illu­sio­nen und Wunsch­den­ken können sie sich nicht leisten, sie müssen die Rea­li­tät des Krieges jetzt und für lange Zeit aus­hal­ten. Im rus­si­schen Staats­fern­se­hen wurde in den letzten Jahren in den wich­tigs­ten Pro­pa­ganda-Sen­dun­gen immer wieder detail­liert dar­ge­legt, wie man im Falle eines „leider not­wen­di­gen Ein­mar­sches“ und natür­lich unum­gäng­li­chen Sieges gegen die Ukraine vor­zu­ge­hen gedenke. Geplant war demnach bei­spiels­weise min­des­tens ein­ein­halb Mil­lio­nen ukrai­ni­scher „Natio­na­lis­ten“ in Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern zu inter­nie­ren und umzu­er­zie­hen, das Ukrai­ni­sche aus ihnen her­aus­zu­prü­geln wie in dem berüch­tig­ten Folter-KZ „Iso­la­zija“ in Donezk.

Die Ukrai­ner wissen das und kämpfen heute schlicht­weg für ihr Über­le­ben. „Wenn wir keine Waffen erhal­ten, in Ordnung, dann werden wir mit Schau­feln kämpfen, aber wir werden uns ver­tei­di­gen, denn dieser Krieg ist ein Krieg um unsere Exis­tenz“, erklärte der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba in der ARD-Talk­sen­dung „Anne Will“ am Sonn­tag­abend. Und mein Freund Oleh im Bier­gar­ten von Poltawa stellt sach­lich fest: „Wir haben eine andere Men­ta­li­tät als die Deutschen.“

In Deutsch­land wird der Wert der Frei­heit nicht hoch­ge­schätzt, weil man nie gegen einen Feind kämpfen musste, dessen erklär­tes Ziel die Ver­nich­tung der deut­schen Nation war, der deut­schen Sprache und Kultur. „Es fehlt die Erfah­rung des erfolg­rei­chen Kampfes gegen einen Gegner, der einen ver­nich­ten will“, so die His­to­ri­ke­rin Fran­ziska Davies.

Außer­dem urtei­len die Deut­schen gerne vom mora­li­schen Thron herab, weil sie sich daran gewöhnt haben, dass andere für sie die Kohlen aus dem Feuer holen, ihre Sicher­heit von den USA gesi­chert wird. Über­heb­lich­keit auf­grund von Erfah­rungs­lo­sig­keit und Igno­ranz. „Wir kennen Russ­land besser als die Ost­eu­ro­päer, wir sind Russ­land aus his­to­ri­schen Gründen ver­pflich­tet, euch aber nicht“ – deshalb Gas­han­del und Mili­tär­ex­porte; Geschäfts­tüch­tig­keit ver­brämt mit Moral und his­to­ri­schem Gewis­sen. Hinzu kommt die Denk­tra­di­tion des Haber­mas­mus, der ein­fäl­tige Glaube, alle Kon­flikte mit kom­mu­ni­ka­ti­ver Ver­nunft lösen zu können. „Ein biss­chen Frieden, ein biss­chen Freude“, 1980er-Jahre-Sozio­lo­gie und Musik, Deutsch­land als Wol­ken­ku­ckucks­heim. Kein stra­te­gisch-ana­ly­ti­sches Denken, sym­pto­ma­tisch dafür ist bei­spiels­weise das Ver­sa­gen des BND, der vom Krieg völlig über­rascht wurde und den Ukrai­nern eine Nie­der­lage inner­halb weniger Tage pro­phe­zeite.

Das Ende wird ein neuer Anfang sein

Wann und wie dieser Krieg enden wird – darüber können west­li­che “Exper­ten” auf ihren Sofas im Westen wohl­feile Gesprä­che führen und Wünsche zu ihrer Selbst­be­frie­di­gung for­mu­lie­ren. Wie man einen Sieg defi­niert, das wird man in der Ukraine erst wissen, wenn man ihn erreicht hat. Prä­si­dent Selen­skyj meint: „Es wird enden, wie es immer endet, indem es endet.“

Zunächst einmal ist das wich­tigste Ziel die Selbst­ver­tei­di­gung. Besetz­tes Ter­ri­to­rium soll zurück­er­obert werden, um die Ukrai­ner zu befreien, die sich jetzt in den von den Russen erober­ten Gebie­ten in stän­di­ger Lebens­ge­fahr befin­den, die gefol­tert, depor­tiert und „liqui­diert“ werden. Ukrai­ni­sche Sol­da­ten kommen zu ihnen als Frie­dens­sol­da­ten und Lebens­ret­ter. Schon mehr als ein­tau­send Sied­lun­gen konnten sie laut Prä­si­dent Selen­skyj von den Russen zurück­er­obern und – anders als die Russen – wurden sie dort von den Ein­hei­mi­schen tat­säch­lich mit Applaus emp­fan­gen und als Befreier begrüßt.

Um die Chancen auf Frieden aus­zu­lo­ten, wird im Westen auch gerne darüber dis­ku­tiert, ob der rus­si­sche Kriegs­herr Putin ratio­nal oder irra­tio­nal handle, ob er ein guter Stra­tege oder nur ein guter Tak­ti­ker sei. Wenn ratio­nal, dann wäre sein Ver­hal­ten womög­lich bere­chen­bar, dann könnte man viel­leicht seine Inter­es­sen und eine Logik auch in seinen grau­sams­ten Ver­bre­chen erken­nen. Wenn irra­tio­nal, dann müsse man mit dem Schlimms­ten rechnen, dann gnade uns Gott, dann wäre der Ober­be­fehls­ha­ber über die Atom­ra­ke­ten ja viel­leicht verrückt.

Die Ukrai­ner wissen, dass auch Seri­en­mör­der ratio­nal denken und planend handeln können. Sie erken­nen deshalb eine dritte Vari­ante. Weder ratio­nal noch irra­tio­nal, sondern emo­tio­nal. Das ist mehr als ein Gefühl. Es ist der Rausch der Macht und die Lust, über Leben und Tod ent­schei­den zu können. Wie Stalin ist Putin ein Sadist, der es genießt zu herr­schen und zu töten. Er und seine Geheim­dienst-Clique wissen ganz genau, dass sie im fried­li­chen Wett­be­werb mit den west­li­chen Volks­wirt­schaf­ten niemals mit­hal­ten können. Niemals wird ihr Russ­land so attrak­tiv für Geld­an­le­ger und Tou­ris­ten sein, solche Soft­power ent­fal­ten können, wie freie, nach Fair­ness stre­bende Gesellschaften.

Der Westen ernied­rigt Russ­land schon dadurch, dass er reicher ist, dass man dort besser lebt und dass viele gut aus­ge­bil­dete Russen gerne dorthin aus­wan­dern. Das Glück und der Wohl­stand der Euro­päer befeu­ern im Kreml Hass und Neid. Deshalb will Putin nicht nur die schöne Ukraine zum Bei­schlaf zwingen, wie er ja öffent­lich erklärte, sondern auch den Westen quälen. Die west­li­chen Gesprächs­an­ge­bote stei­ger­ten in den letzten Jahren nur seine Wut und seine Empö­rung. Er will kämpfen und siegen, nicht reden. Er will, dass man ihn fürch­tet, nicht, dass man ihm vertraut.

Falls jemand wirk­lich wüsste, wie man diesen Krieg beenden kann, so hätte sie oder er min­des­tens drei Frie­dens­no­bel­preise verdient.

Zuletzt ist das Buch „Im Schat­ten des Krieges. Tage­buch­auf­zeich­nun­gen aus der Ukraine“ von Chris­toph Brumme im S. Hirzel Verlag erschienen.

Textende

Portrait von Christoph Brumme

Chris­toph Brumme ver­fasst Romane und Repor­ta­gen. Seit dem Früh­jahr 2016 lebt er in der ost­ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

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