Mariupol: zwischen oligarchischem Monopol und Demokratie
Mariupol, Stadt der zwei Gesichter? Der progressive Bürgermeister der Stadt schaffte es in der letzten Zeit, das Stadtbild trotz aller Widrigkeiten erheblich zu verbessern. Doch steht er, genauso wie ein Großteil des Stadtrats, unter direktem Einfluss des reichsten Mannes der Ukraine, Rinat Achmetow. Wie ist es also um die Demokratie in der Stadt am Asowschen Meer bestellt? Maxim Borodin, Mitglied der kleinen Opposition im Stadtrat von Mariupol, mit einer Analyse.
Ukraine. Mariupol. Ca. 500 000 Einwohner. Eine Stadt am Asowschen Meer mit zwei großen metallverarbeitenden Betrieben. Und nur 25 km bis zur Frontlinie. Auf der anderen Seite herrschen Freischärler, die von der Russischen Föderation kontrolliert werden.
Der Ausländer, der zum ersten Mal nach Mariupol kommt und nicht über Insiderwissen verfügt, wird kaum die komplexen Prozesse verstehen können, die im Hintergrund ablaufen, wenn er sich nur auf seine vordergründigen Beobachtungen stützt. Warum? Stellt man sich Mariupol wie eine Firma oder einen Konzern vor, so beschreibt die Situation sehr treffend ein Modell mit Front- und Back-Office.
Das Front-Office steht dabei für die sichtbaren umfassenden Veränderungen in der Stadt während der vergangenen vier Jahre: rekonstruierte Parkanlagen, reparierte Straßen und renovierte Krankenhäuser, Infrastruktur-Großprojekte, die wesentlich transparentere Arbeit des Stadtrats, freier Zutritt zu den Sitzungen der Behörden und noch viele andere positive Veränderungen. Und tatsächlich, vergleicht man die Haushaltspläne ähnlicher Städte, wie Krywyj Rih, Saporischschja und Mariupol, und die für den einfachen Bürger sichtbaren Veränderungen auf den Straßen der Stadt, so hat die Mariupoler Stadtverwaltung eindeutig einen Preis in der Kategorie Stadtentwicklung verdient. Die Bemühungen seitens des Teams des Mariupoler Bürgermeisters um nachhaltige Lösungen für drängende Probleme im öffentlichen Nahverkehr, bei der Wasserversorgung, der Straßenbeleuchtung und vielem mehr geben Anlass zu aufrichtigem Respekt. Schließlich hat die vorherige Stadtverwaltung all diese Probleme nicht nur nicht zu lösen versucht, sondern sie hat ganz einfach so getan, als gäbe es überhaupt keine Probleme. Eine derartige Menge an finanziellen Beihilfen, wie sie in den letzten Jahren angeworben werden konnten, hat die Stadt gewiss in allen Jahren der Unabhängigkeit zuvor nicht erhalten.
Reden wir vom Gesicht der Stadt, dem Bürgermeister. Was kann der auswärtige Beobachter in ihm erblicken? Der Bürgermeister ist ein junger und progressiv eingestellter Verwaltungsspezialist mit einem starken Team, das weiß, was es tut, und alles in allem fast schon europäisch und demokratisch daherkommt. Fast.
Nun zum Back-Office. Hier beginnt das ideale Bild von der demokratischen Verwaltung in Mariupol zu bröckeln. Hinter dem äußerlich demokratischen Image der Stadtverwaltung steht das Monopol von Rinat Achmetow. Er ist der reichste Mensch der Ukraine. Und sein Monopol beschränkt sich nicht auf die zwei wichtigsten Betriebe und Hauptarbeitgeber der Stadt. In den Händen des Oligarchen sind auch zwei von drei lokalen TV-Kanälen, die einzige gedruckte Wochenzeitschrift und die zweitmeist gelesene lokale News-Ressource im Internet.
Das wichtigste Monopol des Oligarchen in Mariupol bildete sich in dem Mehrheitsmonopol, das seit den Kommunalwahlen 2015 über die Stadt herrscht. Diese Wahlen lassen sich nur zum Teil als demokratisch bezeichnen. Sicherlich, Stimmabgabe und Auszählung verliefen wirklich ohne größere Unregelmäßigkeiten. Doch alles, was während des Wahlkampfs passierte, hat mit Demokratie wenig zu tun. Die Gunst der Wähler wurde erkauft mit kostenlosen Konzerten, Lebensmittelkörben, sonstigen Geschenken und sogar ... mit Kuchen! Ganz zu schweigen von den unzähligen, auf Kosten des Unternehmens „Metinvest“ des Oligarchen installierten neuen Spielplätzen und Sitzbänken. Die Bürger, die sich daran gewöhnt haben, dass man „von denen da oben besser irgendwas bekommt als gar nichts“, unterstützten bedauerlicherweise bei den Kommunalwahlen in großer Zahl die Partei des Oligarchen, den „Oppositionsblock“, und dessen Kandidaten für den Bürgermeisterposten in Mariupol – einen ehemaligen Topmanager von „Metinvest“. Neben dem eigentlichen indirekten Stimmenkauf spielten natürlich auch die Angstbotschaften eine große Rolle, die von den PR-Spezialisten des Unternehmens in den Betrieben unter den Arbeitern und entsprechend auch unter deren Familien verbreitet wurden. So hieß es, die Vertreter der Betriebe müssten die Wahl gewinnen, sonst würde die Produktion eingestellt und alle würden arbeitslos. Zwar ist nicht klar, was die kommunale Selbstverwaltung mit den privaten Unternehmen zu tun haben soll. Doch solche Angstbotschaften sollen die Menschen ja gar nicht dazu bringen, rational zu denken. Sie sollen sie dazu bringen, sich von ihren Emotionen und Ängsten leiten zu lassen. Und das hat auch funktioniert.
Was haben diese Wahlen 2015 also für Mariupol gebracht? Einen Bürgermeister, der im Dienst der Betriebe steht, und ein Mehrheitsmonopol des „Oppositionsblocks“, der 90 % der Abgeordnetenmandate im Stadtrat hält. Dabei sind praktisch alle Abgeordneten Mitarbeiter der Betriebe von „Metinvest“ oder auf die ein oder andere Weise mit diesem Unternehmen verbunden.
Vier Jahre später verbirgt selbst Mariupols Bürgermeister Vadim Bojtschenko seine Abhängigkeit von Achmetow nicht mehr – in einem Interview bezeichnete er das Gehalt, das seine Ehefrau von Achmetows Unternehmen „Metinvest“ erhält und sich auf jährlich 6,5 Millionen UAH beläuft, als „Verbindlichkeit des Big Business gegenüber der Stadt“. (Es fällt auf, dass die Gattin des Stadtvorstehers ihre Tätigkeit für „Metinvest“ unmittelbar nach den Wahlen aufnahm.) Entsprechendes lässt sich auch für einen Teil der Stellvertreter des Stadtoberhaupts und der Abgeordneten im Stadtrat sagen, die sich auf die ein oder andere Weise durch „Metinvest“ finanzieren lassen.
Dass die Mehrheit in Stadtrat und Stadtverwaltung von Achmetow abhängig ist, ist offensichtlich. Doch ist das wirklich so schlimm, angesichts all der positiven Veränderungen in der Stadt? Behindert dieses Monopol die Entwicklung von Demokratie in der Ukraine und in Mariupol vielleicht gar nicht? Ist das Monopol und die Finanzierung von Beamten durch den Oligarchen vielleicht gar zum Besten der Bürger?
Die Fakten sprechen dagegen. Man kann wohl kaum von echter Selbstverwaltung sprechen, wenn die meisten Beschlüsse vom Team des Bürgermeisters ohne jede ernsthafte vorbereitende Besprechung zur Abstimmung gebracht und durchgepaukt werden. Wie zum Beispiel der Beschluss über die Aufnahme eines Kredits zur Beschaffung neuer Fahrzeuge für den öffentlichen Nahverkehr. Die Abgeordneten hatten zum Zeitpunkt der Beschlussfassung keine Möglichkeit, sich mit dem Kreditvertrag vertraut zu machen. Dieser enthielt eine obligatorische Klausel, dass der Fahrpreis anzuheben ist. Die Abgeordneten erfuhren von diesem Sachverhalt erst hinterher und konnten ihren Wählern nicht normal erklären, warum es zuvor keine öffentliche Diskussion mit Bürgerbeteiligung gegeben hat. Besonders aufschlussreich an dieser Geschichte ist, dass sich die Stadtverwaltung angesichts friedlicher Proteste aktiver Bürger gegen die Tariferhöhung, die niemand erklärt und niemand mit den Bürgern besprochen hatte, sich nicht anders zu helfen wusste, als über die örtliche Polizei zu versuchen, Strafverfahren gegen die Teilnehmer an den Protesten anzustrengen oder ungesetzliche Bußgelder gegen sie zu verhängen. Das erinnert schon ein wenig an die repressiven Methoden der Russischen Föderation gegenüber ihren eigenen Bürgern, nicht wahr?
Der weitreichendste Interessenskonflikt besteht wohl bei der Ökologie. Wenn die Mehrheit im Stadtrat aus Vertreten des Umweltverschmutzers besteht, ist es naiv, zu hoffen, dass sich diese Mehrheit ökologischer Themen und des Problems der industriellen Emissionen annehmen wird. Nach Meinung des Bürgermeisters und seiner Mehrheit könnten an den schlechten Umweltbedingungen in der Stadt die Autos, die Menschen oder wer auch immer schuld sein, nur nicht die Betriebe. In Wahrheit gehen auf deren Konto 98 % der schädlichen Emissionen aus stationären Quellen in Mariupol. Nicht selten kommt es vor, dass der Bürgermeister und andere städtische Beamte die Interessen des Umweltverschmutzers noch vehementer verteidigen als dessen offizielle Vertreter.
Zugegebenermaßen kommt der Stadtverwaltung keine Kontrollfunktion über die verschmutzenden Betriebe zu; Hebel, um Druck auf die Industrie auszuüben, die die Bürger mit veralteten Anlagen vergiftet, hätte sie gleichwohl – nämlich die Anhebung der Miete bzw. Pacht für die Grundstücke, auf denen sich die Betriebe befinden.
Doch wie könnten sich die Marionetten der Konzerne gegen deren Interessen stellen?
Angesichts dieser Schilderungen der monopolisierten Macht des Oligarchen könnte man glauben, dass es in Mariupol bedenklich schlecht um die Demokratie bestellt ist. Doch das ist nur zum Teil so. Die Nähe der Stadt zur Frontlinie mit der Russischen Föderation und ihren Söldnern hat die Bürgergesellschaft in Mariupol aktiviert. Und genau diese aktiven Bewohner Mariupols treten heute auch als Bewahrer vor einer totalen Willkür der oligarchischen Macht auf den Plan. Die Bereitschaft des aktiven proukrainischen Bevölkerungsteils, sich schnell zu mobilisieren und Widerstand zu leisten, ist viel wert. Es stellt sich heraus, dass selbst fünf oppositionelle Abgeordnete, begleitet durch massive Advocacy-Kampagnen und mit der Unterstützung der aktiven Bürger, das Mehrheitsmonopol davon überzeugen können, die für das Wohl der Stadtgemeinde notwendigen Beschlüsse zu fassen. Auch die laufende Hilfe der europäischen Partner der Ukraine in Form von zahlreichen Beihilfeprojekten zur Demokratieförderung zeigt Ergebnisse – in den Städten bildet sich eine Bürgergesellschaft heraus. Die Menschen beginnen zu verstehen, dass gewählte Regierungen und Verwaltungsorgane Vertreter und nicht Gebieter der Wähler sein sollten. Doch das postsowjetische Generationenerbe wirkt noch immer nach, deswegen wird der Kampf mit dem oligarchischen Monopol um Demokratie nicht einfach. Aber das Ziel erreicht nur, wer sich auf den Weg macht.
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