In Mariupol liegt die Antwort
Die russische Armee hat die Hafenstadt Mariupol dem Erdboden gleich gemacht. Tausende Zivilisten sind dabei ums Leben gekommen. Wie lange will Deutschland noch zuschauen? Ein Essay von Maxim Borodin, der die ersten Tage der Bombardierungen in Mariupol erlebt hat.
Wenn man in einer warmen, komfortablen Wohnung mit Strom, Wasser, Essen, Handy und Internet sitzt, kann man nur schwer verstehen, was die rund 300.000 Bewohner der ukrainischen Stadt Mariupol gerade empfinden. Stellen Sie sich 21 Tage in einer Stadt ohne Strom, Wasser und Heizung vor, in der der Handyempfang nur stundenweise und nur an wenigen Orte der Stadt verfügbar ist. Von Internet ganz zu schweigen. Die Lebensmittelläden sind völlig ausgebombt. Die gesamte Stadt ist durch die ständigen Bombardierungen der russischen Flugzeuge zur Ruine geworden.
Wer Mariupol noch vor drei Wochen – vor dem Einmarsch der Russen in die Ukraine – erlebt hat und jetzt Bilder und Videos aus der Stadt sieht, kann die Tränen nicht zurückhalten. Die Hafenstadt hat in den letzten sieben Jahren eine Vorreiterrolle bei der innovativen Stadtentwicklung eingenommen und sich stetig verändert: neue Parks und Plätze, die Neugestaltung des Stadtzentrums, ein modernes, europäisches Nahverkehrssystem sowie die Schaffung von Zugangsmöglichkeiten für Menschen mit Behinderung.
All das ist wie vom Erdboden verschluckt, als ob es kein friedliches Leben mehr gäbe. In den letzten Wochen wurde Mariupol vom russischen Militär gnadenlos von der Landkarte gefegt – auch, wenn es absurd ist, Menschen, die wahllos tonnenschwere (durch Konventionen verbotene) Brandbomben aus Flugzeugen auf Krankenhäuser, Entbindungskliniken, Schulen und Wohnhäuser werfen, als „Militär“ zu bezeichnen. Das sind Terroristen!
Eine Stadt in die Verzweiflung bomben
Die Erklärung für das, was die russischen Terroristen in Mariupol anrichten, ist simpel: Alle Versuche, Mariupol durch Bodentruppen einzunehmen, sind gescheitert. Das ukrainische Militär in der Stadt ist zu gut ausgebildet. Die Russen haben bei jedem Versuch, die Stadt einzunehmen, zahlreiche Verluste erlitten. Aber da Wladimir Putin den Befehl gegeben hat, die Stadt um jeden Preis einzunehmen, um Bilder von der „Befreiung von den Nazis“ für das russische Fernsehen zu schaffen, wurde stattdessen eine andere Taktik gewählt: die Einwohner zur Verzweiflung bringen.
Seit über einer Woche wird die Stadt ununterbrochen mit schwerer Artillerie und Grad-Raketen beschossen und, was am schlimmsten ist: mit verbotenen Brandbomben aus Flugzeugen bombardiert. Alle Stadtteile sind zerbombt und es gibt praktisch kein einziges, intaktes Gebäude mehr. Das Schauspielhaus von Mariupol, das Tausenden Menschen, darunter Hunderten von Kindern, zum Schutz diente, wurde mutwillig zerstört.
Die Menschen verbringen fast ihre gesamte Zeit in kalten Kellern. In seltenen Momenten der Ruhe wird Essen über offenem Feuer in der Nähe der Häuser zubereitet. Doch die Lebensmittelvorräte sind praktisch aufgebraucht. Wasser wird aus mehreren Quellen und Flüssen gewonnen, ist aber ohne Verarbeitung ungenießbar. Mobiltelefone werden über benzinbetriebene Generatoren geladen. Manchmal hat man Glück und erreicht Bekannte. Auf den Straßen liegen Leichen, die wegen des ständigen Beschusses nicht beseitigt werden konnten.
Die wirklichen Opferzahlen kennt niemand
Die, die von der Straße geschafft werden konnten, werden begraben, wo immer es möglich ist – im Vorgarten, im Gemüsegarten oder vor allem: in Gräben. Die offiziellen Zahlen von etwa 3000 getöteten Zivilisten sind weit von der Wahrheit entfernt. Denn es gibt niemanden, der eine Statistik führt und niemand weiß wirklich, wie viele Tote in den zerstörten Häusern und Wohnungen liegen. Höchstwahrscheinlich sind es bereits ein Dutzend tausend.
Die Zahl der Verwundeten in den Krankenhäusern ist unüberschaubar. Und es werden immer mehr, auch wenn es keine Medikamente mehr gibt. Es gibt auch keine Aussicht auf neue Lieferungen. Genauso wie es keine Möglichkeit gibt, Grundbedürfnisse wie Trinkwasser und Lebensmittel gedeckt zu bekommen.
Denn der Hilfskonvoi, den die ukrainische Regierung seit über einer Woche in die Stadt zu bringen versucht, wird von den russischen Terroristen, die die Stadt eingekesselt haben, einfach nicht durch-gelassen. Mehrere Tage steht der von den Russen teilweise geplündert Konvoi nun schon im besetzten Berdjansk, 80 Kilometer von Mariupol entfernt. Und Gerüchten zufolge sind die Russen nur bei einer vollständigen Kapitulation von Mariupol bereit, Hilfe in die Stadt zu lassen.
Eine Kapitulation wäre nicht das Ende des Kriegs
Viele Europäer sind der Meinung, dass es sich lohnen würde, Mariupol den russischen Terroristen zu überlassen, weil so Menschenleben gerettet werden könnten. Das ist ein Irrtum. Ja, ein Teil der Menschen würde wahrscheinlich gerettet werden, aber der Großteil der Stadt würde samt seinen Einwohnern vernichtet werden. Alle Menschen, die sich aktiv für die ukrainische Bevölkerung einsetzen, werden zu Folter und Tod verurteilt. Sie alle stehen bereits auf Listen. Das wissen wir aufgrund von Erfahrungen aus dem besetzten Wolnowacha und anderen Kleinstädten.
Dasselbe gilt für die Kapitulation der Ukraine als Ganzes. Es wäre nicht das Ende des Krieges und ganz sicher nicht der Beginn eines Friedens. Wladimir Putin sagt ausdrücklich, dass es keine Ukraine geben soll und dass dies nur durch einen Massenvölkermord an 42 Millionen Ukrainern erreicht werden kann. Doch die haben sich nach dem Angriff von Putins Armee wie nie zuvor erhoben und werden sich nie wieder einem Besatzer beugen.
Die Europäer, die sich heute in ihren warmen Häusern und friedlichen Städten mit dem Gedanken trösten, sie seien nicht betroffen, sollten aufwachen und aus ihrer Illusion von Sicherheit erwachen. Putin zerstört nicht nur die Ukraine – er zerstört Demokratie und Wahlrecht. Er hat gerade erst mit dem ersten Nachbarland begonnen. Doch das wird erst der Anfang sein, wenn die zivilisierte Welt ihn nicht sofort aufhält! Ja, er besitzt Atomwaffen, aber in Wirklichkeit ist er ein Feigling, der um sein eigenes Leben fürchtet und nur einen schwächeren Gegner angreifen kann.
Putin blufft
Erinnern Sie sich daran, wie das US-Militär die Elitegruppe Wagner PMC in Syrien besiegte? Oder wie die türkische Luftwaffe kürzlich russische Kampfjets in der Konfliktzone abgeschossen hat? Wie hat Russland darauf reagiert? Gar nicht.
Und wieder einmal ist es ein Bluff Putins, der die europäischen und amerikanischen Partner davon abhält, der Ukraine die so dringend benötigten MIG-29-Flugzeuge und Flugabwehrsysteme zu liefern. Diese Flugzeuge hätten die Befreiung von Mariupol aus der Gefangenschaft der russischen Terroristen ermöglicht und Hunderttausende von Menschenleben gerettet. Und die Luftabwehrsysteme hätten unsere friedlichen Städte verteidigen können, in denen russische Raketen Tag und Nacht Krankenhäuser zerbomben und Kinder töten.
Die Europäer und die Amerikaner haben jetzt genau zwei Möglichkeiten: Sie können der russischen Aggression direkt entgegentreten – zumindest in Form einer angemessenen Militärhilfe für die Ukraine – und gleichzeitig anerkennen, dass Putin den Dritten Weltkrieg längst begonnen hat. Oder sie entscheiden sich für eine vorübergehende Bequemlichkeit und – für eine Schande. Aber zu der Schande wird sehr bald ein Krieg hinzukommen. Schließlich ist all das schon einmal passiert. Das ist ziemlich genau 80 Jahre her.
Komfort über Menschenleben?
Und ich persönlich würde der deutschen Gesellschaft gerne eine Frage stellen: Ist das deutsche Volk, das in seinem Leben den Schrecken eines Kriegs erlebt und seine Lehren daraus gezogen hat, bereit, weiterhin ein terroristisches Land zu finanzieren, indem es Gas und Öl aus Russland kauft? Denn dieses Geld erlaubt es Putin, seinen grausamen Krieg fortzuführen und seine Armee von Propagandisten zu finanzieren. Ist der mögliche Verzicht der Deutschen auf ihren gewohnten Komfort – auch nur vorübergehend – wichtiger als Hunderttausende Menschenleben, die gerettet werden könnten und für die Demokratie und Freiheit keine leeren Phrasen sind?
Beantworten Sie diese Fragen. Das Leid in Mariupol wird Ihnen die Antwort geben.
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