Bohdan Osadczuk – ein Grenzgänger und sein Wirken
Bohdan Osadczuk vereinte in seiner Person viele Rollen. Ausgerechnet von Deutschland aus warb er für die polnisch-ukrainische Verständigung. Von Oleksandra Bienert
Geboren wurde Bohdan Osadczuk 1920 in Kolomyja, heute im Oblast Iwano-Frankiwsk in der Westukraine gelegen. Seine Eltern waren Ukrainer, der Vater war Kommunist und Lehrer, die Mutter stammte aus einer bürgerlichen ukrainisch-slowakischen Familie.
Als Osadczuk zehn Jahre alt war, wurde die Familie im Rahmen der damaligen polnischen Nationalitätenpolitik aufgrund des Berufs seines Vaters nach Boszczynek (unweit von Krakau in Polen) zwangsverlegt. Dort wuchs Osadczuk in einer polnischen Umgebung und mit der polnischen Sprache auf. Ukrainisch wurde nur zuhause im Kreis der Familie gesprochen.
Deutsch lernte er einerseits in der Schule, andererseits schöpfte er seine Kenntnisse, wie er später in seinen Memoiren erzählen sollte, aus der linken Zeitung „Die Rote Fahne“. Auf dem Gymnasium erhielt er wegen eines ‚Vorfalls‘ einen Schulverweis – er setzte sich für einen jüdischen Mitschüler ein. Deswegen konnte er zunächst das Abitur nicht ablegen, das konnte er jedoch 1940 in Krakau im ‚Ukrainischen Zentralkomitee‘ von Wolodymyr Kubijowytsch nachholen.
In der turbulenten Zeit der 1930er und 1940er Jahre beobachtete Osadczuk, wie das polnisch-ukrainische Verhältnis immer angespannter wurde: „Die polnisch-ukrainische Tragödie, die auf dem Chełmer Land begonnen hat, überzeugte mich, wie sehr wir dies [die Feindschaft zwischen Polen und der Ukraine, A. d. Ü.] bekämpfen müssen, weil wir sonst in Aussicht die Perspektive von gegenseitigen unendlichen Morden haben, wovon [nur] unsere Nachbarn gewinnen.„¹
Zwar überlegte Osadczuk, mit der sowjetischen Repatriierungsmission, die damals in Polen im Einsatz war, in die Sowjetunion zurückzukehren, entschied sich aber dagegen. Nach dem Ausbruch des Deutsch-Sowjetischen Krieges reiste er – heute scheint das beinahe unvorstellbar – im Dezember 1941 ausgerechnet nach Berlin. Er gab sich als Student aus Galizien aus, bewarb sich für einen Studienplatz – und wurde angenommen. Hier studierte er das Völkerrecht, die Geschichte der Länder Osteuropas und des Balkans sowie osteuropäische Sprachen. Einige seiner damaligen Kommilitonen aus Osteuropa zogen nach dem Zweiten Weltkrieg weiter in die USA, nach Kanada, Australien. Unter ihnen befanden sich Intellektuelle wie Iwan Lysjak-Rudnycʹkyj, der später in Kanada das Institut für Ukrainische Studien mitbegründete, und Omeljan Pritsak, der erste Direktor des Ukrainischen Instituts an der Harvard University. Osadczuk hingegen blieb in Deutschland. Er promovierte an der Ukrainischen Freien Universität in München und wurde 1966 Professor am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin.
Grenzgänger und Brückenbauer
Osadczuk beherrschte drei Sprachen fließend: Deutsch, Ukrainisch und Polnisch. Und er nahm – was sehr ungewöhnlich und umso bedeutender ist – in allen drei Sprachräumen aktiv an den intellektuellen Debatten teil und beeinflusste sie.
Mehrere Jahrzehnte lang publizierte er Analysen über Osteuropa in der Schweizer Neuen Zürcher Zeitung sowie in deutschen Zeitungen wie dem Tagesspiegel und der ZEIT (teilweise unter dem Pseudonym Alexander Korab). Bedenkt man, dass Osadczuk in Westberlin lebte und zu den Geschehnissen in Osteuropa keinen direkten Zugang hatte, lesen sich seine Artikel unglaublich lebendig. So etwa hier: „Die Wohnung in der Straße der Enthusiasten Nr. 33 in Kyjiw braucht nicht mehr von der Geheimpolizei überwacht zu werden: Familie Pljuschtsch ist im Westen. Aber bis die sowjetische Regierung den Protesten des ‚Internationalen Komitees der Mathematiker für die Verteidigung von Leonid Pljuschtsch‘ und von amnesty international, den unentwegten Appellen des Friedensnobelpreisträgers Andrej Sacharow sowie den Aktionen der Exilukrainer nachgab, mussten zwei Menschen jahrelang Unmenschliches erleiden: der Mathematiker und Bürgerrechtler Leonid Pljuschtsch in der berüchtigten psychiatrischen Sonderklinik von Dnjepropetrowsk und seine Frau Tatjana, Mutter von zwei Kindern, in der problematischen Freiheit in Kyjiw.“²
Von 1956 bis in die 1970er Jahre nahm Osadczuk außerdem an der TV-Sendung „Internationaler Frühschoppen“ teil – als Journalist und Vertreter der Ukraine. Seine Teilnahme löste Empörung seitens der sowjetischen Botschaft aus, die eine Protestnote an das Auswärtige Amt sandte. Osadczuk bezog dazu in der Sendung folgendermaßen Stellung: „Ich bin bereit aufzuhören die Ukraine zu vertreten, unter der Bedingung, dass ein akkreditierter Journalist aus Kiew nach Berlin kommt, ein Vertreter von Radio und Presse, und sich über die sowjetische Geschichte genau so kritisch äußert wie ich. Das ist meine Bedingung. Wenn sie nicht erfüllt wird, werde ich auf meine Teilnahme nicht verzichten.“³
Mit seinen präzisen Analysen und seiner Beobachtung der Geschehnisse in Osteuropa wurde Osadczuk zu einer der wichtigsten Figuren für die westliche Medienlandschaft, die die Ereignisse hinter dem Eisernen Vorhang stets kritisch hinterfragte. Der polnische Dichter und Nobelpreisträger Czesław Miłosz bezeichnete das Lesen von Osadczuks Artikeln als „Heilung von Zweifeln”.
Zusammenarbeit mit Jerzy Giedroyc und der Zeitschrift Kultura
1950 traf Osadczuk auf dem ‚Kongress für Freiheit der Kulturen‘ in Westberlin den Publizisten und Herausgeber der Exilzeitschrift „Kultura“ Jerzy Giedroyc und den Künstler Jósef Czapski. In seinen Erinnerungen beschreibt er dieses Treffen als ein für ihn richtungsweisendes: „Für die beiden Ankömmlinge aus dem Osten war ich ein unbekannter, etwas exotischer Vogel. Sie wussten nichts über mich und es schien, es wäre es für sie schwer, meine Geschichten über das Schicksal, das mich aus Kolomyja nach Zentralpolen und später nach Berlin verschlagen hatte, nachzuvollziehen. Aber ich wusste etwas über sie. […] Ich bekam ein Gefühl, dass ich endlich das fand, was ich gesucht und wovon ich geträumt hatte: den Weg zum Dialog und zur Partnerschaft.“⁴
Giedroyc engagierte sich mit seiner in Paris erscheinenden Zeitschrifft „Kultura“ aktiv für die polnisch-ukrainische Verständigung der Nachkriegszeit, und Osadczuk wurde mit der Zeit einer der wichtigsten Berater der „Kultura“ zu ukrainischen Themen. Die beiden, Osadczuk und Giedroyc, waren sich über die Notwendigkeit einer polnisch-ukrainischen Verständigung einig.
Im Europa der neuen Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg forderte und entwickelte Giedroyc ein Konzept der Verständigung, welches in Osadczuks Worten „Särge der Geschichte begraben“ musste.
Auf dem Weg zu diesem Projekt war Bohdan Osadczuk für Giedroyc ein wichtiger Partner auf der ukrainischen Seite: „Die wichtigste Frage war für uns: Wie können wir zu einem Konzept der Verständigung und Zusammenarbeit kommen? Giedroyc […] ging das Risiko ein, auf die [polnischen, A.d.Ü.] Ansprüche auf Lwiw, Grodna und Vilnius zu verzichten. Ich erinnere mich, dass polnische Intellektuelle zu ihm kamen und meinten – ‚was machen Sie? Die Nationalisten werden Sie töten, Ihre Zeitschrift wird zunichte gemacht.‘ Aber Giedroyc saß nur da, rauchte und meinte: ‚Ich denke, meine Herren, Sie irren sich.‘“ So erinnert sich Osadczuk.⁵
Giedroyc und Osadzuk verbreiteten den Gedanken der polnisch-ukrainischen Verständigung zunächst in ihren Kreisen, schafften es aber schließlich, ihn auch in der Politik der beiden Staaten nach 1991 zu etablieren. Der nicht immer konfliktfreie Dialog und die Zusammenarbeit der beiden Männer dauerten bis zum Tod von Jerzy Giedroyc im Jahre 2000 an; Osadczuk hob danach bis zu seinem Tod im Jahre 2011 weiterhin seine kritische Stimme in Fragen der polnisch-ukrainischen Zusammenarbeit. Für sein Engagement in der polnisch-ukrainischen Verständigung wurde er mehrmals ausgezeichnet, unter anderem 2001 vom polnischen Präsidenten Aleksander Kwaśniewski mit der höchsten Auszeichnung der polnischen Regierung, dem sogenannten Orden des Weißen Adlers. 2006 wurde er von der Stiftung Pogranicze („Grenzregion“) zum ‚Człowiek pogranicza‘ („Grenzgänger“) des Jahres ernannt.
Kurz vor Osadczuks Tod und auch seither sind mehrere Publikationen über ihn erschienen, er ist jedoch immer noch zu wenig bekannt. In der Ukraine wurde 2001 unter dem Titel „Ukraina. Polshcha. Svit. Bohdan Osadczuk“ ein Band mit einigen Artikeln von Osadczuk veröffentlicht, die er in „Kultura“ publiziert hatte. In Polen und in der Ukraine sind 2004 bzw. 2008 Briefe von Jerzy Giedroyc aus seiner ukrainischen Emigration erschienen, darunter auch sein Briefwechsel mit Bohdan Osadczuk: „Emigracja Ukraińska. Listy 1950–1982“. 2012 wurde mit „Ukraiński polonofil. Pamięci Bohdana Osadczuka“ ein weiterer Band herausgegeben, in Gedenken an Bohdan Osadczuk und mit Artikeln über sein Leben. Eine sehr schöne Initiative, die den Gedanken der polnisch-ukrainischen Verständigung aufgreift, wurde außerdem vom Jan-Nowak-Jeziorański-Osteuropa-Kolleg in Wrocław gestartet, in dessen Vorstand Osadczuk seinerzeit Mitglied war: Hier wurde 2014 eine Herbstschule für junge Menschen aus Deutschland, Polen und der Ukraine ins Leben gerufen, die Osadczuks Namen trägt.
Am 1. August 2021 wäre Bohdan Osadczuk hunderteins Jahre alt geworden. Er hinterließ uns den Grenzgänger-Gedanken – und seine Arbeit, welche die Nachkriegsgeschichte veränderte. Die weitere Arbeit an der Überwindung von Grenzen ist nun an uns.
Fußnoten
¹ Kerski, Basil; Kowalczyk, Andrzej Stanisław (2004): Ein ukrainischer Kosmopolit mit Berliner Adresse: Gespräche mit Bohdan Osadczuk
² Korab, Alexander: Drei Jahre im Irrenhaus, in: DIE ZEIT 4/1976
³ Шаповал Ю.: Богдан Осадчук: „Мене називають „отаманом”, що керується винятково власною думкою та власним пером“ in: Український історичний журнал 4/2018
⁴ Kerski, Basil; Kowalczyk, Andrzej Stanisław (2004): Ein ukrainischer Kosmopolit mit Berliner Adresse: Gespräche mit Bohdan Osadczuk
⁵ Europa – Vergangenheit und Zukunft. Vision und Revision. Internationale Konferenz zum Gedenken an Jerzy Giedroyc in Kyjiw, 24–26. November 2006
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