Für eine verantwortliche Sicherheitspolitik statt Beschwichtigungspolitik
Kaum ein Land profitiert so stark von einer freien Ordnung in Europa wie Deutschland. Dennoch herrscht hier ein Kinderglaube an den Pazifismus. Ausgerechnet das Land, das nur durch die Alliierten von der nationalsozialistischen Diktatur befreit werden konnte, erklärt, es gäbe keine militärischen Lösungen. Höchste Zeit für ein Umdenken. Von Jan Claas Behrends
Deutschlands historische Verantwortung für die Verbrechen, die in deutschem Namen im 20. Jahrhundert verübt wurden, ist unbestritten. Aufgrund der ungeheuren Dimension der Taten wirkt sie bis in die Gegenwart fort. Sie gilt den Opfern des nationalsozialistischen Terrors, des Völkermordes an den Juden und des Vernichtungskrieges, den das Deutsche Reich zwischen 1939 und 1945 im Osten des Kontinents geführt hat. Deutschland hat nach dem Krieg in Sachen historischer Aufklärung einiges geleistet, aber bei der Verfolgung der Täter und der Entschädigung der Opfer hätte es sicher mehr tun können. Manche Opfergruppen – insbesondere im Osten Europas – gerieten erst sehr spät, nach der deutschen Einheit, in den Blick. Im Vergleich zu den Pensionen der Wehrmachtsgeneräle waren die Entschädigungen, die sie erhielten, nicht gerade großzügig.
Dennoch wird international anerkannt, dass Deutschland sich seit den 1960er Jahren mit den Verbrechen des Nationalsozialismus auseinandersetzt. Seit den 1990er Jahren wissen wir dank des Aufschwungs der Täterforschung auch, wer die nationalsozialistischen Verbrechen verübte. Kaum ein anderer Genozid ist so gut erforscht wie der Holocaust, kaum eine andere Armee so durchleuchtet wie die Wehrmacht. Historische Aufarbeitung hat dazu beigetragen, dass sich die Beziehungen zu unseren Nachbarn und selbst zu Israel normalisieren konnten. Vertrauen in ein demokratisches Deutschland aufzubauen ist und bleibt eine große Leistung der Bundesrepublik, an der sämtliche demokratische Parteien und auch die historische Forschung mitwirkten.
Doch historisches Wissen bietet keinen Leitfaden für demokratische Außenpolitik. Die Schlussfolgerungen, die wir aus der Vergangenheit ziehen, sind stets politisch und führen in unterschiedliche Richtungen. Die Forderungen „nie wieder Krieg“ und „nie wieder Diktatur“ ziehen unterschiedliche Konsequenzen nach sich. In der deutschen Öffentlichkeit entstanden aus diesem Zwiespalt nach 1945 zwei Strömungen: die Nationalpazifisten, die als Konsequenz aus dem NS und Weltkrieg eine weitgehende Selbstbeschränkung der deutschen Außenpolitik fordern und den Einsatz militärischer Macht – selbst zur Abschreckung – ablehnen, und die Westler, deren Ziel es seit Adenauer und Brandt ist, Deutschland in der atlantischen Welt zu verankern und im Rahmen der NATO und der EU aktiv für Freiheit und Menschenrechte einzutreten. Der Konflikt zwischen diesen beiden Lagern spaltet bis heute die deutsche Politik und ihre Parteien. Er verdeutlicht auch, dass der Prozess der Westbindung Deutschlands bis heute nicht abgeschlossen ist. In jeder Krise bricht sich die Sehnsucht nach einem deutschen Sonderweg Bahn.
Die Nationalpazifisten glauben, dass unsere Nachbarn sich nach einem zurückhaltenden, passiven und neutralen Deutschland sehnen. Für die unmittelbare Nachkriegszeit war das sicher eine richtige Einschätzung. Mittlerweile ist sie jedoch aus der Zeit gefallen – ein kategorisches „nie wieder Krieg“ verkörpert die Sehnsucht nach moralischer Eindeutigkeit und nach einer deutschen Sonderstellung als geläuterter Nation. Die Westbindung mit ihren Bündnisverpflichtungen gilt bei den Pazifisten als Relikt des Kalten Krieges, das es zu überwinden gilt. Ein neutrales Deutschland könnte dann in seiner Rolle als moralische Weltmacht aufgehen und von seiner Schuld gereinigt wieder Vorbild unter den Völkern sein. Eine zutiefst gesinnungsethische, sehr deutsche und gefährliche Illusion, die trotzdem in verschiedenen Schattierungen bei Grünen, Sozialdemokraten und Konservativen wirkmächtig ist.
Nur noch wenige Politikerinnen und Politiker vertreten heute die nationalpazifistische Position in Reinkultur. Doch gern werden Bruchstücke aus diesem Weltbild verwendet, um unpopuläre Entscheidungen zu verschleppen oder zu verhindern. Der Kinderglaube an den Pazifismus manifestiert sich in so populären Merksätzen wie „wir brauchen mehr Dialog“, „es gibt keine militärischen Lösungen“, „alle Seiten müssen jetzt deeskalieren“ oder „wir liefern keine Waffen in Konfliktgebiete“, die beliebig kombiniert und kontextfrei zum Credo deutscher Außenpolitik erklärt werden. Wider aller historischen Erfahrung glaubt man, außenpolitische Konflikte zu lösen, indem man ihnen ausweicht. Tatsächlich läuft diese Politik der Beschwichtigung darauf hinaus, im Konfliktfall stets dem entschlossenen und skrupellosen Gegner das Feld zu überlassen. Den Aggressor nicht zu benennen und zu konfrontieren, stärkt seine Position. Neutralität bedeutet tatsächlich eine Parteinahme gegen das Recht und für die Macht.
Es liegt in Deutschlands Interesse, die freie Ordnung in Europa zu verteidigen
Einen schlechteren Ruf genießen in Berlin hingegen solche klassischen Instrumente moderner Außenpolitik wie Eindämmung, Abschreckung oder responsibility to protect. Sie sind Bestandteile einer verankerten Politik, in der sich Berlin nicht hinter der deutschen Geschichte versteckt und selbst neutralisiert, sondern sich zur Verantwortung für den Erhalt einer freien Ordnung in Europa bekennt. Kaum ein anderes Land hat so vom Umbruch von 1989/91 profitiert wie Deutschland, das von einem geteilten Frontstaat zu einer wohlhabenden Mittelmacht in Europa aufstieg. Es liegt in unserem eigenen Interesse – und im Interesse unserer Verbündeten – diese Ordnung zu verteidigen.
Durch die revisionistische Politik des Kremls unter Putin sind eine Reihe von Staaten in Osteuropa entstanden, deren Souveränität gefährdet ist. Primär geht es in diesen Wochen um das Schicksal der Ukraine, aber auch das Baltikum, Polen und die Schwarzmeerregion sind durch den russischen Aufmarsch bedroht. Große Teile der deutschen Politik haben sich lange gescheut, in diesem Konflikt eindeutig Position zu beziehen. Stets sollten „beide Seiten“ deeskalieren. Dies geschieht auch unter Verweis auf die deutsche Geschichte, die unsere Möglichkeiten beschränke – eine Ansicht, die weder klug noch historisch korrekt ist. Ausgerechnet Deutschland, das nur durch die Alliierten von der nationalsozialistischen Diktatur befreit werden konnte, erklärt, es gäbe keine militärischen Lösungen?
Unser gemeinsames Ziel bleibt Frieden, Freiheit und Stabilität in Europa. Doch dieses Bekenntnis verlangt von Deutschland, dass wir – wie unsere Verbündeten – dafür einstehen. Historisch verantwortlich zu handeln, bedeutet, die Herausforderungen der Gegenwart anzunehmen und sich nicht hinter den vermeintlichen Lehren der eigenen Geschichte zu verstecken. Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Kreml platziert uns auf der falschen Seite – historisch und gegenwärtig. Verantwortliche Sicherheitspolitik ist ein Fundament und kein Gegensatz zur historischen Verantwortung Deutschlands. In Krisenzeiten schwächt ein pazifistisches Deutschland das westliche Bündnis und damit insbesondere diejenigen, die besonders bedroht sind. Zu lange haben wir bereits beschwichtigt und Abseits gestanden. Jetzt gilt es besonnen, aber ebenso entschlossen der Ukraine und unseren Verbündeten beizustehen – ohne historische Scheuklappen. Denn unsere Verantwortung gilt den demokratischen Ländern Osteuropas, denen das nationalsozialistische Deutschland unermessliches Leid zufügte, die sich aber auf ein demokratisches Deutschland verlassen sollten.
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