Nie wieder Krieg?
Die Bevölkerung der Ukraine trägt bislang die Last des Krieges ganz allein. Ein Realitätsschock für das deutsche Gebot „Nie wieder“ kommentiert Marieluise Beck in der taz.
Was bedeutet für Euch „Nie wieder“?
Diese Frage stellte ein erschöpfter und enttäuschter Präsident Selenskij an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages.
Um das „Nie wieder“ ging es auch in der Debatte bei den Grünen über militärische Interventionen. Die Partei geriet in eine Zerreißprobe, als der Zerfall von Jugoslawien zu vier Kriegen führte, deren ersten man schnell übersehen konnte, weil er so kurz war, der aber mit den Gräueltaten von Vukovar und dem Beschuss von Dubrovnik unübersehbar wurde und schließlich in dem großen Morden an den Bosniern endete.
Dieses große Morden wurde vollzogen durch Freischärler und Teile der ehemaligen Jugoslawischen Armee, die das Waffenarsenal eben dieser Armee für den Krieg gegen die Bosnier gesichert hatten. Die Verteidiger von Bosnien hatten faktisch keine militärische Ausrüstung zur Verfügung.
In Turnschuhen im Krieg
Gemäß der Parole „Keine Waffen in Krisengebiete“ verhängte die westliche Welt ein Waffenembargo über die Region. Das konnte den serbischen Kriegern herzlich schnuppe sein. Getroffen wurden die Opfer. Sie konnten sich nicht selbst verteidigen, denn das Waffenembargo hinderte sie am Aufbau einer einigermaßen verteidigungsfähigen Armee. Ich erinnere mich noch gut an diese jungen Männer in Turnschuhen und ohne Helm und Westen.
Diesem Treiben sah der Westen lange zu. Bis das Drama von Srebrenica diesem Zuschauen ein Ende bereitete. 8.000 junge Männer, fast Kinder, die aus einer von der UN ausgerufenen Schutzzone, die keine war, ihren Mördern ausgeliefert wurde.
Das war ein Realitätsschock für all jene, die gemeint hatten, ein bloßes „Nie wieder“ reiche aus, um sich dem Bösen in der Welt entgegenzustellen. Es war – und auch das sollte nicht vergessen werden – der jüdische Überlebende des Warschauer Ghettos Marek Edelman, der lange vor Srebrenica die Weltgemeinschaft zum Eingreifen aufgefordert hatte. Nun war es da, das Ende des fundamentalen Neins zu Waffen für Schutz oder Selbstverteidigung. Der Verteidigungseinsatz der Nato dauerte zehn Tage. Wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn man sich früher zu diesem Schritt entschieden hätte.
Vier Jahre später war das Kosovo dran. Wieder trat zunächst die OSZE auf den Plan. Unbewaffnet und als Beobachter. Sie zählten die auffahrenden Militärkolonnen aus Belgrad. Die ersten Trecks kosovarischer Flüchtlinge machte sich auf gen Süden nach Mazedonien. Das erste Massengrab wurde entdeckt. Die UNO hatte keinen Mechanismus zur Verhinderung eines erneuten Völkermordes. Dieser offensichtliche Widerspruch wurde durch einseitiges Handeln der Nato aufgelöst. Völkerrechtlich nicht eindeutig legitimiert, gerechtfertigt durch die Überzeugung, dass es geboten ist, einen möglichen Völkermord zu verhindern.
Von Jalta zum Maidan
Zeitensprung: Der Zerfall der Sowjetunion entlässt Länder in die Unabhängigkeit, die Teil des sowjetischen Imperiums oder als eigenständige Staaten Teil des Warschauer Paktes gewesen waren.
Auf der politischen Landkarte zeigten sich Länder, die hinter dem trennenden Graben von Jalta verschwunden waren: Polen, Rumänien, Bulgarien oder Lettland, Litauen, Estland und die Ukraine, die unter dem Dach der Sowjetunion im Westen kaum als eigenständige Subjekte gesehen wurden. Das galt insbesondere für die Ukraine. Doch die machte sich bemerkbar und reihte sich ein in das Freiheitsstreben dieser vormals gegen ihren Willen an Stalin vergebenen Vasallen. Die Orangene Revolution schickte 2004 den durch gefälschte Wahlen erkorenen Präsidenten zum Teufel. Doch nach großen Enttäuschungen im Volk kehrte er vier Jahre später als Präsident zurück.
Der Maidan 2014: Ein großes Volksfest. Zunächst. Russische Rockbands traten auf, westliche Politiker gaben sich die Klinke in die Hand, jubelten der Menge von der Bühne aus zu und nahmen ein Bad in der Menge. Ob auch nur einer von ihnen ahnte, dass mit dieser Ermunterung eine Verantwortung erwuchs? Eine Verantwortung an der Seite der Ukrainer zu stehen, falls das Volksfest zu einem Inferno werden würde?
Es blieb nicht bei der Krim
Es kam die Annexion der Krim. Im Handstreich. Unblutig aber brutal. Zumindest in der Folge, als die Krimtataren – zum zweiten Mal nach der Deportation durch Stalin – ihrer Rechte und ihrer Kultur beraubt wurden. Als Verhaftungen stattfanden von denen, die sich dem russischen Regime nicht beugen wollten.
Aber viele bei uns beschwichtigten: Die Krim sei nun mal das Herzblut der Russen. Doch weit gefehlt. Es ging nicht um die Krim allein. Putins Truppen setzten ihren Fuß über die Grenze, vorbereitet durch den GRU und assistiert durch eine fünfte Kolonne von Banditen und halbseidenen Figuren.
Putin machte sich nicht die Mühe, seine Ziele zu verbergen. Die Ukraine sei ein untrennbarer Teil der gemeinsamen Geschichte, Kultur, des „geistlichen Raumes”. Wer sehen wollte, konnte es sehen: Putin würde keine Ruhe geben. Der abgefallene Teil, „das Brudervolk“ sollte zurück ins Imperium. Und bist Du nicht willig, so brauch ich Gewalt.
Leise Töne aus Berlin
Diese Gewalt zog langsam, stetig, mit System und strategischer Logik rund um die Ukraine herauf.
Nicht die NATO kreiste Russland ein. Russland kreiste die Ukraine ein. Im Norden über Belarus, im Osten entlang der Grenze in Südrussland, im Süden über das Schwarze Meer.
Diese als Manöver nur schlecht getarnte Kriegsvorbereitung wurde hingenommen. Die zweite Pipeline durch die Ostsee immer noch als rein betriebswirtschaftliches Projekt geschönt. Die Außenpolitiker begleiteten den Aufmarsch „mit Sorge“. Man werde einen Angriff der Ukraine nicht hinnehmen, hieß es. Was das bedeuten sollte, blieb im Ungewissen.
Es waren die USA, die immer klarer die Erwartung formulierten, dass Putin die Ukraine angreifen lassen würde. Eine westliche Pendeldiplomatie blieb folgenlos. Nun pilgerten sie alle zu ihm – einzeln versteht sich. Gewährt wurden Audienzen im Stile eines Zaren. Sie alle kamen mit leeren Händen aus Moskau zurück. Fazit: Es war Putin herzlich egal, was ihm als Dialog angeboten wurde. Er wollte die Ukraine. Die Ukraine ist nicht Teil der Nato, ein Beistand also ausgeschlossen und Waffen – so u.a. deutsche Doktrin – schickt man nicht ins Krisengebiet.
Der Terror soll sichtbar sein
Die weitere Entwicklung ist hinlänglich bekannt. Mariupol, so hält ein erstes Rechtsgutachten von Prof. Luchterhandt fest, fällt unter den Tatbestand des Völkermords. Seit mehr als zwei Wochen sind 350.000 Menschen ohne Strom, Heizung, Wasser und Nahrung in der Belagerung. Bomben treffen gezielt zivile Ziele. Eine sichere Flucht wird ihnen durch russischen Beschuss unmöglich gemacht.
Der Terror überzieht das Land. Und er wird nicht verborgen. Der Terror soll sichtbar sein. Es geht um die Zermürbung der Bevölkerung. Eine Kinderklinik in Lwiw, die zur Triage gezwungen ist, weil die medizinischen Möglichkeiten beschränkt sind – man stelle sich das nur eine Minute vor.
Es steht außer Zweifel: Die ukrainische Armee ist seit dem Maidan von einem kleinen Häuflein erfahrener Soldaten, die an internationalen Einsätzen teilgenommen hatte, zu einer regulären Armee herangewachsen. Aber dennoch schlecht ausgerüstet, der russischen Armee weit unterlegen.
Die Bundesregierung hielt allzu lange fest an dem Grundsatz: Keine Waffen in Krisengebiete. Nun verfolgen wir den verzweifelten Abwehrkampf unzureichend ausgerüsteter Männer und Frauen, die mit einem hohen Blutzoll die russische Armee aufhalten – bisher aufhalten – unerwartet widerspenstig sind. Aber wie lange noch?
Es ist Zeit für eine Anzahlung
Der jüdische Präsident der Ukraine fleht die Welt um moderne militärische Ausrüstung an. Denn je schlechter die Kämpfer ausgerüstet sind, desto mehr werden sterben. Je weniger den Schlächtern in den Arm gefallen werden kann, desto mehr Zivilisten verlieren ihr Leben. Es klingt pathetisch, wenn Ukrainer reklamieren, sie kämpften auch für unsere Freiheit. Georgier, Moldauer, die Balten und Polen – sie verstehen gut, was damit gemeint ist.
Ein Untergang der Ukraine würde das russische Militär an Polens Grenze bringen. Atomare Iskander-Raketen würden uns noch näher rücken. Und was, wenn Putin mit der Ukraine nicht satt wäre? Was, wenn es um mehr und immer mehr geht? Georgien und die Republik Moldau sowieso, eine Republik Srpska und Serbien auf den Balkan, dann vielleicht doch das Baltikum. Es sind nur 65 km, die diese verletzlichen Staaten mit anderen EU und NATO-Ländern verbindet.
Ist das wirklich nur der Krieg der Ukrainer? Wo ist das „Nie wieder“?
Die Zeitenwende ist da. Der Kanzler spricht von einer notwendigen Abwehr und militärischer Vorsorge. Offenbar wird Gefahr und Gefährdung nicht mehr ausgeschlossen. Für die Ukrainer ist sie heute da. Gelingt ihnen der Sieg, so sind wir sicher. 100 Milliarden sollen in eine neue Bundeswehr fließen. Es ist Zeit für eine Anzahlung an die, die uns die Last des Krieges abnehmen. Gebt ihnen, was sie dafür brauchen. Es geht auch um unsere Sicherheit.
Dieser Text ist zuerst in der taz am 19.03.2022 erschienen.
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