Selenskyj on Stage – Ein politischer Konferenzbericht aus Kyjiw
Vom 12.–14. September fand die jährliche Yalta-European-Strategy (YES) Konferenz in Kyjiw statt. Bei der internationalen Konferenz wird über die europäische Zukunft der Ukraine diskutiert. Zum ersten Mal nahmen nun auch Präsident Selenskyj und sein neues Kabinett daran teil. Ukraine verstehen war ebenfalls vor Ort und Marieluise Beck hat ihre Eindrücke in diesem Bericht festgehalten.
Die jährliche „Yalta European Strategy Conference“ findet seit der Annexion der Krim in Kyjiw statt. Sie endet mit den Worten: “Nächstes Jahr in Yalta” – eine Anspielung auf den Spruch aus der Jüdischen Diaspora – “Nächstes Jahr in Jerusalem”. Bleibt man bei dieser Analogie, würde dem Land eine sehr lange Wartezeit beschieden sein, bis es die Krim zurück erhält.
Happiness now!
Die Konferenz bringt jährlich Politiker und Diplomaten aus aller Welt zusammen, ukrainische Institutionen und NGOs, Rada-Abgeordnete und maßgebliche Vertreter der Regierung. Gastgeber Victor Pinchuk leistet sich zudem teure Gäste aus dem Showbusiness:Der schwerreiche Schwiegersohn des ehemaligen Präsidenten Kutschma verkehrt in den Glamour-Kreisen der Welt – und er zeigt sich sichtlich gerne im Glanz von Film und Mediengrößen. YES 2019 konnte die neue Regierung nach der “Revolution an den Urnen” präsentieren. Konferenzmotto: Happiness now!
Der erste Glanz kam mit dem Präsidenten selbst ins Haus. Wie ein Moderator schritt er die Reihen des Publikums ab, fragte nach den Glücksvorstellungen der Gäste und begab sich dann aufs Podium zu einer braven Rede. Wer die Entfaltung politisch – strategischer Vorstellungen erwartet hatte, wurde enttäuscht. Das allzu Allgemeine wurde in das allzu Konkrete überführt.
Projekte der Regierung Selenskyj: ein Skilift in den Karpaten, ein Filmstudio in Kyjiw, ein Vergnügungspark am Schwarzen Meer. Fragen nicht gestattet. Von Eingeweihten konnte man lernen, dass dieser Präsident sich nicht gern fragen lässt. Öffentliche Auftritte nur zu seinen Bedingungen. Keine Unvorhersehbarkeit.
Brot und Spiele für das Publikum
Die ersten 100 Tage der Regierung Selenskyj sind vorbei. Das Rätsel jedoch, ob er auf eigenen Füßen steht oder doch nur ein Strohmann ist, hinter dem ein mächtiger Oligarch steht, wird nicht gelüftet. Das Image des neuen, unkonventionellen Stils, von Victor Pinchuk als Sensation gelobt, belebte der Ex-Komödiant abends noch einmal mit einer Liveshow für die begeisterten Gäste nach dem Dinner. Brot und Spiele für das Publikum.
Politisch souverän hingegen der Auftritt des neuen Premierministers. 35 Jahre jung, lebendig und trotz erkennbarer politischer Unerfahrenheit ein Politiker mit klaren Vorstellungen: Privatisierung, Liberalisierung, Ausbildung. Bei uns würde man das eine „neoliberale Agenda“ nennen, für die Ukraine mit ihrer überkommenen Staats- und Oligarchenwirtschaft klingt es nach einem Befreiungsschlag. Der Autorin drängte sich die Erinnerung an die jungen Reformer im Russland der neunziger Jahre auf. Denen entglitt der Umbau der Staatswirtschaft in eine Marktwirtschaft.
Die verkrusteten staatlichen Konzerne der Ukraine sind erkennbar nicht wettbewerbsfähig. Privatisierung in einem Land mit großen Kombinaten jedoch bedeutet eine große Herausforderung an ökonomischer Kenntnis, rechtliche Korrektheit und transparente Strukturen. Sonst wird sich das Oligarchentum ein weiteres Mal reich fressen. In Ermangelung rechtsstaatlicher Institutionen, gekennzeichnet durch die allgegenwärtige Bestechlichkeit und kriminelle Absprachen, kann eine missratene Privatisierung zu einer weiteren Verarmung breiter Kreise führen. Wird diese Frage von der jüngsten Regierung Europas bedacht? Wie will sie mit diesen Herausforderungen umgehen? Die Moderatoren hakten leider nicht nach. Ob es Antworten gegeben hätte, darf bezweifelt werden.
Die jungen Mitglieder des Kabinetts stellen sich vor
Doch die Mitglieder des jungen Kabinetts kommen sympathisch daher. Eine blutjunge und ernsthafte Bildungsministerin, ein Digitalminister und ein Wirtschaftsminister mit Turnschuhen, ohne Schlips und Kragen. Unprätentiös, durch und durch westlich und modern. Trifft ihre Idee von einer Ukraine als Wachstumsmaschine unter den Transformationsländern die Realität? 7 % pro Jahr, 40 % in fünf Jahren, wie der Premier verkündete – von zugegeben niedrigem Niveau, aber dennoch sehr wagemutig. Es ist zu vermuten, dass die nötigen Strukturreformen länger dauern als gedacht – falls sie tatsächlich ernsthaft angegangen werden.
254 Abgeordnete hat die Fraktion “Diener des Volkes”, eine satte absolute Mehrheit. Unschön ist, dass sie diese Übermacht flugs nutzte, um die Opposition buchstäblich auf die hinteren Plätze zu verweisen. Die Diener des Volkes legen ihre Fraktion als Riegel in die ersten Reihen. Vom Wechselspiel der Kräfte, vom Zusammenwirken von Mehrheit und Minderheit sind sie damit weit entfernt.
Das ist nicht allen Abgeordneten der Präsidentenpartei bewusst. Dass Institutionen, Regeln und Prinzipien den Schutz vor dem Missbrauch der Macht bedeuten, das formulierte nur der Rockstar Warkatschuk, der mit seiner kleinen Gruppe Golos auf den Oppositionsbänken sitzt. Man tue es zum Nutzen des Volkes, argumentieren viele, die unbestreitbar Gutes im Sinne haben. Dass aber die Dringlichkeit von Reformen nicht die Verletzung von Verfahrensregeln, die Missachtung der Opposition, das Durchregieren rechtfertigt, dass eine so zurechtgestutzte Demokratie vielmehr den Autoritären die Türen öffnet, das wird deutlich unterschätzt von den neu gebackenen Parlamentariern.
Ungut auch, dass, wie zuvor von Janukowytsch und Poroschenko, die staatliche Wahlkommission – gewählt auf sieben Jahre – trotz der weithin als korrekt eingestuften Wahlen des Amtes enthoben wurde. Irritierend auch, dass ein Bürgermeister Klitschko, doch immerhin mit großer Mehrheit gewählt und in der Stadt beliebt, im Handumdrehen seiner Zuständigkeit für die städtische Verwaltung enthoben und damit zum Frühstücksdirektor degradiert wurde. Wohin soll diese Verletzung der Regeln, dieser Ausbau von Macht führen?
Fake-News auch während der Konferenz
Da mag es nicht wundern, dass eine Falschmeldung durch das Publikum geisterte:
Ihor Kolomojskyj habe per Gerichtsbeschluss seine Privatbank zurückerhalten. Diese Nachricht entpuppte sich als Fake. Aber das Gerücht passte in die Landschaft. Der Oligarch, dem in den USA Verfahren wegen des illegalen Verschiebens von Milliarden aus der Ukraine drohen, thronte hoch befriedigt inmitten der Gäste. Nach langer Zeit weitgehender Medien-Abstinenz gab er mit sichtlicher Genugtuung Interviews. 30 Leute soll er im Block Selenskyj in der Rada haben. Wer da noch glaubt, dass ein Kolomoisky ohne berechtigte Hoffnungen aus dem israelischen Exil zurückgekehrt sei, darf sich wohl ein Träumer nennen.
Fazit: Das Projekt Selenskyj bleibt ein Rätsel. Unbestreitbar gibt es in seiner Mann- und Frauschaft ehrliche Reformer, unbestreitbar wurde der sowjetische Habitus des Systems Poroschenko durch eine moderne und junge Generation ersetzt. Es steht uns nicht an, diesen nächsten Anlauf zu Reformen und die, die es nun endlich wissen wollen, besserwisserisch zu kritisieren. Aber Zweifel bleiben angebracht. Es bleibt zu hoffen, dass die EU der Ukraine tatkräftig zur Seite steht, dass korrigierende Strukturen des IWF greifen, dass der Unerfahrenheit der jungen Kräfte kluges Know-how zur Seite gestellt wird. Gift für das junge Team wäre der Druck des Westens, einen Frieden mit Moskau zu den Konditionen des Kremls einzugehen. Das liegt in der Luft. Der Westen will die Rückkehr zum Business as usual mit Putin und bereitet damit den Misserfolg der neuen Kräfte vor, den er dann beklagen wird.
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