Impfstoff als Mittel der Politik: Wie die Ukraine um ihre Vakzinierung ringt
Den COVID-19-Impfstoff hat die Ukraine bisher noch nicht bekommen. Die EU verspricht Hilfe, steht aber auch mit der Ukraine in Konkurrenz. Die Pandemie bleibt international, doch die Lösungen sind immer noch national. Von Ian Bateson
In den USA wurden bisher über 22 Millionen Menschen geimpft, in China über 15 Millionen, in Großbritannien über 7 Millionen und in Deutschland über 1,8 Millionen. In der Ukraine mit ihren 40 Millionen Einwohnern bekam offiziell noch niemand eine Impfdosis. Während reiche Länder versuchen, ihre Bevölkerung in aller Eile zu impfen, geraten ärmere Länder wie die Ukraine ins Hintertreffen.
Die weniger wohlhabenden Staaten müssen versuchen, mit knappem Geld und wenig Einfluss Impfdosen zu besorgen, dabei stehen sie im Wettbewerb mit reichen Ländern. Diese Realität bezeichnet der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, als ein „katastrophales moralisches Versagen”. Es bedeutet vor allem, dass in armen Ländern die Pandemie länger andauern wird als in reicheren.
We’ve taken an in-depth look at when countries across the globe can expect to have vaccinated the majority (60–70%) of their adult population against #Covid19. Read more: https://t.co/qdLLfMqmli pic.twitter.com/Sy4qiRyizM
— The Economist Intelligence Unit (@TheEIU) January 29, 2021
Die Ukraine scheiterte in ihren Gesprächen mit Pfizer/Biontech und anderen westlichen Impfstoffherstellern, nachdem die Trump-Regierung den Export von Impfstoffen verboten hatte. Selenskyj hat die Nachricht über das US-amerikanische Exportverbot für Impfstoffe nicht gut aufgenommen: „Wir sollen wie politische Akrobaten sein, um auf eine Prioritätenliste zu gelangen“, sagte Selenskyj im Dezember, als er betonte, dass das Exportverbot „die Ukraine an das Ende der Warteschlange setzte”.
Schließlich wird die Ukraine Impfstoffe aus dem Westen importieren können, doch die Hauptfrage bleibt: wann? Das Land hat bisher rund 1,2 Millionen Coronavirus-Infektionen und rund 21.500 Todesfälle registriert. Fast alle Experten schätzen diese Zahlen als zu niedrig ein, da es in der Ukraine immer noch schwer ist, auf Corona getestet zu werden. Oft werden nur die am schlimmsten betroffenen Patienten getestet. Das Land testet pro Kopf die wenigsten Menschen in Europa auf das Virus. Zurzeit rechnet die Regierung damit, innerhalb der nächsten zwei Jahre 50 Prozent der Bevölkerung impfen zu können.
Impfstoff aus dem Osten
Mit dem geschlossenen Tor zum Westen musste die Ukraine Hilfe im Osten suchen. Dabei gab es zwei Hauptoptionen: den chinesischen Impfstoff CoronaVac und die russische Entwicklung Sputnik V. Beide Länder verwenden ihre Impfstoffe, um ihre „soft power” in anderen Ländern aufzubauen. Dieses Spiel möchte der Westen zurzeit nicht mitmachen. Vor 10 Jahren hätte die Ukraine den russischen Impfstoff genommen, weil er günstiger ist und schneller geliefert werden könnte. Doch die Ereignisse der letzten Jahre machen dies unmöglich. „Es gibt einen Faktor, der aus Sicht der Interessen Russlands viel wichtiger ist als der medizinische, und das ist der Propagandafaktor”, sagte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba. „Russland kümmert sich nicht um die Gesundheit der Ukrainer, es kümmert sich darum, seine Propagandastempel und seine Ideologie durch die Lieferung des Impfstoffs durchzusetzen”. Ende Januar stimmte das ukrainische Parlament mit überwältigender Mehrheit dafür, die Zulassung von in Russland hergestellten Impfstoffen zu verbieten.
Russische staatliche Medien berichten über eine von der pro-russischen Partei Oppositionsplattform organisierten Unterschriftensammlung für die Zulassung des russischen Impfstoffes in die Ukraine. Die ukrainische Regierung ist davon nicht überzeugt. Russischen Impfstoff ins Land zu lassen und das Image Russlands aufzubessern, während ukrainische Soldaten im Donbas-Krieg sterben, wäre für die Regierung Selenskyjs politischer Selbstmord.
Infolgedessen hat die Ukraine einen Vertrag über den Kauf von 1,8 Millionen Dosen des chinesischen Impfstoffs Sinovac Biontech unterzeichnet. Jede Dosis soll ungefähr 15 Euro kosten. Der Impfstoff wäre damit zwar teurer als der von Biontech/Pfizer in der EU (12 Euro), soll aber viel schneller geliefert werden können.
Mindestens 24 meist weniger wohlhabende Länder haben Verträge mit chinesischen Impfstoffunternehmen unterzeichnet, weil reichere Nationen die meisten Dosen von Pfizer und Moderna beansprucht hatten. Aber auch dieser Impfstoff ist nicht problemlos. In der Türkei versprach die Regierung, dass im Dezember 2020 10 Millionen Dosen des Sinovac-Impfstoffs eintreffen würden, doch bis Anfang Januar wurden gerade einmal drei Millionen Dosen geliefert.
Der Sinovac-Impfstoff ist möglicherweise auch nicht so wirksam wie bisher angenommen. Erst hieß es von türkischen Beamten, der Impfstoff weise laut Studien eine Wirksamkeitsrate von 91 Prozent auf. In Indonesien waren es aber nur 68 Prozent. In Brasilien sagten Forscher zunächst, dass seine Wirksamkeit 78 Prozent betragen würde. Dann berichteten Wissenschaftler am 12. Januar, Sinovac habe eine Wirksamkeitsrate von nur etwas mehr als 50 Prozent, wenn Menschen mit milden Symptomen eingeschlossen werden. Der ukrainische Gesundheitsminister Maksym Stepanov kommentierte die Ergebnisse und sagte, dass die Ukraine einen Impfstoff nur dann annehmen werde, wenn die Wirksamkeit mindestens 70% beträgt.
Impfstrategie trifft auf Gesundheitsreform
Auch wenn die Ukraine noch nicht weiß, wo ihre Impfstoffe jetzt herkommen sollen, wird es ein anderes Problem geben, sobald die Impfstoffe endlich im Land sind: das ukrainische Gesundheitssystem. Theoretisch ist die Gesundheitspflege in der Ukraine kostenlos. Die staatlich bezahlte Gesundheitsvorsorge ist sogar in der Verfassung verankert. Doch in der Wirklichkeit kommt man vor allem bei schweren Erkrankungen ohne Bestechung nicht sehr weit. Die Ressourcen des Staates reichen weder für die Medikamente noch für die Ärzte aus. Ärmere Menschen gehen in die staatlichen Krankenhäuser und verlassen sich auf die begrenzten Ressourcen und Kapazitäten. Das ist ein Grund, warum der Glaube an Alternativmedizin und Wunderheilung so weit verbreitet ist und das Misstrauen gegenüber der anlaufenden Gesundheitsreform so groß ist.
Russische Propaganda versucht, die Situation noch schwieriger zu machen und berichtet über die angeblich gefährlichen westlichen und chinesischen Impfstoffe. Dadurch fühlt sich auch die bereits existierende Impfgegnerschaft verstärkt. Ohne eine aktive Aufklärungskampagne wird es kompliziert sein, ausreichend Menschen für eine freiwillige Impfung zu überzeugen. Der holprige Start der Impfstoffversorgung macht die Situation noch komplizierter.
Impfstoff-Schwarzmarkt
Für die ukrainische Elite sieht die Situation wiederum anders aus. Die Reichen gehen nicht in staatliche Krankenhäuser, sondern lassen sich in privaten Kliniken oder im Ausland behandeln. Wie diese Ungleichheit in der Zukunft aussehen wird, zeigt sich jetzt schon. Laut dem Politiker und Geschäftsmann Mychajlo Brodskyj und einigen Medienberichten werden einflussreiche Ukrainer im Untergeschoss einer Kyiver Privatklinik mit dem BioNTech/Pfizer Impfstoff bereits geimpft. Die Impfung koste 2.500 Euro für beide Impfdosen statt die 24 Euro, die sie in der EU kosten würden. Der Impfstoff wurde angeblich Ende Dezember mit einem Charterflug aus Israel in die Ukraine transportiert. Israel hat bereits über 20 Prozent seiner Bevölkerung geimpft und ist ein beliebtes Ziel der ukrainischen Elite für medizinische Behandlung.
Der in der Ukraine geborene israelische Gesundheitsminister Juli-Joel Edelstein behauptet, dass es zu schwierig sei, den BioNTech/Pfizer-Impfstoff geheim zu transportieren. Um seine Wirksamkeit nicht zu verlieren, muss die Vakzine bei minus 70 Grad Celsius aufbewahrt werden. Doch der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU bestätigt eine Medikamentenlieferung aus Israel. Selenskyj hat den möglichen Impfstoff-Import scharf kritisiert. Er wird in den ukrainischen sozialen Netzwerken selbst für den Mangel an Impfstoffen und das Missmanagement kritisiert. Solange der Staat nicht ausreichend Impfstoff besorgen kann, ist es zu erwarten, dass der Schwarzhandel von Impfdosen weiterwachsen wird. Mit der steigenden Anzahl von geimpften Personen in anderen Ländern wird es zunehmend leicht sein, sich den Impfstoff im Ausland zu besorgen.
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