Impf­stoff als Mittel der Politik: Wie die Ukraine um ihre Vak­zi­nie­rung ringt

@ Andrii Klapko /​ Shut­ter­stock

Den COVID-19-Impf­stoff hat die Ukraine bisher noch nicht bekom­men. Die EU ver­spricht Hilfe, steht aber auch mit der Ukraine in Kon­kur­renz. Die Pan­de­mie bleibt inter­na­tio­nal, doch die Lösun­gen sind immer noch natio­nal. Von Ian Bateson

In den USA wurden bisher über 22 Mil­lio­nen Men­schen geimpft, in China über 15 Mil­lio­nen, in Groß­bri­tan­nien über 7 Mil­lio­nen und in Deutsch­land über 1,8 Mil­lio­nen. In der Ukraine mit ihren 40 Mil­lio­nen Ein­woh­nern bekam offi­zi­ell noch niemand eine Impf­do­sis. Während reiche Länder ver­su­chen, ihre Bevöl­ke­rung in aller Eile zu impfen, geraten ärmere Länder wie die Ukraine ins Hintertreffen.

Die weniger wohl­ha­ben­den Staaten müssen ver­su­chen, mit knappem Geld und wenig Ein­fluss Impf­do­sen zu besor­gen, dabei stehen sie im Wett­be­werb mit reichen Ländern. Diese Rea­li­tät bezeich­net der Gene­ral­di­rek­tor der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­tion (WHO), Tedros Adhanom Ghe­brey­e­sus, als ein „kata­stro­pha­les mora­li­sches Ver­sa­gen”. Es bedeu­tet vor allem, dass in armen Ländern die Pan­de­mie länger andau­ern wird als in reicheren.

Die Ukraine schei­terte in ihren Gesprä­chen mit Pfizer/​Biontech und anderen west­li­chen Impf­stoff­her­stel­lern, nachdem die Trump-Regie­rung den Export von Impf­stof­fen ver­bo­ten hatte. Selen­skyj hat die Nach­richt über das US-ame­ri­ka­ni­sche Export­ver­bot für Impf­stoffe nicht gut auf­ge­nom­men: „Wir sollen wie poli­ti­sche Akro­ba­ten sein, um auf eine Prio­ri­tä­ten­liste zu gelan­gen“, sagte Selen­skyj im Dezem­ber, als er betonte, dass das Export­ver­bot „die Ukraine an das Ende der War­te­schlange setzte”.

Schließ­lich wird die Ukraine Impf­stoffe aus dem Westen impor­tie­ren können, doch die Haupt­frage bleibt: wann? Das Land hat bisher rund 1,2 Mil­lio­nen Coro­na­vi­rus-Infek­tio­nen und rund 21.500 Todes­fälle regis­triert. Fast alle Exper­ten schät­zen diese Zahlen als zu niedrig ein, da es in der Ukraine immer noch schwer ist, auf Corona getes­tet zu werden. Oft werden nur die am schlimms­ten betrof­fe­nen Pati­en­ten getes­tet. Das Land testet pro Kopf die wenigs­ten Men­schen in Europa auf das Virus. Zurzeit rechnet die Regie­rung damit, inner­halb der nächs­ten zwei Jahre 50 Prozent der Bevöl­ke­rung impfen zu können.

Impf­stoff aus dem Osten

Mit dem geschlos­se­nen Tor zum Westen musste die Ukraine Hilfe im Osten suchen. Dabei gab es zwei Haupt­op­tio­nen: den chi­ne­si­schen Impf­stoff Coro­na­Vac und die rus­si­sche Ent­wick­lung Sputnik V. Beide Länder ver­wen­den ihre Impf­stoffe, um ihre „soft power” in anderen Ländern auf­zu­bauen. Dieses Spiel möchte der Westen zurzeit nicht mit­ma­chen. Vor 10 Jahren hätte die Ukraine den rus­si­schen Impf­stoff genom­men, weil er güns­ti­ger ist und schnel­ler gelie­fert werden könnte. Doch die Ereig­nisse der letzten Jahre machen dies unmög­lich. „Es gibt einen Faktor, der aus Sicht der Inter­es­sen Russ­lands viel wich­ti­ger ist als der medi­zi­ni­sche, und das ist der Pro­pa­gan­da­fak­tor”, sagte der ukrai­ni­sche Außen­mi­nis­ter Dmytro Kuleba. „Russ­land kümmert sich nicht um die Gesund­heit der Ukrai­ner, es kümmert sich darum, seine Pro­pa­gand­a­s­tem­pel und seine Ideo­lo­gie durch die Lie­fe­rung des Impf­stoffs durch­zu­set­zen”. Ende Januar stimmte das ukrai­ni­sche Par­la­ment mit über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit dafür, die Zulas­sung von in Russ­land her­ge­stell­ten Impf­stof­fen zu ver­bie­ten.

Rus­si­sche staat­li­che Medien berich­ten über eine von der pro-rus­si­schen Partei Oppo­si­ti­ons­platt­form orga­ni­sier­ten Unter­schrif­ten­samm­lung für die Zulas­sung des rus­si­schen Impf­stof­fes in die Ukraine. Die ukrai­ni­sche Regie­rung ist davon nicht über­zeugt. Rus­si­schen Impf­stoff ins Land zu lassen und das Image Russ­lands auf­zu­bes­sern, während ukrai­ni­sche Sol­da­ten im Donbas-Krieg sterben, wäre für die Regie­rung Selen­skyjs poli­ti­scher Selbstmord.

Infol­ge­des­sen hat die Ukraine einen Vertrag über den Kauf von 1,8 Mil­lio­nen Dosen des chi­ne­si­schen Impf­stoffs Sinovac Biontech unter­zeich­net. Jede Dosis soll unge­fähr 15 Euro kosten. Der Impf­stoff wäre damit zwar teurer als der von Biontech/​Pfizer in der EU (12 Euro), soll aber viel schnel­ler gelie­fert werden können.

Min­des­tens 24 meist weniger wohl­ha­bende Länder haben Ver­träge mit chi­ne­si­schen Impf­stoff­un­ter­neh­men unter­zeich­net, weil rei­chere Natio­nen die meisten Dosen von Pfizer und Moderna bean­sprucht hatten. Aber auch dieser Impf­stoff ist nicht pro­blem­los. In der Türkei ver­sprach die Regie­rung, dass im Dezem­ber 2020 10 Mil­lio­nen Dosen des Sinovac-Impf­stoffs ein­tref­fen würden, doch bis Anfang Januar wurden gerade einmal drei Mil­lio­nen Dosen geliefert.

Der Sinovac-Impf­stoff ist mög­li­cher­weise auch nicht so wirksam wie bisher ange­nom­men. Erst hieß es von tür­ki­schen Beamten, der Impf­stoff weise laut Studien eine Wirk­sam­keits­rate von 91 Prozent auf. In Indo­ne­sien waren es aber nur 68 Prozent. In Bra­si­lien sagten For­scher zunächst, dass seine Wirk­sam­keit 78 Prozent betra­gen würde. Dann berich­te­ten Wis­sen­schaft­ler am 12. Januar, Sinovac habe eine Wirk­sam­keits­rate von nur etwas mehr als 50 Prozent, wenn Men­schen mit milden Sym­pto­men ein­ge­schlos­sen werden. Der ukrai­ni­sche Gesund­heits­mi­nis­ter Maksym Ste­pa­nov kom­men­tierte die Ergeb­nisse und sagte, dass die Ukraine einen Impf­stoff nur dann anneh­men werde, wenn die Wirk­sam­keit min­des­tens 70% beträgt.

Impf­stra­te­gie trifft auf Gesundheitsreform

Auch wenn die Ukraine noch nicht weiß, wo ihre Impf­stoffe jetzt her­kom­men sollen, wird es ein anderes Problem geben, sobald die Impf­stoffe endlich im Land sind: das ukrai­ni­sche Gesund­heits­sys­tem. Theo­re­tisch ist die Gesund­heits­pflege in der Ukraine kos­ten­los. Die staat­lich bezahlte Gesund­heits­vor­sorge ist sogar in der Ver­fas­sung ver­an­kert. Doch in der Wirk­lich­keit kommt man vor allem bei schwe­ren Erkran­kun­gen ohne Bestechung nicht sehr weit. Die Res­sour­cen des Staates reichen weder für die Medi­ka­mente noch für die Ärzte aus. Ärmere Men­schen gehen in die staat­li­chen Kran­ken­häu­ser und ver­las­sen sich auf die begrenz­ten Res­sour­cen und Kapa­zi­tä­ten. Das ist ein Grund, warum der Glaube an Alter­na­tiv­me­di­zin und Wun­der­hei­lung so weit ver­brei­tet ist und das Miss­trauen gegen­über der anlau­fen­den Gesund­heits­re­form so groß ist.

Rus­si­sche Pro­pa­ganda ver­sucht, die Situa­tion noch schwie­ri­ger zu machen und berich­tet über die angeb­lich gefähr­li­chen west­li­chen und chi­ne­si­schen Impf­stoffe. Dadurch fühlt sich auch die bereits exis­tie­rende Impf­geg­ner­schaft ver­stärkt. Ohne eine aktive Auf­klä­rungs­kam­pa­gne wird es kom­pli­ziert sein, aus­rei­chend Men­schen für eine frei­wil­lige Impfung zu über­zeu­gen. Der holp­rige Start der Impf­stoff­ver­sor­gung macht die Situa­tion noch komplizierter. 

Impf­stoff-Schwarz­markt

Für die ukrai­ni­sche Elite sieht die Situa­tion wie­derum anders aus. Die Reichen gehen nicht in staat­li­che Kran­ken­häu­ser, sondern lassen sich in pri­va­ten Kli­ni­ken oder im Ausland behan­deln. Wie diese Ungleich­heit in der Zukunft aus­se­hen wird, zeigt sich jetzt schon. Laut dem Poli­ti­ker und Geschäfts­mann Mycha­jlo Brod­skyj und einigen Medi­en­be­richten werden ein­fluss­rei­che Ukrai­ner im Unter­ge­schoss einer Kyiver Pri­vat­kli­nik mit dem BioNTech/​Pfizer Impf­stoff bereits geimpft. Die Impfung koste 2.500 Euro für beide Impf­do­sen statt die 24 Euro, die sie in der EU kosten würden. Der Impf­stoff wurde angeb­lich Ende Dezem­ber mit einem Char­ter­flug aus Israel in die Ukraine trans­por­tiert. Israel hat bereits über 20 Prozent seiner Bevöl­ke­rung geimpft und ist ein belieb­tes Ziel der ukrai­ni­schen Elite für medi­zi­ni­sche Behandlung.

Der in der Ukraine gebo­rene israe­li­sche Gesund­heits­mi­nis­ter Juli-Joel Edel­stein behaup­tet, dass es zu schwie­rig sei, den BioNTech/P­fi­zer-Impf­stoff geheim zu trans­por­tie­ren. Um seine Wirk­sam­keit nicht zu ver­lie­ren, muss die Vakzine bei minus 70 Grad Celsius auf­be­wahrt werden. Doch der ukrai­ni­sche Inlands­ge­heim­dienst SBU bestä­tigt eine Medi­ka­men­ten­lie­fe­rung aus Israel. Selen­skyj hat den mög­li­chen Impf­stoff-Import scharf kri­ti­siert. Er wird in den ukrai­ni­schen sozia­len Netz­wer­ken selbst für den Mangel an Impf­stof­fen und das Miss­ma­nage­ment kri­ti­siert. Solange der Staat nicht aus­rei­chend Impf­stoff besor­gen kann, ist es zu erwar­ten, dass der Schwarz­han­del von Impf­do­sen wei­ter­wach­sen wird. Mit der stei­gen­den Anzahl von geimpf­ten Per­so­nen in anderen Ländern wird es zuneh­mend leicht sein, sich den Impf­stoff im Ausland zu besorgen.

Hilfe aus der EU? 

Die Ukraine soll 8 Mil­lio­nen Impf­do­sen von der glo­ba­len Impf-Allianz COVAX erhal­ten. Ukrai­ni­sche Behör­den rechnen damit, bereits im Februar die ersten 100.000 bis 200.000 Impf­do­sen von Biontech/​Pfizer im Rahmen des COVAX-Pro­gramms zu erhal­ten. Die EU ist mit 800 Mil­lio­nen Euro der größte Spender in der glo­ba­len Impf-Initia­tive. Aber bei einer Bevöl­ke­rung von über 40 Mil­lio­nen Ein­woh­nern sind die ver­spro­che­nen 8 Mil­lio­nen Impf­do­sen für die Ukraine zu wenig. Selbst wenn das Land die 1,8 Mil­lio­nen Dosen von Sinovac Biontech akzep­tiert und recht­zei­tig erhält, kann der Groß­teil der Bevöl­ke­rung nicht immu­ni­siert werden. Selen­skyj beauf­tragte die Ent­wick­lung eines detail­lier­ten Impf­pro­gramms, aber ohne aus­rei­chend Impf­do­sen, die auch in der Ukraine nicht pro­du­ziert werden können, ist das unmöglich.
Die Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­sion Ursula von der Leyen schrieb einen Brief an Prä­si­dent Selen­skyj und ver­sprach der Ukraine Hilfe, damit diese so bald wie möglich Coro­na­vi­rus-Impf­stoffe erhal­ten kann. Wie schnell diese Hilfe kommen wird und ob sie aus­rei­chend sein wird, ist noch unklar.

Textende

Portrait von Ian Bateson

Ian Bateson ist freier Jour­na­list und war Fellow beim Kennan Institute.

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