Argu­men­ta­ti­ons­grund­lage zu Ukraine-Themen. Teil 1

Pro Ukraine Kundgebung, Deutschland, Berlin, 24.02.2024
Foto: IMAGO /​ IPON

Mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung und Sicher­heits­ga­ran­tien für die Ukraine

Das Trans­at­lan­tic Dia­lo­gue Center, gemein­sam mit dem Zentrum Libe­rale Moderne und Open Plat­form, hat zen­trale Argu­mente zur Unter­stüt­zung der Ukraine zusam­men­ge­fasst. Das Papier ist in drei The­men­be­rei­che geglie­dert und behan­delt ver­schie­dene Themen: von der mili­tä­ri­schen Hilfe für die Ukraine, über stren­gere Sank­tio­nen gegen Russ­land, die Rück­füh­rung depor­tier­ter Kinder, bis hin zur Unter­stüt­zung für den Ener­gie­sek­tor, Reha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­men und Minenräumung.

Teil 2: Beschlag­nah­mung rus­si­schen Staats­ver­mö­gens, Ver­schär­fung der Sank­tio­nen und Rück­füh­rung der zwangs­de­por­tier­ten ukrai­ni­schen Kinder
Teil 3: Ener­gie­sek­tor, Reha­bi­li­ta­tion und Minenräumen
Alle Teile

1. Der Schutz der Ukraine liegt im Inter­esse Deutsch­lands und der EU

  • Die Bereit­stel­lung not­wen­di­ger mili­tä­ri­scher Hilfe für die Ukraine wird die Dauer des Krieges ver­kür­zen und die lang­fris­ti­gen Kosten für euro­päi­sche Länder senken. Während sich der Krieg hin­zieht, steigt der Bedarf der Ukraine an huma­ni­tä­rer und wirt­schaft­li­cher Unter­stüt­zung und sowohl direkte als auch indi­rekte Schäden nehmen zu.[1]
  • Durch den Wahl­sieg Donald Trumps in den USA sieht sich Europa gezwun­gen, sein Sicher­heits­sys­tem grund­le­gend zu über­den­ken und mehr Ver­ant­wor­tung für die eigene Sicher­heit zu über­neh­men. Jah­re­lang pro­fi­tierte Europa von exter­nen Sicher­heits­ga­ran­tien, ohne aus­rei­chend in eigene Sicher­heits­struk­tu­ren zu inves­tie­ren und seine Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit aus­zu­bauen. Eine geschwächte Ukraine – oder schlim­mer noch: eine Ukraine unter rus­si­scher Besat­zung oder rus­si­schem Ein­fluss – würde die euro­päi­sche Sicher­heit erheb­lich gefähr­den und die Ver­tei­di­gungs­aus­ga­ben weiter in die Höhe treiben. Eine starke Ukraine hin­ge­gen, die eine Schlüs­sel­rolle in der neuen euro­päi­schen Sicher­heits­ar­chi­tek­tur ein­nimmt, würde die Sta­bi­li­tät und Stärke Europas nach­hal­tig fördern.
  • Während Russ­land Unter­stüt­zung aus dem Iran, Nord­ko­rea und China erhält – was sich durch den Einsatz von Tau­sen­den ira­ni­schen Drohnen und die Lie­fe­rung von acht Mil­lio­nen Gra­na­ten aus Nord­ko­rea zeigt[2]müssen die west­li­chen Ver­bün­de­ten sicher­stel­len, dass die Ukraine nicht unter­le­gen ist. Seit 2022 hat Deutsch­land dem Ukraine Support Tracker des IfW Kiel zufolge ins­ge­samt rund 10,6 Mil­li­ar­den Euro an mili­tä­ri­scher Hilfe bereit­ge­stellt, was etwa vier Mil­li­ar­den Euro pro Jahr ent­spricht, also 0,1 Prozent des BIP. Das ent­spricht 130 Euro pro Kopf in Deutsch­land. Zum Ver­gleich: Während des Zweiten Golf­kriegs zwi­schen Irak und Kuwait stellte Deutsch­land 1991 sechs­mal so viel Hilfe bereit, nämlich 0,6 Prozent des BIP, was etwa vier Prozent des gesam­ten Bun­des­haus­halts aus­machte – heute wären das rund 25,5 Mil­li­ar­den Euro.[3] Selbst, wenn man die bila­te­rale huma­ni­täre und finan­zi­elle Hilfe an die Ukraine mit ein­be­zieht, bleiben die kumu­lier­ten Bei­träge Deutsch­lands im Ver­hält­nis zur Wirt­schafts­leis­tung mit 0,14 Prozent des BIP seit 2022 beschei­den und liegen damit auf Platz 15 der Partner der Ukraine.[4] [5]
  • Putins Ziel ist es, die euro­päi­sche Sicher­heits­ord­nung zu zer­stö­ren, um Russ­lands Ein­fluss im mitt­le­ren und öst­li­chen Europa aus­zu­wei­ten. Dabei spielen die Ukraine und andere ost­eu­ro­päi­sche und bal­ti­sche Staaten eine zen­trale Rolle. Sollte Putin wei­ter­hin mili­tä­ri­sche Erfolge in der Ukraine erzie­len, kann er das nutzen, um weitere euro­päi­sche Länder, die aus seiner Sicht zum „rus­si­schen Impe­rium“ gehören (z. B. Estland, Lett­land, Geor­gien), anzu­grei­fen. Nach Ein­stel­lung der Kampf­hand­lun­gen in der Ukraine könnten auch bis­he­rige Beschrän­kun­gen Chinas fallen, kom­plette Rüs­tungs­gü­ter (Panzer, Artil­le­rie­sys­teme etc.) an Russ­land zu liefern. Allein aus Gebraucht­be­stän­den des chi­ne­si­schen Mili­tärs wäre die rus­si­sche Armee schnel­ler wieder auf­zu­rüs­ten als die demo­kra­ti­schen Systeme Europas eine Nach­rüs­tung ihrer Streit­kräfte innen­po­li­tisch durch­set­zen und bud­ge­tie­ren könnten.
  • Ein Ver­sa­gen des Westens bei der Wahrung der inter­na­tio­na­len Sicher­heits­ord­nung würde Auto­kra­ten welt­weit ermu­ti­gen, selbst ter­ri­to­riale For­de­run­gen zu erheben und diese mit mili­tä­ri­schen Mitteln durch­zu­set­zen. Die rus­si­sche Argu­men­ta­ti­ons­li­nie, „his­to­ri­sche Gebiete“ zu bean­spru­chen und „his­to­ri­sches Unrecht“ wie­der­gut­zu­ma­chen, wird welt­weit immer belieb­ter. Gleich­zei­tig würde der Welt vor Augen geführt werden, dass nukleare Bewaff­nung mit Straf­min­de­rung ein­her­geht. Der Anreiz, sich eben­falls nuklear zu bewaff­nen, würde damit nicht nur unter jenen Staaten steigen, die die gegen­wär­tige inter­na­tio­nale Ordnung anfech­ten (Nord­ko­rea, Iran), sondern auch unter denen, die mög­li­che Opfer revi­sio­nis­ti­scher Bestre­bun­gen anderer sind und sich durch inter­na­tio­na­les Recht allein nicht aus­rei­chend geschützt sehen.
  • Eine nach­hal­tige Sta­bi­li­sie­rung der Sicher­heit der Ukraine würde künf­tige Flucht­be­we­gun­gen in die EU ver­hin­dern. Stand Mitte 2024 machte direkte mili­tä­ri­sche Hilfe weniger als ein Drittel der Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen der deut­schen Regie­rung für die Ukraine aus, während rund 60 Prozent dieser Mittel unmit­tel­bar für die Unter­stüt­zung ukrai­ni­scher Geflüch­te­ter in Deutsch­land ver­wen­det wurden.[6] Die Aus­sicht auf einen dau­er­haf­ten und gerech­ten Frieden in der Ukraine würde den vor dem Krieg geflüch­te­ten Men­schen eine Rück­kehr in ihre Heimat ermög­li­chen. Mili­tä­ri­sche Erfolge Russ­lands, die Okku­pa­tion wei­te­rer ukrai­ni­scher Gebiete, das Fehlen belast­ba­rer Sicher­heits­ga­ran­tien und eine insta­bile Situa­tion in der Region infolge unzu­rei­chen­der Unter­stüt­zung hin­ge­gen könnten dazu führen, dass wei­ter­hin zahl­rei­che Men­schen aus der Ukraine fliehen müssen – vor allem in andere euro­päi­sche Länder, ins­be­son­dere nach Deutschland.
  • Die Ukraine zu unter­stüt­zen bedeu­tet, grund­le­gende Werte zu schüt­zen, die der regel­ba­sier­ten Welt­ord­nung zugrunde liegen. Deutsch­land sollte seine Unter­stüt­zung für die Ukraine nicht nur aus geo­po­li­ti­schen oder stra­te­gi­schen Sicher­heits­grün­den fort­set­zen, sondern auch aus der Ver­pflich­tung heraus, inter­na­tio­nale Men­schen­rechts­stan­dards und Demo­kra­tie zu verteidigen.
  • In der „Ver­ein­ba­rung über Sicher­heits­zu­sam­men­ar­beit und lang­fris­tige Unter­stüt­zung zwi­schen der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land und der Ukraine“[7] vom Februar 2024 bekräf­tigte Deutsch­land ent­schlos­sen, die Sou­ve­rä­ni­tät, Unab­hän­gig­keit und ter­ri­to­riale Unver­sehrt­heit der Ukraine inner­halb ihrer seit 1991 inter­na­tio­nal aner­kann­ten Grenzen zu wahren. Jede Abwei­chung von den zwi­schen Deutsch­land und der Ukraine ver­ein­bar­ten Grund­sät­zen im Streben nach einem „Kom­pro­miss mit Russ­land“ wider­spricht der ver­ein­bar­ten Sicher­heits­stra­te­gie und unter­gräbt die Glaub­wür­dig­keit der regel­ba­sier­ten inter­na­tio­na­len Ordnung.
  • In einem mili­tä­risch sieg­rei­chen Russ­land würden sich gegen­wär­tige tota­li­täre Ten­den­zen und mili­ta­ris­tisch-impe­ria­lis­ti­sche Iden­ti­täts­stif­tung ver­fes­ti­gen. In einer innen­po­li­tisch immer schwie­ri­ge­ren Situa­tion würde der mili­tä­ri­sche Erfolg und der exis­ten­zi­elle Kon­flikt mit dem Westen über Jahr­zehnte die zen­trale poli­ti­sche Prägung des rus­si­schen Systems dar­stel­len. Weit über Putins Amts­zeit hinaus würden sich in rus­si­schen Eliten und in der Bevöl­ke­rung Denk­mus­ter ein­prä­gen, die mit jeder Form der fried­li­chen Koexis­tenz und Annä­he­rung an euro­päi­sche Struk­tu­ren unver­ein­bar sind. Eine Wie­der­an­nä­he­rung Russ­lands an Europa kann nur durch eine klare Nie­der­lage in der Ukraine erfol­gen. Denn die Erfah­rung der Unren­ta­bi­li­tät von Kriegen und des Ver­lusts von impe­ria­lem Ein­fluss sind die geis­tige Grund­lage, auf der die euro­päi­sche Inte­gra­tion nach 1945 fußt. Gerade die­je­ni­gen, die sich eine Wie­der­an­nä­he­rung an Russ­land wün­schen, sollten umso härter an dessen mili­tä­ri­scher Nie­der­lage arbeiten.

2. Die Unter­stüt­zung der Ukraine auf ihrem Weg in die NATO 
liegt im Inter­esse Deutschlands

  • Die Auf­nahme der Ukraine in die NATO würde die Ver­tei­di­gungs­po­si­tion der Allianz stärken, ins­be­son­dere an ihrer Ost­flanke. Da Russ­land in den stra­te­gi­schen Doku­men­ten der NATO als größte Bedro­hung defi­niert wird, macht die unmit­tel­bare Kampf­erfah­rung der Ukraine sie zu einem unver­zicht­ba­ren starken Partner.
  • Die Auf­nahme der Ukraine in die NATO würde zudem die mili­tä­ri­sche Moral Russ­lands schwä­chen. Die Erwei­te­rung der NATO in den letzten 20 Jahren war eine defen­sive Reak­tion auf die aggres­sive Politik Russ­lands und keine „Pro­vo­ka­tion“. Dies zeigt am besten der jüngste Bei­tritt Finn­lands und Schwe­dens. Frühere Ver­träge mit Russ­land wie der Zwei-plus-Vier-Vertrag und die NATO-Russ­land-Grund­akte unter­stüt­zen das Recht euro­päi­scher Staaten, ihre Bünd­nisse frei zu wählen.
  • Ein klarer Weg zur NATO-Mit­glied­schaft würde der Ukraine wirt­schaft­li­che Sta­bi­li­tät und Hoff­nung bieten. Ein glaub­wür­di­ger Sicher­heits­schirm der NATO fördert aus­län­di­sche Inves­ti­tio­nen und die Rück­kehr ver­trie­be­ner Men­schen in die Ukraine und mindert so das Risiko wirt­schaft­li­cher Sta­gna­tion und Entvölkerung.
  • Die aktu­el­len Kriege sind Tech­no­lo­gie­kriege. Eine Zusam­men­ar­beit – der Aus­tausch von Infor­ma­tio­nen über Tech­no­lo­gien, über hybride Bedro­hun­gen, Cyber­si­cher­heit, Ener­gie­si­cher­heit und Resi­li­enz – mit der Ukraine wird die NATO als Allianz stärken und ihre Wei­ter­ent­wick­lung vorantreiben.
  • Eine NATO-Mit­glied­schaft ist die wirk­samste Sicher­heits­ga­ran­tie für die Ukraine ange­sichts der wie­der­hol­ten Ver­stöße Russ­lands gegen Abkom­men wie das Buda­pes­ter Memo­ran­dum und die Minsker Ver­ein­ba­run­gen. Da sich die USA zuneh­mend auf Asien kon­zen­trie­ren und nicht bereit sind, bila­te­rale Sicher­heits­ga­ran­tien in Europa aus­zu­wei­ten, bietet die NATO den ein­zi­gen gang­ba­ren Weg zu dau­er­haf­tem Frieden und Sicher­heit für die Ukraine.
  • Beim NATO-Gipfel 2024 in Washing­ton bekräf­tig­ten die NATO-Partner (ein­schließ­lich Deutsch­land), dass die Zukunft der Ukraine in der NATO liegt und dass sie das Land wei­ter­hin auf seinem irrever­si­blen Weg zur NATO-Mit­glied­schaft unter­stüt­zen.[8] Die NATO-Mit­glied­schaft der Ukraine kann daher kein Ver­hand­lungs­ge­gen­stand in Gesprä­chen mit Russ­land sein.
  • Würde die Ukraine nicht in die NATO auf­ge­nom­men, bestünde die Gefahr, dass das Land Opfer und Ver­suchs­la­bor wei­te­rer mili­tä­ri­scher Pro­vo­ka­tio­nen Russ­lands würde: ange­fan­gen bei Stör­ak­tio­nen und Ope­ra­tio­nen ver­deck­ter Kräfte bis hin zum erheb­lich grö­ße­ren Risiko einer Neu­auf­lage des Krieges unter für Russ­land güns­ti­gen Bedin­gun­gen. Auch ein neuer Krieg gegen die Ukraine nach dem Waf­fen­still­stand wäre für Russ­land kein iso­lier­ter Akt, sondern ein Test der euro­päi­schen Geschlos­sen­heit und des Reak­ti­ons­ver­mö­gens west­li­cher Staaten. Eine Posi­tion als dau­er­haf­tes „Ver­suchs­la­bor“ würde nicht nur den wirt­schaft­li­chen Wie­der­auf­bau der Ukraine ver­lang­sa­men und ver­teu­ern – auch für euro­päi­sche Staaten würde diese Grau­zone eine stän­dige Her­aus­for­de­rung dar­stel­len, die per­ma­nente Auf­merk­sam­keit, Kri­sen­ma­nage­ment und mili­tä­ri­sches Handeln erfordert.

3. Taurus-Raketen sind not­wen­dig, um die Posi­tio­nen der Ukraine zu stärken

  • Die Ukraine hatte die deut­sche Regie­rung Ende Mai 2023 offi­zi­ell um die Lie­fe­rung ihrer leis­tungs­stärks­ten Marsch­flug­kör­per vom Typ Taurus gebeten, erhielt jedoch bisher stets eine Ableh­nung aus Berlin.
  • Taurus-Marsch­flug­kör­per wurden ent­wi­ckelt, um ver­bor­gene und geschützte Ziele zu treffen, ein­schließ­lich Kom­man­do­zen­tra­len und Brücken. Sie ver­fü­gen über einen „Bunker-Buster“-Sprengkopf, der Beton­in­fra­struk­tur massiv beschä­di­gen kann, sowie über Stealth-Tech­no­lo­gie[9], um rus­si­sche Rake­ten­ab­wehr­sys­teme und andere elek­tro­ni­sche Abwehr­sys­teme zu umgehen. Somit sind Taurus-Marsch­flug­kör­per tak­tisch wich­tige Waffen, um rus­si­sche Kom­mando- und Kon­troll­zen­tren sowie logis­ti­sche Kno­ten­punkte anzugreifen.
  • Die Aus­rüs­tung der Ukraine mit Marsch­flug­kör­pern vom Typ Taurus könnte den Druck auf Russ­land weiter erhöhen, seine Kriegs­ziele zu überdenken.
  • Groß­bri­tan­nien lie­ferte der Ukraine im Mai 2023 Waffen mit grö­ße­rer Reich­weite[10], Frank­reich folgte im Juli 2023[11] und die USA im April 2024[12]. Die Bestände an bri­ti­schen Storm-Shadow-Marsch­flug­kör­pern und fran­zö­si­schen SCALP EG sind jedoch sehr begrenzt. Taurus ist ein wei­te­rer hoch­ent­wi­ckel­ter Marsch­flug­kör­per, den die Ukraine ein­set­zen könnte, um jene mili­tä­ri­schen Ziele in Russ­land zu treffen, von denen aus die ukrai­ni­sche Zivil­be­völ­ke­rung ange­grif­fen Derzeit verfügt Deutsch­land über 600 Taurus-Marsch­flug­kör­per im Bestand der Bun­des­wehr.[13]
  • Eine stetige Bereit­stel­lung von Storm Shadows/​SCALP und deut­schen Taurus-Marsch­flug­kör­pern würde der Ukraine neue Hand­lungs­mög­lich­kei­ten bei ihren Luft­ope­ra­tio­nen eröff­nen, während die Viel­falt der Lie­fer­quel­len ein wich­ti­ges Signal für die euro­päi­sche Einheit wäre. Es würde auch die rus­si­sche Ope­ra­ti­ons­pla­nung her­aus­for­dern, denn die ukrai­ni­sche Armee könnte nicht nur deut­lich mehr Ziele angrei­fen, sondern es wäre für die rus­si­sche Führung auch schwie­ri­ger vor­her­zu­sa­gen, wo die nächs­ten Treffer ein­schla­gen könnten.
  • Taurus könnte „leicht an F‑16-Kampf­flug­zeuge ange­passt werden“, über die die Ukraine laut MBDA, dem Unter­neh­men, das die Marsch­flug­kör­per ent­wi­ckelt hat, bereits verfügt.[14]
  • Die an die Ukraine gelie­fer­ten Taurus-Marsch­flug­kör­per müssten nicht von deut­schen Soldat:innen bedient werden. Aus­bil­dung und Betreu­ung könnte der Her­stel­ler, die Taurus Systems GmbH, über­neh­men, ohne dass die Bun­des­wehr betei­ligt wäre.[15] So könnten die ukrai­ni­schen Streit­kräfte darin aus­ge­bil­det werden, die Marsch­flug­kör­per eigen­stän­dig zu bedie­nen.[16]
  • Nor­ma­ler­weise haben Taurus-Marsch­flug­kör­per eine Reich­weite von 500 Kilo­me­tern (was zum Bei­spiel nicht aus­rei­chen würde, um Moskau von der ukrai­ni­schen Grenze aus anzu­grei­fen). Diese Reich­weite könnte jedoch durch den Her­stel­ler weiter ein­ge­schränkt werden.[17] Alle Ziele für von west­li­chen Staaten gelie­ferte Waf­fen­sys­teme höherer Reich­weite (ATACMS, SCALP, Storm Shadow, zum Teil auch HIMARS und HAMMER) werden vorab mit dem Ukraine-Kom­mando der NATO in Wies­ba­den (NATSU) abge­klärt, das die inter­na­tio­nale Waf­fen­hilfe an die Ukraine koor­di­niert. Sollte es poli­ti­sche Beden­ken gegen Ziele inner­halb der prak­ti­schen Reich­weite von Taurus geben, könnten diese also jeder­zeit geltend gemacht werden.
  • Da sich US-Prä­si­dent Trump gegen weitere Lie­fe­run­gen von ATACMS an die Ukraine aus­ge­spro­chen hat, steigt der Druck auf euro­päi­sche Staaten, Waffen mit grö­ße­rer Reich­weite zu liefern. Das poli­ti­sche Ziel der Euro­päi­schen Union, im eigenen Umfeld hand­lungs­fä­hig zu bleiben und US-ame­ri­ka­ni­sche Aus­fälle zu kom­pen­sie­ren, wird ohne deut­schen Beitrag nicht rea­li­sier­bar sein.

4. Die Stär­kung der ukrai­ni­schen Rüstungsproduktion 
ist eine Inves­ti­tion in die euro­päi­sche Sicherheit

  • Während die Ukraine ihre Ver­tei­di­gungs­fä­hig­kei­ten ver­stärkt, um der rus­si­schen Aggres­sion ent­ge­gen­zu­wir­ken, gewinnt sie ent­schei­dende Erkennt­nisse über die ope­ra­ti­ven Bedürf­nisse moder­ner Kriegs­füh­rung, die den west­li­chen Ländern fehlen. Ukrai­ni­sche Rüs­tungs­pro­du­zen­ten passen sich schnell an aktu­elle Gege­ben­hei­ten an und iden­ti­fi­zie­ren die prak­ti­schen Bedürf­nisse der Streit­kräfte in Echt­zeit. Diese Erkennt­nisse können dazu bei­tra­gen, die Rüs­tungs­in­dus­trie euro­päi­scher Staaten vor­an­zu­brin­gen und das Abschre­ckungs­po­ten­tial Europas zu verbessern.
  • Die Unter­stüt­zung der Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit der Ukraine ist poli­tisch und wirt­schaft­lich weniger anspruchs­voll als direkte Mili­tär­hilfe. In Europa fehlen vie­ler­orts die Kapa­zi­tä­ten, um mili­tä­ri­sche Aus­rüs­tung in großem Maßstab und zu ver­hält­nis­mä­ßi­gen Preisen her­zu­stel­len, während die Ukraine über freie Kapa­zi­tä­ten verfügt, die genutzt werden sollten. Die Pro­duk­tion vor Ort würde zudem Lie­fer­zei­ten ver­kür­zen, wodurch teure Logis­tik­ket­ten für den Trans­port von Waffen und Aus­rüs­tung aus dem Ausland ent­fie­len. Darüber hinaus sind die Pro­duk­ti­ons­kos­ten in der Ukraine wesent­lich nied­ri­ger als in Europa. Laut dem ehe­ma­li­gen Minis­ter für stra­te­gi­sche Indus­trien in der Ukraine, Olek­sandr Kamys­hin, ist der Kauf von Waffen ukrai­ni­scher Her­stel­ler „der beste, schnellste und kos­ten­güns­tigste Weg, uns an der Front zu helfen“[18]. Dies würde die finan­zi­elle Belas­tung für die Geber­län­der Däne­mark hat 2024 als erstes NATO-Mit­glied direkt in die ukrai­ni­sche Ver­tei­di­gungs­wirt­schaft inves­tiert und so die Pro­duk­tion von 18 selbst­fah­ren­den Rad­hau­bit­zen des Typs 2S22 Bohdana ermög­licht. Deutsch­land erwägt nun eine ähn­li­che Option.[19]
  • Inves­ti­tio­nen in den Ver­tei­di­gungs­sek­tor der Ukraine sti­mu­lie­ren sowohl die ukrai­ni­sche als auch die euro­päi­sche Wirt­schaft. Steu­er­ein­nah­men von Ver­tei­di­gungs­un­ter­neh­men tragen zum Staats­haus­halt der Ukraine bei, während die Schaf­fung von Arbeits­plät­zen sowohl die lokale Wirt­schaft als auch die ver­bün­de­ter Staaten stärkt.
  • Die Nutzung ein­ge­fro­re­ner rus­si­scher Ver­mö­gens­werte könnte die finan­zi­elle Belas­tung euro­päi­scher Länder ver­rin­gern.[20] Belgien etwa hat Berich­ten zufolge[21] aus ein­ge­fro­re­nen Ver­mö­gen Ein­nah­men in Höhe von 1,7 Mil­li­ar­den US-Dollar erzielt und einen Teil dieser Mittel zur Unter­stüt­zung der ukrai­ni­schen Ver­tei­di­gung und für die Flücht­lings­hilfe ein­ge­setzt. Beim jüngs­ten G7-Gipfel im Oktober 2024 einig­ten sich die Staats- und Regie­rungs­chefs darauf, der Ukraine einen Kredit in Höhe von 50 Mil­li­ar­den US-Dollar zu gewäh­ren, der aus den Zinsen ein­ge­fro­re­ner rus­si­scher Reser­ven finan­ziert wird.
  • Die Zusam­men­ar­beit zwi­schen Europa und der Ukraine stärkt den Ver­tei­di­gungs­sek­tor der EU und berei­tet ihn auf zukünf­tige Her­aus­for­de­run­gen vor. Die Unter­stüt­zung der ukrai­ni­schen Ver­tei­di­gungs­in­dus­trie inte­griert diese bei der For­schung, Ent­wick­lung und Pro­duk­tion von Rüs­tungs­gü­tern in die euro­päi­sche Wert­schöp­fungs­kette und erhöht die Kapa­zi­tät euro­päi­scher Länder, inter­na­tio­nal kon­kur­renz­fä­hige Pro­dukte zu bauen. Schon heute stei­gert das Siegel „combat proven in Ukraine” den Export­erfolg von Rüs­tungs­gü­tern deut­lich. Systeme, die sich in inter­na­tio­na­len Groß­aus­schrei­bun­gen bewer­ben (RCH155 und Lynx KF41), werden daher auch in die Ukraine gelie­fert, da Rüs­tungs­her­stel­ler, die ihre neuen, hoch­mo­der­nen Pro­dukte ver­kau­fen wollen, sind daran inter­es­siert, dass diese im Einsatz getes­tet werden. Der EU-Außen­be­auf­tragte Josep Borrell hob die unzu­rei­chende Kapa­zi­tät der EU hervor, die Pro­duk­tion für lang­an­hal­tende Kon­flikte hoch­zu­fah­ren.[22] Part­ner­schaf­ten und Joint Ven­tures mit der Ukraine könnten helfen, diese Lücke zu schlie­ßen und es Europa ermög­li­chen, besser auf Bedro­hun­gen zu reagie­ren. Die Ukraine verfügt über eine gut ent­wi­ckelte mili­tä­risch-indus­tri­elle Basis, die in der Lage ist, fort­schritt­li­che Waffen und Muni­tion zu pro­du­zie­ren. Die Ukraine verfügt über eine gut ent­wi­ckelte mili­tä­risch-indus­tri­elle Basis, die in der Lage ist, fort­schritt­li­che Waffen und Muni­tion zu pro­du­zie­ren und damit den Bedarf der NATO zu ergän­zen sowie die Abhän­gig­keit von nicht-euro­päi­schen Lie­fe­ran­ten zu ver­rin­gern – eine Not­wen­dig­keit, die ange­sichts der anhal­tend hohen Mili­tär­aus­ga­ben Russ­lands beson­ders deut­lich wird, wo Artil­le­rie­ge­schosse im Ver­gleich zu west­li­chen Ländern nahezu dreimal so schnell und zu einem Viertel der Kosten pro­du­ziert werden.[23]
  • Aller­dings kann die ukrai­ni­sche Rüs­tungs­in­dus­trie das in den Kriegs­jah­ren 2025 und 2026 vor­aus­sicht­lich benö­tigte Mate­rial nicht allein pro­du­zie­ren. Sollten vor allem die USA ihre mili­tä­ri­sche Unter­stüt­zung schritt­weise her­un­ter­fah­ren, käme es zu erheb­li­chen Nach­schub­pro­ble­men. Dies gilt ins­be­son­dere für die Bereit­stel­lung von Kampf­flug­zeu­gen und die Auf­recht­erhal­tung des Flug­be­triebs sowie für die Lie­fe­rung von Muni­tion für Kampf­flug­zeuge, M142- und M270-Mehr­fach­ra­ke­ten­wer­fer, Patriot-Flug­ab­wehr­ra­ke­ten-Systeme, Artil­le­rie­mu­ni­tion (155 mm) und gepan­zerte Fahr­zeuge (M2 Bradley und M113). Ins­be­son­dere im Bereich Fahr­zeug­bau ist Deutsch­land der wich­tigste Her­stel­ler in Europa, ohne den die quan­ti­ta­tive Her­aus­for­de­rung kaum zu bewäl­ti­gen ist. Eine schnel­lere Ein­füh­rung moder­ni­sier­ter Schüt­zen­pan­zer vom Typ Puma würde Kapa­zi­tä­ten frei machen, sodass die Ukraine drin­gend benö­tigte Schüt­zen­pan­zer vom Vor­gän­ger-Typ Marder erhal­ten könnte. Außer­dem müsste in Deutsch­land die Pro­duk­tion von Fahr­zeu­gen für die Ukraine for­ciert werden, etwa die des selbst­fah­ren­den Artil­le­rie­ge­schüt­zes RCH155.

 

Impres­sum

Dieses Doku­ment wurde vom Trans­at­lan­tic Dia­lo­gue Center in Zusam­men­ar­beit mit dem Zentrum Libe­rale Moderne und Open Plat­form erstellt.

Trans­at­lan­tic Dia­lo­gue Center

Das Trans­at­lan­tic Dia­lo­gue Center ist ein ukrai­ni­scher nicht­staat­li­cher Think Tank, der sich auf poli­ti­sche Ana­ly­sen, Pro­jekte und Bera­tung im Bereich Außen­po­li­tik und Kom­mu­ni­ka­tion spezialisiert.

Zentrum Libe­rale Moderne

Das Zentrum Libe­rale Moderne ist ein poli­ti­scher Think Tank und eine Debat­ten­platt­form. LibMod steht für die Ver­tei­di­gung und Erneue­rung der libe­ra­len Demo­kra­tie, für den Auf­bruch in die öko­lo­gi­sche Moderne und für eine fun­dierte Osteuropa-Expertise.

Open Plat­form 

Die Orga­ni­sa­tion Open Plat­form e. V. stärkt von Berlin aus die deutsch-ukrai­ni­sche Zusam­men­ar­beit und fördert den gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Aus­tausch sowie die aktive Teil­habe an einer offenen Gesell­schaft. Open Plat­form ist asso­zi­ier­tes Mit­glied der Allianz Ukrai­ni­scher Organisationen.

Autor:innen

Stepan Rusyn, Diana Mas­li­an­chuk, Kateryna Khimich, Nata­liya Pry­hor­nytska, Daria Malling

Unser beson­de­rer Dank gilt Dr. Gustav Gressel für seine fach­kun­dige Begut­ach­tung und seine wert­vol­len Bei­träge, die den Inhalt dieser Publi­ka­tion maß­geb­lich berei­chert haben.

 

 

 

 

Der Text ist unter der Crea­tive Commons-Lizenz „Namens­nen­nung-Nicht kom­mer­zi­ell 4.0 Inter­na­tio­nal“ (CC BY-NC 4.0) lizenziert.

[1] https://www.ifw-kiel.de/publications/the-costs-of-not-supporting-ukraine-33410/

[2] https://www.heritage.org/china/commentary/north-korea-sent-8-million-artillery-shells-ukraine-next-troops

[3] https://www.ifw-kiel.de/publications/the-costs-of-not-supporting-ukraine-33410/

[4] https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/

[5] https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/aktuelles/militaerhilfe-fuer-die-ukraine-stopp-kostet-deutschland-viel-mehr-als-fortfuehrung/

[6] https://esut.de/2024/08/meldungen/52552/339-milliarden-euro-unterstuetzungsleistungen-fuer-die-ukraine/

[7] Vgl.: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/2196306/2260264/8efa1868839ede7609437b341d75c3c5/2024–02-16-ukraine-sicherheitsvereinbarung-deu-data.pdf?download=1 (20.01.2025).

[8] https://www.nato.int/cps/en/natohq/topics_37750.htm

[9] Stealth-Tech­no­lo­gie, auch als „Low Obser­va­ble Tech­no­logy“ bezeich­net, umfasst eine Reihe von Metho­den, die darauf abzie­len, mili­tä­ri­sche Fahr­zeuge wie Flug­zeuge, Schiffe, U‑Boote, Raketen, Satel­li­ten und Boden­fahr­zeuge für Radar, Infra­rot, Sonar und andere Erken­nungs­me­tho­den weniger sicht­bar oder idea­ler­weise unsicht­bar zu machen.

[10] https://www.gov.uk/government/speeches/defence-secretary-oral-statement-on-war-in-ukraine–3

[11] https://www.france24.com/en/europe/20230713-a-strong-gesture-french-delivery-of-scalp-missiles-to-ukraine-marks-shift-in-western-strategy

[12] https://www.reuters.com/world/us/us-quietly-shipped-long-range-atacms-missiles-ukraine-2024–04-24/

[13] https://www.flightglobal.com/germany-receives-last-taurus-cruise-missile/97453.article

[14] https://www.mbda-systems.com/sites/mbda/files/2024–07/2019%20TAURUS%20datasheet.pdf

[15] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/taurus-marschflugkoerper-bundeswehr-moskau-faktencheck-100.html

[16] https://www.merkur.de/politik/militaerexperte-zerpflueckt-scholz-argumente-gegen-taurus-lieferung-ukraine-krieg-93420873.html

[17] https://www.mdr.de/nachrichten/welt/politik/taurus-marschflugkoerper-bundeswehr-moskau-faktencheck-100.html

[18] https://www.politico.eu/article/ukraine-want-use-eu-money-build-up-military-industrial-complex-oleksandr-kamyshin/

[19] https://deaidua.org/news/2024/10/18/german-government-considers-financing-ukrainian-made-armaments/

[20] https://www.reuters.com/world/europe/eu-countries-adopt-plan-use-frozen-russian-assets-ukraines-defence-2024–05-21/

[21] https://www.reuters.com/world/europe/belgium-welcomes-eu-proposal-give-ukraine-profits-russia-assets-2024–03-21/

[22] https://www.swp-berlin.org/10.18449/2024S15/?utm_source

[23] https://news.sky.com/story/russia-is-producing-artillery-shells-around-three-times-faster-than-ukraines-western-allies-and-for-about-a-quarter-of-the-cost-13143224

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