Angst und Unterdrückung: ukrainische Besatzungserfahrungen
Die russische Okkupation hat fatale Auswirkungen auf Sicherheit und Alltag der Menschen, doch aufgrund der russischen Zensur dringen nur selten Informationen an die Öffentlichkeit. Die Realität der Besatzung ist von Gewalt, Kontrolle und einem Klima der Angst geprägt, erklärt die Historikerin Tatjana Tönsmeyer – und bezieht auch Deutschland als ehemalige Besatzungsmacht in ihre Überlegungen mit ein.
Januar 2024: Seit fast zwei Jahren wehren sich Ukrainerinnen und Ukrainer gegen die umfassende russische Invasion ihres Landes. Gerade in den letzten Wochen hat der Beschuss wieder massiv zugenommen. Gleichzeitig sind die Nachrichten über diesen Krieg seit dem Attentat der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und den Kämpfen in Gaza in den Hintergrund gerückt. Die weltpolitische Lage führt dazu, dass die Aufmerksamkeit für die Ukraine sinkt. Noch seltener wird über die besetzten Gebiete berichtet. Doch eben weil der Krieg sich in einer besonders hässlichen Phase befindet, sollte der Blick umso mehr dem gelten, was passiert, wenn die Ukraine Territorium an Russland in Folge von Eroberung, Besatzung und Annexion abtreten muss.
Butscha, Isjum, Irpin: Kriegsverbrechen unter russischer Besatzung
Gegenwärtig sind rund 17 Prozent des Territoriums der Ukraine russisch besetzt. Wären 17 Prozent der Bundesrepublik besetzt, entspräche das in etwa der Fläche der Bundesländer Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und des Saarlandes. Es sind erhebliche Territorien, über die wir aufgrund der russischen Zensur wenig erfahren. Ukrainische Nichtregierungsorganisationen versuchen, häufig unter großem Risiko, dort verübte Menschenrechtsverbrechen zu dokumentieren und zur Anklage zu bringen. So erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag im März 2023 Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte. Ihnen wird vorgeworfen, für die rechtswidrige Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten verantwortlich zu sein.
Was juristisch korrekt als Kriegsverbrechen bezeichnet wird, ist unter Besatzung verübt worden. Ähnlich steht es um die Geschehnisse in Orten wie Butscha, Isjum oder Irpin. Vor dem russischen Einmarsch hierzulande unbekannt, haben sie traurige Berühmtheit als Orte russischer Massenverbrechen an Zivilpersonen erhalten, auch sie verübt unter russischer Besatzung. Diese Verbrechen widersprechen der weitverbreiteten Vorstellung, wonach, wenn nur das Kämpfen aufhörte, auch das Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung ein Ende finde. Butscha, Irpin, Isjum und die Verschleppung von Kindern und Jugendlichen zeigen: Dem ist nicht so.
Besatzer – Besetzte: ein asymmetrisches Verhältnis
Anders akzentuiert: Dass wir so wenig über die Situation in den besetzten Gebieten wissen, liegt an der russischen Zensur von Presse und Medien. Aber dass wir auch wenig nachfragen, liegt am weitverbreiteten Unwissen darüber, was Besatzung ausmacht – wir fürchten uns vor Krieg, weniger vor Besatzung. Dabei ist offensichtlich, dass Krieg und Besatzung eng zusammenhängen, wenn auch nicht identisch sind. Vielmehr stellt Besatzung eine Form der kriegsinduzierten Fremdherrschaft dar: Die Behörden und Institutionen sind in den besetzten Gebieten noch vorhanden, unterstehen nun jedoch nicht mehr dem ukrainischen Staat, sondern der russischen Besatzungsmacht. Dies wird auch als regulative Präsenz der Besatzer bezeichnet. Hinzukommt ihre physische Präsenz in Form von Truppen, Sicherheitskräften und Verwaltungsbeamten. Diese gewissermaßen doppelte Präsenz, physisch wie regulativ, nutzt die Okkupationsmacht, um ihre politischen Ziele in den neueroberten Gebieten durchzusetzen. Als Folge davon verändert sich der Alltag der Menschen gravierend. Zudem gehört Gewaltausübung zur gängigen Praxis der russischen Besatzung. Aus all dem ergibt sich, dass durch Okkupation ein hochgradig asymmetrisches Verhältnis zwischen Besatzern und Besetzten etabliert wird. Von der Normalität, wie sie die Menschen vor dem Krieg kannten, bleibt kaum etwas übrig.
Instrumentalisierung von Angst
Das liegt daran, dass der Alltag in den russisch besetzten Gebieten durch eine umfassende Unsicherheit gekennzeichnet ist. Die Besatzer haben einen neuen Polizeiapparat aufgebaut, der nicht die einheimische Bevölkerung, sondern die eigenen militärischen Kräfte schützt. Als „Sicherheitskräfte“ patrouillieren Milizen der „Volksrepublik Donezk“, manchmal auch Einheiten des für seine Brutalität bekannten Tschetschenenführers Ramsan Kadyrow oder Angehörige der russländischen Nationalgarde.
Tatsächlich versuchen viele in den besetzten Gebieten, so wenig wie möglich aus dem Haus zu gehen. Allerdings erzeugen die Sicherheitskräfte auch deshalb Angst, weil sie sich jederzeit Zugang zu privaten Wohnungen verschaffen können. Eine Unverletzlichkeit von Privatsphäre gibt es unter Besatzung nicht. Frauen fürchten sich zudem vor sexualisierter Gewalt, Männer vor Verhaftungen und Rekrutierungen in die russische Armee.
Russifizierung: gewaltsame Identitätszuweisung
Hinzukommt, dass viele Menschen unter russischer Besatzung ihren Arbeitsplatz verloren haben und daher ohne Einkommen dastehen. Verschärft wurde die angespannte Lage durch die Einführung des Rubels als Zahlungsmittel. Unternehmer müssen nun ihre Geschäftstätigkeit in Rubel abwickeln, Privatpersonen ihre Ersparnisse umtauschen – auch dies Beispiele für die regulative Präsenz der Besatzer. Besonders betroffen sind Menschen im Rentenalter, die in ländlichen Gebieten oftmals kein Konto besitzen. Vor dem Krieg erhielten sie ihre Rente in bar von Briefträgern der ukrainischen Post. Allein im Gebiet Cherson waren 70.000 Rentnerinnen und Rentner auf diesen Service angewiesen. Dort, wo die ukrainische Post die Zustellungen einstellen musste, blieb den Betroffenen kaum eine andere Option, als Sozialleistungen bei den Besatzungsbehörden zu beantragen – die allerdings die Auszahlung von Sozialleistungen an die Annahme der russischen Staatsangehörigkeit banden. Ab diesem Jahr sollen in der Region Saporischschja nur noch Personen mit russischem Pass medizinisch behandelt werden.
Weitere Einschnitte betreffen die Lebensmittelversorgung: Ukrainische Supermärkte mussten vielfach schließen, aus Russland importierte Lebensmittel sind oft erheblich teurer. Ähnlich schwierig ist die Lage bei Medikamenten, was für chronisch kranke Personen, die unter Diabetes oder Krebs leiden, nicht selten lebensbedrohlich ist.
Systematische Repression, unterdrückter Widerstand
All diese Beispiele zeigen, dass der Alltag unter russischer Besatzung schwer zu bewältigen ist. Hinzu kommt die weit verbreitete Gewalt. So hält ein Bericht des britischen Royal United Service Institute for Defense and Security Studies (RUSI) fest, dass die Okkupanten in den von ihnen beherrschten Gebieten die Bevölkerung mit Hilfe von Kollektivstrafen einschüchtern und unterdrücken. Die Gewalt, so das RUSI, werde planvoll, systematisch und zielgerichtet verübt. Sie habe „gravierende Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Lebensqualität“ und „zerstört das normale Leben“. Sie dient der Kontrolle der einheimischen Bevölkerung, begrenzt möglichen Widerstand und ermutigt zur Zusammenarbeit mit den Besatzern. Aufgrund dieser Befunde steht zu befürchten, dass nach einer Wiedereroberung der besetzten Gebiete weitere Verbrechen ans Tageslicht kommen werden. Auch diese Ausführungen zeigen, dass Hoffnung, wonach unter Besatzung das Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung aufhöre, trügt.
NS-Besatzungspolitik: Leerstelle deutscher Erinnerungskultur
Viele Geflüchtete, vor allem jene, die früh nach der umfassenden Invasion nach Deutschland kamen, haben ihren Schritt damit begründet, nicht in einem besetzten Land leben zu wollen, und betont, sie wüssten, was Besatzung bedeutet. Damit adressierten sie die deutsche Besatzung der Jahre 1941 bis 1944, die in Familienerzählungen wie im Schulunterricht präsent ist. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer sind erstaunt, wie wenig historisches Wissen trotz erinnerungskultureller Angebote hierzulande besteht.
Das „Nie wieder Krieg“ verstellt den Blick auf Besatzung. Denn anders als in Deutschland nimmt in vielen europäischen Ländern – auch, aber nicht nur in der Ukraine – Besatzung erinnerungspolitisch einen wichtigen Platz ein. Zwischen 1939 und 1945 lebten rund 230 Millionen Menschen zwischen Nordnorwegen und den griechischen Mittelmeerinseln sowie zwischen der französischen Atlantikküste und Gebieten tief im Inneren der damaligen Sowjetunion – eingeschlossen auch die Ukraine – unter deutscher Besatzung. Anders als in Deutschland überwiegen in allen ehemals besetzten Ländern die Zahlen der zivilen Toten die der militärischen Opfer. Das liegt vor allem daran, dass die eigentlichen Kampfhandlungen gegenüber der Besatzungszeit vielfach eher kurz waren. In Polen wurde zum Beispiel rund sechs Wochen gekämpft; die Besatzung dauerte jedoch fast sechs Jahre. Die Mehrheit der zivilen Opfer, nicht nur in Polen, war daher Opfer einer gewalttätigen deutschen Besatzungspolitik. Dieses Wissen sollte Teil der deutschen Erinnerungspolitik sein und auch den Umgang mit der Ukraine prägen.
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