Wen die Ukraine verloren hat – Opfer des Krieges
In ihrem Verteidigungskrieg gegen Russland zahlt die Ukraine auch mit dem Leben ihrer Söhne und Töchter. Wir erinnern in diesem Artikel an drei bekannte Ukrainer:innen, die durch den Krieg zu früh aus dem Leben gerissen wurden.
Die genaue Zahl der ukrainischen Opfer im russischen Angriffskrieg ist nicht bekannt. Die militärischen Verluste der Ukraine sind aus verständlichen Gründen Verschlusssache: Man will der russischen Armee nicht freiwillig mitteilen, ob der russische Vernichtungskrieg effektiv ist. Aber auch die Zahl ziviler Opfer bleibt unklar. Der jüngste UNO-Bericht vom 24. April spricht von lediglich 6.661 zivilen Todesopfern und 11.854 Verletzten in den ukrainisch kontrollierten Gebieten. Dazu kommen laut UNO noch knapp über 7.000 Zivilist:innen, die in den durch Russland besetzten Gebieten getötet oder verletzt wurden. Doch die sich ansonsten sehr zurückhaltend äußernde UNO geht davon aus, dass diese Zahlen nur einen Bruchteil der realen Verluste darstellen. Die realen Zahlen dürften „deutlich höher“ sein, so der Bericht.
In den befreiten Städten werden Massengräber gefunden
In der Tat: Nach fast jeder Befreiung einer ukrainischen Stadt fand man Massengräber mit den Leichen von Zivilist:innen. So wurde vor der Stadt Isjum ein Massengrab mit 447 Leichen entdeckt. Vor dem Überfall im Februar 2022 lebten knapp 50.000 Menschen in Isjum, die Stadt war etwa fünf Monate unter russischer Kontrolle. Ähnliche Bilder entstanden in Butscha, Borodjanka oder Cherson. Es ist zu erwarten, dass nach der Befreiung weiterer Städte neue Massengräber mit unzähligen Toten entdeckt werden. Über die Anzahl der nicht begrabenen Toten in Städten, die wie Mariupol oder Bachmut dem Boden gleich gemacht wurden, lässt sich nur spekulieren.
Von den über 400.000 Einwohnern, die vor dem Februar 2022 in Mariupol lebten, sind offensichtlich viele Tausende tot, teilweise schon seit Monaten. Satellitenbilder zeigen mehrere industriell angelegte Massengräber vor der Stadt am Asowschen Meer. Es gibt regelmäßig Berichte, dass die russischen Besatzungsbehörden in Mariupol Wohnhäuser abreißen, ohne die Leichen zu bergen – offensichtlich, um Spuren zu verwischen.
Bereits seit 2014 gibt es auch zivile Opfer
Umso wichtiger ist es, über die getöteten Ukrainer:innen zu reden, deren Namen uns bekannt sind. Denn dieser Krieg fordert viele zivile Opfer und das bereits seit Jahren – trotz der russischen Lüge von der „unblutigen“ Eroberung der Krim.
Der erste Kriegstote war Fähnrich Serhij Kokurin, der am 18. März 2014 in Simferopol von einem russischen Schuss getroffen wurde. Auch der erste Mord an Zivilisten fand auf der Krim statt: Am 3. März 2014 wurde der krimtatarische Aktivist Reschat Ametow von Unbekannten entführt. Er wurde später tot aufgefunden, seine Leiche wies Folterspuren auf.
Die Ukraine verlor auch Mädchen und Jungen, ihre aktive proukrainische Jugend. So wurde beispielsweise in Donezk der 16-jährige Stepan Tschubenko, Schüler und begeisterter Torwart, entführt und exekutiert, weil er mit einem Band in ukrainischen Farben am Bahnhof stand. Der Opernsänger Wassyl Slipak fiel im Sommer 2016 im Donbas. Er hatte die Pariser Oper verlassen und sich als Freiwilliger der ukrainischen Armee gemeldet.
Roman Ratuschnyj: ein Verlust für die demokratische Bewegung der Ukraine
Am 8. Juni 2022, kurz vor seinem 25. Geburtstag, fiel Roman Ratuschnyj – ein bekanntes Mitglied der ukrainischen demokratischen Bewegung. Schon als Teenager hatte Ratuschnyj an politischen Protesten teilgenommen – mit 16 Jahren demonstrierte er am Maidan und erlebte den Angriff der Schlägertruppen des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Im Alter von 18 Jahren produzierte er mithilfe frei zugänglicher Informationen eine detaillierte Darstellung der mafiösen Strukturen in der Ukraine und forderte gemeinsam mit anderen die Schaffung eines staatlichen Ermittlungsbüros.
Roman Ratuschnyj studierte Jura und kämpfte gegen die Korruption bei Bauprojekten. Eine von ihm gegründete Initiative half, den historischen Kyjiwer Stadtteil Protasiw Jar mit seiner Grünanlage vor einer illegalen Bebauung zu schützen. Hier folgte er dem Beispiel seines Vaters Taras, der sich für die Rettung der historischen Bausubstanz Kyjiws engagiert hatte. Über den charismatischen Ratuschnyj wurde gesagt, dass seine Zukunft in der Politik liege. „Er hätte Parteichef werden können, sogar Präsident“, sagen seine Freunde. Doch der russische Großangriff verhinderte das. Wenige Tage nach dem Überfall meldete sich Ratuschnyj bei der Armee. Er kämpfte zuerst in der Region Kyjiw, half dann bei Evakuierungen in der Region Sumy. Im Juni 2022 fiel er bei der Befreiung der Stadt Isjum im Osten der Ukraine.
Wolodymyr Wakulenko: Der Kinderbuchautor kümmerte sich um seinen autistischen Sohn
Während Roman Ratuschnyj noch um Isjum kämpfte, war der Schriftsteller Wolodymyr Wakulenko, der dort gelebt hatte, bereits seit mindestens einem Monat tot. Der genaue Tag, an dem der 49-jährige ermordet wurde, ist unbekannt – man geht von einem Tod zwischen dem 24. März und dem 12. Mai 2022 aus. Wolodymyr wurde in einem Dorf in der Nähe von Isjum geboren. Er lebte viele Jahre in Lwiw und kehrte dann nach Isjum zurück, wo er sich um seinen autistischen Sohn kümmerte. Wakulenko schrieb Kinderbücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden. In seinen Gedichten schuf er eine bunte und sonderbare Welt, in der ein Maulwurf Borschtsch kocht oder eine Teekanne über ihre Erkältung klagt.
Ende März 2022 entführten russische Soldaten Wolodymyr aus seinem Haus. Offensichtlich wurde er denunziert, weil er seine Bücher auf Ukrainisch schrieb. Seitdem wurde er nicht mehr gesehen. Erst im November, Monate nach der Befreiung Isjums, wurde seine Leiche in einem Massengrab gefunden und mithilfe einer DNA-Probe identifiziert. Er wurde mit zwei Pistolenschüssen ermordet. Im Hof seines Hauses fand man ein verstecktes Tagebuch, das er während der Besatzung führte.
Julija Sdanowska: Goldmedaille bei der Mathematik-Olympiade
Die außerordentlich begabte Julija Sdanowska könnte die Kinderbücher von Wolodymyr Wakulenko gelesen haben. Sie war ein mathematisches Ausnahmetalent: 2001 geboren, bestand sie 2017 ihre Abiturmathematikprüfung mit 200 Punkten, dem bestmöglichen Ergebnis. Im selben Jahr gewann sie bei der European Girls‘ Mathematical Olympiad die Goldmedaille als Mitglied des ukrainischen Teams. Nach ihrem Bachelorabschluss im Fach Mathematik bekam sie eine Einladung aus Harvard für das weitere Studium.
Sdanowska träumte jedoch davon, das Schulsystem in der Ukraine zu verändern. Sie blieb in der Ukraine und ging als Lehrerin in eine Dorfschule in der Region Dnipro. Als der Großangriff Russlands begann, entschied sie sich, trotz der Artillerieeinschläge in Charkiw zu bleiben, um der Armee, den Älteren und Kranken zu helfen. „Ich werde bis zu unserem Sieg in Charkiw bleiben“, schrieb Sdanowska kurz vor ihrem Tod in einer SMS an ihre Freundin. Sie war 21 Jahre alt, als eine russische Rakete sie tötete. Das Massachusetts Institute of Technology rief in ihrem Namen ein Stipendienprogramm zur Förderung junger Mathematikerinnen aus der Ukraine ins Leben: Es heißt Yulia’s Dream.
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