Was kostet der Krieg? – Analyse und Prognosen zur ukrainischen Wirtschaftslage
Der Großangriff Russlands hat zu einer dramatischen Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage der Ukraine geführt. Und doch gelang es dem Land durch finanzpolitische Maßnahmen und Unterstützung des Westens, die Wirtschaft zu stabilisieren. Die Kosten dafür sind jedoch enorm hoch.
Der Überfall Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 löste den größten Wirtschaftseinbruch in der ukrainischen Geschichte aus. Das Bruttoinlandsprodukt sank dramatisch, um etwa ein Drittel. Zum Vergleich: Die Finanzkrise von 2009 führte zu einem Rückgang von 15 Prozent, während der Krieg mit Russland im Jahr 2014 einen Verlust von 6,6 Prozent und im Jahr 2015 von 9,8 Prozent verursachte. Aufgrund der Stromausfälle zwischen Oktober und November 2022 hat die ukrainische Investmentbank Dragon Capital kürzlich ihre Prognose für eine Rezession von 30 Prozent auf 32 Prozent verschärft, die Investmentgruppe ICU sogar von 32 Prozent auf 35 Prozent.
Die Erwartungen für 2023 variieren: Dragon Capital erwartet einen weiteren Rückgang um fünf Prozent, während das ukrainische Wirtschaftsministerium, dessen makroökonomische Prognose eine wichtige Grundlage für die Haushaltsplanung darstellt, einen Anstieg des realen Bruttoinlandsprodukts um 3,2 Produkts voraussagt.
Zunächst siegte der Optimismus
Der anfängliche Schock, den die russische Invasion im Februar 2022 ausgelöst hatte, schlug über einen Konsumeinbruch und die Unterbrechung der Logistikketten auf die Wirtschaft durch. Doch bereits im April und Mai 2022 begann sich der Handel zu erholen und diese Entwicklung setzte sich den ganzen Sommer über fort. Laut Umfragen von Wirtschaftsverbänden (insbesondere der European Business Association und der Amerikanischen Handelskammer) stieg der Anteil jener Unternehmen, die ihre Arbeit ganz oder teilweise wieder aufgenommen hatten, allmählich an und erreichte von August bis September 2022 einen Höchststand. Auch die Umfragen der Nationalbank der Ukraine wiesen auf einen zunehmenden Optimismus hin.
Geschätzte Kosten: etwa 433 Milliarden US-Dollar
Die Zerstörung der Energieinfrastruktur des Landes und die Stromausfälle im Oktober und November 2022 untergruben jedoch diese Erholung des Geschäftsklimas, insbesondere im Handel und bei den Dienstleistungen. Die Bauindustrie konnte relative Verbesserungen verbuchen und erwartet Aufträge für Wiederaufbauprojekte. Die ukrainische Regierung hat in Kooperation mit der Kyjiwer Wirtschaftshochschule, dem Zentrum für Wirtschaftsstrategie und einer breiten Gruppe von Ökonomen und Experten das Projekt „Russland wird dafür bezahlen“ gestartet.
Gemeinsam berechneten sie, dass die Kosten für die direkten Kriegsschäden der Ukraine bis Februar 2023 bei knapp 144 Milliarden US-Dollar liegen. Dazu kommen Einnahmeverluste und zusätzliche Wiederaufbaukosten, wie etwa die Rückgewinnung von Betriebskapital, das aufgrund der Untätigkeit von Unternehmen während aktiver Feindseligkeiten, unter russischer Besatzung oder wegen Stromausfällen verloren gegangen ist. Diese werden auf 289 Milliarden US-Dollar geschätzt. Insgesamt werden demnach etwa 433 Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau benötigt. Der größte Teil des ermittelten Bedarfs betrifft Wohngebäude (rund 68 Milliarden US-Dollar), gefolgt von der Infrastruktur (rund 156 Milliarden US-Dollar) und an dritter Stelle die Landwirtschaft (knapp 30 Milliarden US-Dollar).
Die Energiewirtschaft ist gezielt unter Beschuss
Die ersten Monate der großangelegten russischen Invasion riefen in der Ukraine eine handfeste Brennstoffkrise hervor. Die russische Armee zerstörte die größte in Betrieb befindliche Ölraffinerie in Krementschuk sowie mehrere Öldepots. Zudem stellten Russland und Belarus die Lieferung von Ölprodukten ein. Daher musste die Ukraine ihre Kraftstofflogistik von Grund auf neu ausrichten.
Die Regierung schaffte eine Preisobergrenze für Kraftstoff ab. So erhielten ukrainische Importeure und Händler Anreize zur Einfuhr aus Raffinerien in Europa und Übersee. Zusammen mit der ukrainischen Eisenbahn errichteten sie ein großes, dezentrales Netzwerk von Treibstoffimporten. Obwohl die Nutzung großer Lagerstätten in der Ukraine unbedingt vermieden werden musste, konnte so die Nachfrage bereits im Juni 2022 erneut gedeckt und eine ununterbrochene Versorgung aufrechterhalten werden.
Das Land lebt nach Blackout-Plänen
Im Oktober 2022 begann Russland mit systematischen Angriffen auf einen anderen Bereich der Energiewirtschaft – die Erzeugung, Übertragung und Verteilung von Strom. Obwohl es über mehrere Backups und Reserveleitungen verfügt, ist dieses Energiesystem viel stärker zentralisiert und besitzt eine begrenzte Anzahl von Knotenpunkten. Das ist für die Widerstandsfähigkeit des Systems entscheidend. Zwei Monate nach Beginn der Angriffe gab es in der gesamten Ukraine kein einziges Wärmekraftwerk mehr, das nicht beschossen worden wäre. Mindestens die Hälfte der Hochspannungstransformatoren wurde beschädigt.
Es kam zu mangelnden Kapazitäten bei der Stromerzeugung und zu Engpässen bei der Verteilung. Der nationale Netzbetreiber Ukrenergo war daher zu einer Beschränkung des Verbrauchs gezwungen. Das ganze Land lebt seitdem nach Blackout-Plänen, die zudem nicht immer eingehalten werden können.
Die Schlüsselsektoren der Wirtschaft sind schwer beschädigt
Die Metallurgie, einer der Schlüsselsektoren der Wirtschaft, verlor etwa ein Drittel ihres Vermögens. Asow-Stahl und die Eisen- und Stahlwerke Iljitsch, die zweit- und drittgrößten Hüttenwerke der Ukraine, wurden schwer beschädigt. Die Kokerei und Chemiefabrik Awdijiwka nahm ebenfalls Schaden und stellte den Betrieb ein. Im Herbst 2022 wurde auch das größte Hüttenwerk ArcelorMittal teilweise zerstört.
Im Juli 2022 stimmte die Russische Föderation auf Druck internationaler Partner der 120-tägigen Getreideinitiative zu, die die Seehäfen von Odesa für Agrarexporte öffnete. Im November wurde die Initiative um weitere 120 Tage verlängert. Darüber hinaus gelang es Händlern und Logistikern, die Versorgung über den Landweg herzustellen. Wie es weitergeht, hängt von der Ausweitung der Getreideinitiative ab. Die Ukraine wird über ausreichend Getreide für ihre eigene Ernährungssicherung verfügen, aber die Exporte könnten im nächsten Wirtschaftsjahr erheblich zurückgehen.
Die Nationalbank war gut vorbereitet
Am ersten Tag der russischen Invasion, dem 24. Februar 2022, legte die ukrainische Nationalbank den offiziellen Wechselkurs zum US-Dollar auf 29,25 Hrywnja fest. Diese Entscheidung und die Beschränkung des Bargeldbezugs trugen dazu bei, einen panischen Ansturm auf die Banken und damit den Zusammenbruch der ukrainischen Währung zu vermeiden. Die Nationalbank der Ukraine war auf militärische Herausforderungen vorbereitet und hatte verschiedene Reaktionsszenarien ausgearbeitet. So konnte diese Politik innerhalb nur weniger Stunden nach dem Beginn des russischen Raketenbeschusses umgesetzt werden. Am 21. Juli 2022 passte die ukrainische Nationalbank den Wechselkurs zum US-Dollar auf ein Niveau von 36,6 Hrywnja an. Diese Annäherung des offiziellen Kurses an den Markt verringerte den Druck, mit Deviseninterventionen reagieren zu müssen. Es bleibt jedoch weiterhin eine Lücke bestehen. Der doppelte Wechselkurs kommt de facto einer versteckten Steuer für Exporteure gleich. Das ist nicht nachhaltig und muss angegangen werden.
Die Fiskalpolitik setzt auf Stimulierung
Der Krieg bedroht die Fiskalpolitik der Ukraine in ihrer Existenz. Sie konzentriert sich derzeit darauf, auf effiziente Weise die notwendigen Finanzmittel für die Armee, die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung sowie die soziale Unterstützung der Bürger und das Gesundheitswesen bereitzustellen. Sie zielt auch darauf ab, jene Infrastruktur zu erhalten und wiederherzustellen, die für die Sicherheit und das Funktionieren der Wirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Dies gilt insbesondere für Energie- und Logistiknetze.
Man kann trotzdem davon ausgehen, dass die Fiskalpolitik auch in Zukunft auf stark stimulierende Instrumente setzen wird. Der für das Jahr 2023 beschlossenen Haushalt kalkuliert ein Defizit bis zu einer Höhe von 20 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ein, außerdem werden weitere internationale Hilfsgelder erwartet. Die Unregelmäßigkeit der Einnahmen und die Diskrepanz zwischen zugesagten und ausgezahlten Hilfsbeträgen sind die Hauptprobleme, mit denen die Ukraine gegenwärtig im Zusammenhang mit ausländischer Finanzhilfe zu kämpfen hat.
Die Fluchtbewegung darf nicht zunehmen
Neben der astronomischen Summe von 433 Milliarden US-Dollar, auf die sich der Wiederaufbaubedarf mittlerweile beläuft, müssen weitere Summen bereitgestellt werden. Um noch höhere Kosten zu vermeiden, müssen beschädigte Wohnhäuser und kritische Energieinfrastruktur zeitnah repariert, die Gesundheits- und Kinderbetreuungseinrichtungen unterhalten, sowie vorübergehende Unterkünfte für Binnenvertriebene bereitgestellt werden. Nimmt die Fluchtbewegung aus der Ukraine zu, mangelt es irgendwann an Humankapital, und die Verbrauchernachfrage bricht ein. Langfristig könnte die ukrainische Regierung dann eines Tages die Ausgaben für den Verteidigungs- und Sicherheitsbereich nicht mehr aus ihren eigenen Einnahmen zahlen.
Dieser Text entstand im Projekt „Deutsch-polnischer Runder Tisch zur Osteuropa-Politik“ des Jan Nowak-Jeziorański Osteuropa-Kollegs und des Vereins Austausch e. V. in Partnerschaft mit der Heinrich Böll Stiftung Warschau und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.
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