Was kostet der Krieg? – Analyse und Pro­gno­sen zur ukrai­ni­schen Wirtschaftslage

Das zer­störte Stahl­werk Asow in Mariu­pol, Juni 2022, Foto: Yegor Aleyev /​ TASS /​ Imago

Der Groß­an­griff Russ­lands hat zu einer dra­ma­ti­schen Ver­schlech­te­rung der wirt­schaft­li­chen Lage der Ukraine geführt. Und doch gelang es dem Land durch finanz­po­li­ti­sche Maß­nah­men und Unter­stüt­zung des Westens, die Wirt­schaft zu sta­bi­li­sie­ren. Die Kosten dafür sind jedoch enorm hoch.

Der Über­fall Russ­lands auf die Ukraine im Jahr 2022 löste den größten Wirt­schafts­ein­bruch in der ukrai­ni­schen Geschichte aus. Das Brut­to­in­lands­pro­dukt sank dra­ma­tisch, um etwa ein Drittel. Zum Ver­gleich: Die Finanz­krise von 2009 führte zu einem Rück­gang von 15 Prozent, während der Krieg mit Russ­land im Jahr 2014 einen Verlust von 6,6 Prozent und im Jahr 2015 von 9,8 Prozent ver­ur­sachte. Auf­grund der Strom­aus­fälle zwi­schen Oktober und Novem­ber 2022 hat die ukrai­ni­sche Invest­ment­bank Dragon Capital kürz­lich ihre Pro­gnose für eine Rezes­sion von 30 Prozent auf 32 Prozent ver­schärft, die Invest­ment­gruppe ICU sogar von 32 Prozent auf 35 Prozent.

Die Erwar­tun­gen für 2023 vari­ie­ren: Dragon Capital erwar­tet einen wei­te­ren Rück­gang um fünf Prozent, während das ukrai­ni­sche Wirt­schafts­mi­nis­te­rium, dessen makro­öko­no­mi­sche Pro­gnose eine wich­tige Grund­lage für die Haus­halts­pla­nung dar­stellt, einen Anstieg des realen Brut­to­in­lands­pro­dukts um 3,2 Pro­dukts vor­aus­sagt.

Zunächst siegte der Optimismus

Der anfäng­li­che Schock, den die rus­si­sche Inva­sion im Februar 2022 aus­ge­löst hatte, schlug über einen Kon­sum­ein­bruch und die Unter­bre­chung der Logis­tik­ket­ten auf die Wirt­schaft durch.  Doch bereits im April und Mai 2022 begann sich der Handel zu erholen und diese Ent­wick­lung setzte sich den ganzen Sommer über fort. Laut Umfra­gen von Wirt­schafts­ver­bän­den (ins­be­son­dere der Euro­pean Busi­ness Asso­cia­tion und der Ame­ri­ka­ni­schen Han­dels­kam­mer) stieg der Anteil jener Unter­neh­men, die ihre Arbeit ganz oder teil­weise wieder auf­ge­nom­men hatten, all­mäh­lich an und erreichte von August bis Sep­tem­ber 2022 einen Höchst­stand. Auch die Umfra­gen der Natio­nal­bank der Ukraine wiesen auf einen zuneh­men­den Opti­mis­mus hin.

Geschätzte Kosten: etwa 433 Mil­li­ar­den US-Dollar

Die Zer­stö­rung der Ener­gie­infra­struk­tur des Landes und die Strom­aus­fälle im Oktober und Novem­ber 2022 unter­gru­ben jedoch diese Erho­lung des Geschäfts­kli­mas, ins­be­son­dere im Handel und bei den Dienst­leis­tun­gen. Die Bau­in­dus­trie konnte rela­tive Ver­bes­se­run­gen ver­bu­chen und erwar­tet Auf­träge für Wie­der­auf­bau­pro­jekte. Die ukrai­ni­sche Regie­rung hat in Koope­ra­tion mit der Kyjiwer Wirt­schafts­hoch­schule, dem Zentrum für Wirt­schafts­stra­te­gie und einer breiten Gruppe von Öko­no­men und Exper­ten das Projekt „Russ­land wird dafür bezah­len“ gestartet.

Gemein­sam berech­ne­ten sie, dass die Kosten für die direk­ten Kriegs­schä­den der Ukraine bis Februar 2023 bei knapp 144 Mil­li­ar­den US-Dollar liegen. Dazu kommen Ein­nah­me­ver­luste und zusätz­li­che Wie­der­auf­bau­kos­ten, wie etwa die Rück­ge­win­nung von Betriebs­ka­pi­tal, das auf­grund der Untä­tig­keit von Unter­neh­men während aktiver Feind­se­lig­kei­ten, unter rus­si­scher Besat­zung oder wegen Strom­aus­fäl­len ver­lo­ren gegan­gen ist. Diese werden auf 289 Mil­li­ar­den US-Dollar geschätzt. Ins­ge­samt werden demnach etwa  433 Mil­li­ar­den US-Dollar für den Wie­der­auf­bau benö­tigt. Der größte Teil des ermit­tel­ten Bedarfs betrifft Wohn­ge­bäude (rund 68 Mil­li­ar­den US-Dollar), gefolgt von der Infra­struk­tur (rund 156 Mil­li­ar­den US-Dollar) und an dritter Stelle die Land­wirt­schaft (knapp 30 Mil­li­ar­den US-Dollar).

Die Ener­gie­wirt­schaft ist gezielt unter Beschuss

Die ersten Monate der groß­an­ge­leg­ten rus­si­schen Inva­sion riefen in der Ukraine eine hand­feste Brenn­stoff­krise hervor. Die rus­si­sche Armee zer­störte die größte in Betrieb befind­li­che Ölraf­fi­ne­rie in Kre­ment­schuk sowie mehrere Ölde­pots. Zudem stell­ten Russ­land und Belarus die Lie­fe­rung von Ölpro­duk­ten ein. Daher musste die Ukraine ihre Kraft­stoff­lo­gis­tik von Grund auf neu ausrichten.

Die Regie­rung schaffte eine Preis­ober­grenze für Kraft­stoff ab. So erhiel­ten ukrai­ni­sche Impor­teure und Händler Anreize zur Einfuhr aus Raf­fi­ne­rien in Europa und Übersee. Zusam­men mit der ukrai­ni­schen Eisen­bahn errich­te­ten sie ein großes, dezen­tra­les Netz­werk von Treib­stoff­im­por­ten. Obwohl die Nutzung großer Lager­stät­ten in der Ukraine unbe­dingt ver­mie­den werden musste, konnte so die Nach­frage bereits im Juni 2022 erneut gedeckt und eine unun­ter­bro­chene Ver­sor­gung auf­recht­erhal­ten werden.

Das Land lebt nach Blackout-Plänen

Im Oktober 2022 begann Russ­land mit sys­te­ma­ti­schen Angrif­fen auf einen anderen Bereich der Ener­gie­wirt­schaft – die Erzeu­gung, Über­tra­gung und Ver­tei­lung von Strom. Obwohl es über mehrere Backups und Reser­ve­lei­tun­gen verfügt, ist dieses Ener­gie­sys­tem viel stärker zen­tra­li­siert und besitzt eine begrenzte Anzahl von Kno­ten­punk­ten. Das ist für die Wider­stands­fä­hig­keit des Systems ent­schei­dend. Zwei Monate nach Beginn der Angriffe gab es in der gesam­ten Ukraine kein ein­zi­ges Wär­me­kraft­werk mehr, das nicht beschos­sen worden wäre. Min­des­tens die Hälfte der Hoch­span­nungs­trans­for­ma­to­ren wurde beschädigt.

Es kam zu man­geln­den Kapa­zi­tä­ten bei der Strom­erzeu­gung und zu Eng­päs­sen bei der Ver­tei­lung. Der natio­nale Netz­be­trei­ber Ukr­energo war daher zu einer Beschrän­kung des Ver­brauchs gezwun­gen. Das ganze Land lebt seitdem nach Black­out-Plänen, die zudem nicht immer ein­ge­hal­ten werden können.

Die Schlüs­sel­sek­to­ren der Wirt­schaft sind schwer beschädigt

Die Metall­ur­gie, einer der Schlüs­sel­sek­to­ren der Wirt­schaft, verlor etwa ein Drittel ihres Ver­mö­gens. Asow-Stahl und die Eisen- und Stahl­werke Iljitsch, die zweit- und dritt­größ­ten Hüt­ten­werke der Ukraine, wurden schwer beschä­digt. Die Kokerei und Che­mie­fa­brik Awdi­jiwka nahm eben­falls Schaden und stellte den Betrieb ein. Im Herbst 2022 wurde auch das größte Hüt­ten­werk Arce­lor­Mit­tal teil­weise zerstört.

Im Juli 2022 stimmte die Rus­si­sche Föde­ra­tion auf Druck inter­na­tio­na­ler Partner der 120-tägigen Getrei­de­initia­tive zu, die die See­hä­fen von Odesa für Agrar­ex­porte öffnete. Im Novem­ber wurde die Initia­tive um weitere 120 Tage ver­län­gert. Darüber hinaus gelang es Händ­lern und Logis­ti­kern, die Ver­sor­gung über den Landweg her­zu­stel­len. Wie es wei­ter­geht, hängt von der Aus­wei­tung der Getrei­de­initia­tive ab. Die Ukraine wird über aus­rei­chend Getreide für ihre eigene Ernäh­rungs­si­che­rung ver­fü­gen, aber die Exporte könnten im nächs­ten Wirt­schafts­jahr erheb­lich zurückgehen.

Die Natio­nal­bank war gut vorbereitet

Am ersten Tag der rus­si­schen Inva­sion, dem 24. Februar 2022, legte die ukrai­ni­sche Natio­nal­bank den offi­zi­el­len Wech­sel­kurs zum US-Dollar auf 29,25 Hrywnja fest. Diese Ent­schei­dung und die Beschrän­kung des Bar­geld­be­zugs trugen dazu bei, einen pani­schen Ansturm auf die Banken und damit den Zusam­men­bruch der ukrai­ni­schen Währung zu ver­mei­den. Die Natio­nal­bank der Ukraine war auf mili­tä­ri­sche Her­aus­for­de­run­gen vor­be­rei­tet und hatte ver­schie­dene Reak­ti­ons­sze­na­rien aus­ge­ar­bei­tet. So konnte diese Politik inner­halb nur weniger Stunden nach dem Beginn des rus­si­schen Rake­ten­be­schus­ses umge­setzt werden. Am 21. Juli 2022 passte die ukrai­ni­sche Natio­nal­bank den Wech­sel­kurs zum US-Dollar auf ein Niveau von 36,6 Hrywnja an. Diese Annä­he­rung des offi­zi­el­len Kurses an den Markt ver­rin­gerte den Druck, mit Devi­sen­in­ter­ven­tio­nen reagie­ren zu müssen. Es bleibt jedoch wei­ter­hin eine Lücke bestehen. Der dop­pelte Wech­sel­kurs kommt de facto einer ver­steck­ten Steuer für Expor­teure gleich. Das ist nicht nach­hal­tig und muss ange­gan­gen werden.

Die Fis­kal­po­li­tik setzt auf Stimulierung

Der Krieg bedroht die Fis­kal­po­li­tik der Ukraine in ihrer Exis­tenz. Sie kon­zen­triert sich derzeit darauf, auf effi­zi­ente Weise die not­wen­di­gen Finanz­mit­tel für die Armee, die Auf­recht­erhal­tung von Recht und Ordnung sowie die soziale Unter­stüt­zung der Bürger und das Gesund­heits­we­sen bereit­zu­stel­len. Sie zielt auch darauf ab, jene Infra­struk­tur zu erhal­ten und wie­der­her­zu­stel­len, die für die Sicher­heit und das Funk­tio­nie­ren der Wirt­schaft von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist. Dies gilt ins­be­son­dere für Energie- und Logistiknetze.

Man kann trotz­dem davon aus­ge­hen, dass die Fis­kal­po­li­tik auch in Zukunft auf stark sti­mu­lie­rende Instru­mente setzen wird. Der für das Jahr 2023 beschlos­se­nen Haus­halt kal­ku­liert ein Defizit bis zu einer Höhe von 20 Prozent des Brut­to­in­lands­pro­duk­tes ein, außer­dem werden weitere inter­na­tio­nale Hilfs­gel­der erwar­tet. Die Unre­gel­mä­ßig­keit der Ein­nah­men und die Dis­kre­panz zwi­schen zuge­sag­ten und aus­ge­zahl­ten Hilfs­be­trä­gen sind die Haupt­pro­bleme, mit denen die Ukraine gegen­wär­tig im Zusam­men­hang mit aus­län­di­scher Finanz­hilfe zu kämpfen hat.

Die Flucht­be­we­gung darf nicht zunehmen

Neben der astro­no­mi­schen Summe von 433 Mil­li­ar­den US-Dollar, auf die sich der Wie­der­auf­bau­be­darf mitt­ler­weile beläuft, müssen weitere Summen bereit­ge­stellt werden. Um noch höhere Kosten zu ver­mei­den, müssen beschä­digte Wohn­häu­ser und kri­ti­sche Ener­gie­infra­struk­tur zeitnah repa­riert, die Gesund­heits- und Kin­der­be­treu­ungs­ein­rich­tun­gen unter­hal­ten, sowie vor­über­ge­hende Unter­künfte für Bin­nen­ver­trie­bene bereit­ge­stellt werden. Nimmt die Flucht­be­we­gung aus der Ukraine zu, mangelt es irgend­wann an Human­ka­pi­tal, und die Ver­brau­cher­nach­frage bricht ein. Lang­fris­tig könnte die ukrai­ni­sche Regie­rung dann eines Tages die Aus­ga­ben für den Ver­tei­di­gungs- und Sicher­heits­be­reich nicht mehr aus ihren eigenen Ein­nah­men zahlen.

Dieser Text ent­stand im Projekt „Deutsch-pol­ni­scher Runder Tisch zur Ost­eu­ropa-Politik“ des Jan Nowak-Jeziorań­ski Ost­eu­ropa-Kollegs und des Vereins Aus­tausch e. V. in Part­ner­schaft mit der Hein­rich Böll Stif­tung War­schau und der Stif­tung für deutsch-pol­ni­sche Zusammenarbeit.

Textende

Portrait Gaidai

Yurii Gaidai ist Senior Eco­no­mist am Zentrum für Wirt­schafts­stra­te­gie in Kyjiw.

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