Das Märchen von den ukrainischen Massenvernichtungswaffen
Screenshot eines Video-Briefings des Russischen Verteidigungsministeriums, der die militärischen biologischen Aktivitäten der Vereinigten Staaten in der Ukraine belegen soll.
Was hat es mit der Behauptung des Kremls, die Ukraine besitze Massenvernichtungswaffen, auf sich? Eine Einordnung im Kontext der russischen Propaganda von Mariia Vladymyrova.
Am 6. März 2022, eine Woche nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine, gab das russische Verteidigungsministerium eine Erklärung mit der Behauptung ab, Beweise dafür gefunden zu haben, dass die Ukraine mit Unterstützung der US-Regierung biologische Massenvernichtungswaffen entwickelt. Nach Angaben eines Sprechers des Ministeriums hätte das russische Militär Dokumente aus einem ukrainischen Labor sichergestellt, die auf eine ganze Zahl an Laboren in unmittelbarer Nähe der russisch-ukrainischen Grenze hinwiesen. Der Sprecher behauptete außerdem, dass die Amerikaner „aufgrund der ethnischen Ähnlichkeit“ Experimente an der ukrainischen Bevölkerung durchführten. So könnte die eigentliche Zielgruppe ins Visier genommen werden: russische Staatsbürger.
Seitdem haben die höheren Ränge der russischen Führung die Geschichte aufgegriffen, bis hin zu Wladimir Putin, der sie in seiner Ansprache an die regionalen Behörden der Russischen Föderation am 16. März ausdrücklich erwähnte. Unabhängig davon, wie absurd die Behauptungen, wie unzureichend die Beweise und wie offensichtlich die böswilligen Absichten dahinter sind, ist die russische Führung fest davon entschlossen, das Narrativ von der biologischen Kriegsführung aufrechtzuerhalten.
Propaganda ist eine schlechte Wahl, wenn man sich über den tatsächlichen Hergang von Ereignissen informieren will. In Kriegszeiten kann Propaganda jedoch eine wichtige Quelle für das Verständnis der internen Diskurse des Feindes und seiner Taktiken an der Informationsfront sein. Die Geschichte von den Laboratorien, die viele Tropen der russischen Propaganda berührt, scheint besonders aufschlussreich über die Absichten der Russischen Föderation in diesem Krieg zu sein. Und die Folgen für die Ukraine bereiten großen Anlass zur Sorge.
Informationsrauschen als Waffe gegen die Wahrheit
Russische Propaganda hat den Ruf, ein Werkzeug des Chaos zu sein. Hinter dieser scheinbaren Willkür stecken jedoch oft bestimmte Absichten. Die Russen verbreiten ihre Propaganda auf mehreren Kanälen und mit überwältigender Geschwindigkeit, neigen jedoch dazu, schlecht durchdachte Szenarien, wenig überzeugende Darstellungen von Akteuren und sporadische, schnell wechselnde Erzählungen zu liefern. Diese Überlastung führt zu einem „Informationsrauschen“ (auf Russisch: infoschum), das nicht darauf abzielt, die Menschen zu überzeugen, sondern vielmehr das Vertrauen in Regierungen, Institutionen und in die Existenz von Wahrheit und Fakten an sich zu untergraben.
Die Geschichte der Labore unterscheidet sich in dieser Hinsicht von anderen Beispielen. Die Konsequenz und der Nachdruck, mit dem die russische Führung die Erklärung abgegeben hat, lassen sie aus dem Hintergrundrauschen der russischen Propaganda hervorstechen. Es handelt sich nicht um eine Leerformel, sondern um einen Präzisionsschuss.
Die Geschichte selbst ist nicht wirklich neu. Die Trope mit den biologischen Basen kursiert schon seit langer Zeit in den Randbereichen der prorussischen Propagandanetzwerke in der Ukraine. Die ersten offiziell registrierten Petitionen an den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, die sich mit dem Thema befassen, stammen aus dem Jahr 2019. Kein Wunder, dass die COVID19-Pandemie dieses Narrativ nur noch verstärkte: Am 15. April 2020 appellierte der offen prorussische Politiker Viktor Medwedtschuk an den Präsidenten und die Leiter des Gesundheitsministeriums, des Sicherheitsdienstes der Ukraine und des Premierministers und erklärte – ohne Bezugnahme auf Fakten oder Quellen -, dass es in der Ukraine 15 biologische Labore für militärische Zwecke gebe.
Diese Behauptung wurde auf Quellen veröffentlicht, die von Medwedtschuk beziehungsweise seiner politischen Partei kontrolliert werden, wie ZIK oder 112.ua. Kurz darauf wurde die Geschichte auch von anderen Politikern verbreitet – zum Beispiel von den Abgeordneten der Partei Sluha narodu (Diener des Volkes) Alexander Dubinskij und Andrej Portnow. Außerdem teilten viele anonymen Telegram-Kanäle die Nachricht.
Ein Horrormärchen wird zur Frage der nationalen Sicherheit
Im russisch-ukrainischen Krieg hat der urbane Mythos von den Laboren ein bedrohliches Potenzial entwickelt. Das zeigt auch die Tatsache, dass die Geschichte in Russland auf höchster politischer Ebene thematisiert wird. Es ist damit ein besonderer Fall, der nicht typisch für solche drittklassigen Propagandastorys ist.
Das russische Verteidigungsministerium organisiert Briefings, in denen die Verwendung von Zugvögeln zur Übertragung bestimmter Viren ausführlich erörtert wird. Außenminister Lawrow erklärte, er habe praktisch keinen Zweifel daran, dass die Experimente in der Ukraine auf die Herstellung biologischer Waffen abzielten.
Zudem behauptete Lawrow, dass die Herstellung der Massenvernichtungswaffen in der Tat ethnisch motiviert sei. Seiner Meinung nach verfolgten die USA und ihre Partner das Ziel, biologische Kampfstoffe zu entwickeln, die bestimmte ethnische Gruppen innerhalb einer Bevölkerung angreifen können. Und da die Ukrainer den Russen genetisch ähneln würden, sei die Ukraine ein ideales Testgebiet. So endet die Geschichte über die bösen Atlantiker mit der Hauptbegründung der russischen Invasion in die Ukraine: Es handle sich um eine Operation zur Wiedervereinigung einer getrennten Nation.
Heute kann man sagen, dass dies das zentrale Narrativ für die Kriegsberichterstattung in Russland ist. Dazu kommen neue Legitimierungsnarrative: Die Abgeordneten der Staatsduma haben beschlossen, sich mit der Forderung, die Aktivitäten der biologischen Labore in der Ukraine unverzüglich zu untersuchen, an die UN und die OSZE-Vollversammlung zu wenden. Außerdem leiten der Föderationsrat und die Staatsduma eine parlamentarische Untersuchung zu diesem Thema ein.
Ein Vernichtungskrieg wird vorbereitet
Das Weiße Haus, das Pentagon und das US-Außenministerium haben die Behauptungen über biologische Waffenlabore in der Ukraine unmissverständlich zurückgewiesen. Es hat keinen Sinn, die Gegenargumente ausführlich zu erörtern und ich werde auch nicht versuchen, die ganze Geschichte auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Ich frage mich, was russische Offizielle beabsichtigen, wenn sie das Thema vom angeblichen Besitz von Massenvernichtungswaffen der Ukraine auf internationaler Ebene, über mehrere Kanäle und in dieser konsequenten Art und Weise ansprechen.
Es besteht das weit verbreitete Vorurteil, dass die Entscheidungsfindung des Kremls eng mit Präsident Putin abstimmt ist und er faktisch in allen Fragen das letzte Wort hat. Es gibt jedoch eine Besonderheit, die in den Erklärungen von Putins Autokratie oft übersehen wird: Auch wenn Putins Apparat bei der Umsetzung seiner Ideen auf keine glaubwürdigen politischen oder rechtlichen Grenzen stößt, ist er doch darauf bedacht, politische Maßnahmen zu legitimieren. Und dabei wird scheinbar viel Wert auf eine Argumentation im Sinne des internationalen Rechtsvokabulars gelegt. Kurz gesagt: Das Beispiel soll beweisen, dass der Kreml die letzte Instanz ist, die die wichtigsten rechtlichen Grundlagen der internationalen Ordnung verteidigt, anwendet und auslegt – während der Westen diese längst vergessen hat.
Wenn man sich diese Besonderheit vor Augen hält, kann man durchaus zu dem Schluss kommen, dass das Narrativ von den Massenvernichtungswaffen nichts anderes als die Vorbereitung eines uneingeschränkten Kampfes im Südosten der Ukraine ist. Die angebliche Herstellung von Massenvernichtungswaffen würde faktisch eine solche Bedrohung darstellen, die jeden Kollateralschaden an Zivilisten und ziviler Infrastruktur rechtfertigen würde. Das ist die russische Logik in der Auslegung des humanitären Völkerrechts und der Gebräuche des Krieges.
Daher müssen die politischen Entscheidungsträger der westlichen Gemeinschaft allein schon das Vorhandensein dieses Narrativs ernsthaft in Betracht ziehen. Das Worst-Case-Szenario eines Einsatzes biologischer Waffen unter falscher Flagge wird immer wahrscheinlicher. Die Tatsache, dass Putin seine Kraft hinter diese Geschichte gestellt hat, ist ein besonders schlechtes Zeichen.
Daher muss die bloße Existenz dieses Narratives von den politischen Entscheidungsträgern der westlichen Gemeinschaft ernst genommen werden. Dieses Narrativ muss in internationalen Foren wie der UN, der Organisation für das Verbot chemischer Waffen, der NATO, der OSZE, dem Internationale Komitee vom Roten Kreuz und anderen relevanten Akteuren auseinander genommen werden. Ein kurzer Blick auf die Landkarte, die das russische Verteidigungsministerium kürzlich präsentierte, zeigt: Der größte Teil der Ukraine, insbesondere der Südosten des Landes, ist von einer „gerechtfertigten“ Vernichtung bedroht.
Gefördert durch:
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.