Merkels ambivalentes Erbe im postsowjetischen Europa
Angela Merkel war bei ihrem Amtsantritt 2005 wie kaum eine andere westeuropäische Politikerin auf die Herausforderungen an der EU-Ostgrenze vorbereitet. Trotzdem haben folgenreiche Fehlentscheidungen vor und während Merkels Amtszeit die deutsche Ostpolitik auf einen falschen Pfad gebracht. Andreas Umland analysiert, wie es dazu kommen konnte.
Man kann sich vorstellen, dass die scheidende deutsche Bundeskanzlerin mit ihrem ostpolitischen Nachlass unzufrieden ist. Sowohl in Berlin als auch in Brüssel hinterlässt Angela Merkel erhebliches Kopfzerbrechen über die Zukunft Osteuropas. Vor allem dürften die meisten Mittelosteuropäer in Warschau, Kyjiw oder Tallin mehr oder minder unbefriedigt mit Merkels Erbe sein. 2005 hatte die erste Kanzlerin Deutschlands ihr Amt zu einem Zeitpunkt angetreten, als die politische Lage in Osteuropa relativ entspannt war und Moskau noch auf gutem Fuß mit dem Westen stand. Russland war G8-Mitglied, in einem speziellen Rat mit der NATO eingebunden sowie in Verhandlungen für einen erweiterten Kooperationsvertrag mit der EU.
Seit 2014 wird in vielen deutschen Kommentaren insinuiert, dass nationalistische Ukrainer mit amerikanischer Unterstützung diese Harmonie zerstört haben. Etliche Diskussionen osteuropäischer Geopolitik der vergangenen Jahre sind Besprechungen der „Causa Ukraine“ sowie westlicher Kardinalfehler bezüglich des aufmüpfigen Landes. Tatsächlich jedoch war Russlands Annexion der Krim und die Intervention im Donezbecken nur eine Fortsetzung älterer Moskauer Politikmuster im postsowjetischen Raum. Die 2014 offensichtlich gewordenen Ambitionen des Kremls waren schon lange Politik bezüglich Moldaus und Georgiens.
Ein paradoxer Nachlass
2021 verlässt die mit Abstand wichtigste und erfahrenste Politikerin Europas ihr Regierungsamt zu einem Zeitpunkt, in dem nicht nur die meisten russischen Partnerschaften mit westlichen Organisationen und Staaten beendet, lädiert oder eingefroren sind. Moskau befindet sich heute – wie schon vor der Februarrevolution von 1917 oder Demokratisierung ab 1987 – wieder in einem normativen Grundkonflikt mit dem Westen. Die neue Aggressivität des Kremls vis-a-vis freiheitlich-demokratischer Staaten äußerte sich unter anderem in etlichen russischen Unterwanderungen demokratischer Prozesse der vergangenen Jahre, so in Moskaus Störung der Präsidentschaftswahlen in den USA 2016 und – weniger erfolgreich – in Frankreich 2017.
Insbesondere schwelen bis heute alte und neue Konfrontationen zwischen Russland und seinen postsowjetischen Nachbarn – allen voran die Territorialkonflikte mit der Ukraine, Georgien und Moldau. Im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt ist Moskau ebenfalls hochpräsent, während die mit dem Programm Östliche Partnerschaft im Südkaukasus engagierte EU seit dem zweiten Karabach-Krieg 2020 nur noch eine Beobachterrolle spielt. Womöglich stehen derzeit die Zeichen für die russisch-ukrainischen Beziehungen wieder auf Sturm. Im schlimmsten Fall könnte es zu einem offenen Krieg zwischen den beiden größten Flächenstaaten Europas kommen. Inwieweit geht der manifeste Fehlschlag der Russland- und Osteuropapolitik Deutschlands und der EU der letzten eineinhalb Jahrzehnte auf das Konto Merkels?
Das Paradoxe am offensichtlichen Misserfolg der scheidenden Bundeskanzlerin ist, dass ihre Biografie vor ihrem Amtsantritt und ihr ostpolitisches Engagement seit 2005 eher Gutes erwarten ließen. Merkel war wie kaum eine andere führende deutsche Politikerin auf die Herausforderungen der Bundesrepublik und EU nach Ende des Kalten Krieges in Osteuropa vorbereitet. In der ehemaligen DDR aufgewachsen, hatte die künftige Kanzlerin die Sowjetunion als Sprachstudentin besucht und Russisch gelernt. 1989–1990 nahm sie an der samtenen Revolution in Ostdeutschland teil. Merkel verstand besser als die meisten anderen westlichen Politikerinnen die Umbrüche im postsowjetischen Raum der letzten zwanzig Jahre, so etwa die georgische Rosenrevolution von 2003 oder die beiden ukrainischen Aufstände von 2004 sowie 2013–2014.
Als überzeugte Europäerin und Transatlantikerin sowie eine auf Ausgleich in der EU bedachte Regierungschefin hat Merkel sich bei Deutschlands westlichen Partnern hohes Ansehen erworben. Aus diesen und anderen Gründen konnte die Bundeskanzlerin ab 2014 unwidersprochen eine Führungsrolle in der Gestaltung der westlichen Beziehungen zu Russland übernehmen. Sie hat sich seither besonders intensiv mit den eskalierenden politischen Spannungen in Osteuropa und vor allem mit dem russisch-ukrainischen Krieg auseinandergesetzt.
Trotz dieser und anderer günstiger Vorzeichen steht die Ostpolitik der Bundesrepublik und der EU heute vor einem Scherbenhaufen. Zwar gab es in der Ära Merkel auch eine Reihe von Errungenschaften wie die Beitritte einiger Balkanländer zur EU und NATO. Die drei 2014 abgeschlossenen, besonders großen Assoziierungsabkommen der EU mit Georgien, Moldau und der Ukraine können ebenfalls als Erfolge gelten. Viele dieser Fortschritte sind allerdings nur beschränkt der deutschen Regierung allgemein und Merkels Tätigkeit im Besonderen zuzuschreiben. Man kann der Bundeskanzlerin allenfalls zugutehalten, dass ihr hoher ostpolitischer Einsatz und ihr enormes diplomatisches Engagement beim Versuch einer Lösung des russisch-ukrainischen Konflikts seit 2014 schlimmeres verhindert hat.
Das Maß deutscher Verantwortung
Sind die vielen guten Voraussetzungen, Absichten und Aktivitäten der Bundeskanzlerin von 2005 bis 2021 ausreichend, um Deutschland von Mitverantwortung für die gravierenden innen- und außenpolitischen Fehlentwicklungen im postsowjetischen Raum während der vergangenen eineinhalb Jahrzehnte freizusprechen? War die Bundesrepublik angesichts großer Kräfteverschiebungen außerhalb der Berliner Kompetenz von Anfang an zu jener zweitrangigen Schlichterrolle verurteilt, die Merkel dann so gut es ging ausfüllte? Waren die Deutschen in Osteuropa nolens volens dazu verdammt, Zuschauer schicksalhafter geopolitischer Makrotrends zu sein, die Berlin hätten weder verhindern noch steuern können?
Eine solche Verantwortungsflucht widerspricht dem hohen politische Einfluss, internationalen Ansehen und ökonomischen Gewicht der Bundesrepublik in Europa. Hinzu kommt die fortgesetzte Schlüsselrolle der EU – und innerhalb der Union Deutschlands – für Russlands Außenhandel und damit auch Staatseinnahmen, Wirtschaftssubventionen, Politikerrenten sowie Bestechungskreisläufe. Diese und andere interne und transnationale russische Geldflüsse speisen sich vor allem aus Gewinnen der gewaltigen Exporte sibirischer Energieträger nach Europa.
Deutschland ist aus diesen und anderen Gründen ein eher großer Elefant im osteuropäischen Porzellanladen. Aus Berlin den Zeigefinger auf andere Akteure in Washington, Kyjiw oder Brüssel zu richten, um zu erklären, warum so vieles in den letzten eineinhalb Jahrzehnten im postsowjetischen Raum schieflief, wäre fehl am Platz. Auch ein deutscher Mittelfinger Richtung Osten ist angesichts der Weltkriegsgeschichte etwa der Ukraine unangebracht. Warum also brachte die Kombination Merkelscher Erfahrung, Klugheit und Anstrengung mit der politischen, kulturellen und ökonomischen Macht Deutschlands keine besseren Ergebnisse in Osteuropa hervor?
Konzentriert man sich auf den deutschen Beitrag insbesondere zur Fehlbehandlung Moskaus, so stechen drei politische Entscheidungen Berlins hervor, die vor beziehungsweise früh in Merkels 16-jähriger Kanzlerschaft die deutsch-russischen Beziehungen und Ostpolitik auf einen falschen Pfad brachten. Dies betraf die Bundestagsrede Putins 2001, die Initiierung der Nord Stream-Projekte 2005 sowie westliche Behandlung Georgiens 2008. Die seltsame Tragik der Merkelschen Ostpolitik bestand darin, dass die an und für sich hochintelligente und ‑engagierte Kanzlerin sich unfähig zeigte, den russlandpolitischen Holzweg zu verlassen, den Berlin unter ihrem Vorgänger eingeschlagen hatte. Symptomatisch ist auch, dass keiner der frühen Kardinalfehler Berlins direkt mit der Ukraine zu tun hatte, der Konflikt um sie herum jedoch seit 2014 das Fiasko der deutschen Ostpolitik im neunen Jahrhundert markiert.
Ein schicksalhafter Bundestagsauftritt
Eine folgenreiche Fehlentscheidung fällte Berlin lange vor Merkels Machtantritt und bereits früh in der Abfolge der Putinschen Regentschaften von bislang zwei Regierungsvorsitzen sowie vier Präsidialperioden. Im September 2001 lud die Bundesrepublik Putin als frischgebackenen zweiten Präsidenten Russlands ein, vor dem versammelten Bundestag zu sprechen. Eine solche Ehre war und ist bis heute keinem anderen amtierenden russischen Regierungs- und Staatsoberhaupt zuteilgeworden. Dies galt sowohl für Michail Gorbatschow als indirekter gewählter UdSSR-Staatschef 1990–1991 als auch für Boris Jelzin als erstes vom Volk gewähltes russisches Staatsoberhaupt 1991–1999 sowie für Dmitrij Medwedjew als liberaler Statthalter Putins im Präsidialamt 2008–2012. Alle drei Präsidenten wären es im Lichte ihrer Weltanschauungen eher als Putin wert gewesen, im deutschen Parlament auftreten zu dürfen. Wenigstens sprach Gorbatschow als Privatperson nach seinem Weggang aus der Politik 1999 im Bundestag.
Für sich genommen erscheint die relativ pro-westliche und in Deutsch gehaltene Bundestagsrede Putins von 2001 freilich unstrittig. Doch waren die Begleitumstände des Auftritts des neuen russischen Staatsoberhaupts dubios. Der Bundestag reagierte mit Ovationen auf das Werben eines russischen Politikers, der als KGB-Offizier in Dresden nur einige Jahre zuvor noch Teil der Moskauer Besatzungsmaschinerie in Osteuropa war. Noch erstaunlicher war, dass Putin erlaubt wurde, sich in Berlin feiern zu lassen, während russische Streitkräfte illegal in einem anderen Land standen.
Denn während Putins Berlin-Besuch 2001 und bis heute steht ein unerwünschtes russisches Truppenkontingent in der Region Transnistrien der Republik Moldau.¹ 1994 hatte sich Moskau nach seinem widerrechtlichen bewaffneten Eingriff in einen innermoldauischen Konflikt in einem bilateralen Vertrag mit Chişinău auf den Abzug seiner Militäreinheit geeinigt. Im November 1999 verpflichtete sich der Kreml – Putin war damals als Premier bereits faktischer Regent Russlands – in einem OSZE-Dokument nochmals, seine verbliebenen Truppen aus Transnistrien abzuziehen.
Zum Zeitpunkt der Bundestagsrede Putins war dies jedoch nicht geschehen. Es gab es auch keinerlei Anzeichen dafür, dass Moskau seinen bi- und multilateralen Verpflichtungen gegenüber dem blockfreien moldauischen Staat demnächst nachkommen würde. Merkel versuchte 2010–2011 im Rahmen des sogenannten Meseberger Prozesses mit dem damaligen Präsidenten Medwedjew zu einer Lösung des Transnistrienproblems zu kommen. Jedoch blieben Merkels erhebliche Bemühungen ohne Erfolg – nicht zuletzt, weil Putin und nicht der kompromissbereite Medwedjew weiterhin die Moskauer Machtzügel in der Hand hielt.
Zudem hatte Putin nach Übernahme der russischen Regierungsgeschäfte im August 1999 unter dem Vorwand fragwürdiger Terroranschläge in Zentralrussland den Zweiten Tschetschenienkrieg mit tausenden zivilen Opfern vom Zaun gebrochen. Offenbar war der Anlass für Putins Eskalation im Nordkaukasus im September 1999 vom russische Föderalen Sicherheitsdienst FSB inszeniert worden. In mehreren englischsprachigen Büchern (unter anderem von Yuri Felshtinsky, Alexander Litvinenko, John B. Dunlop, Vladimir Priylovsky und David Satter) ist ausführlich dargelegt, dass der bis dahin von Putin geleitete FSB selbst die russischen Wohnhäuser in die Luft gesprengt hatte.
Mit dem kaltblütigen Massenmord an über dreihundert russischen Zivilisten sollte dem gerade vom FSB in den Regierungsvorsitz gewechselten Putin ein Vorwand zu einer Strafaktion gegenüber separatistischen Tschetschenen geliefert werden. Vor allem sollte dem neuen Premier mit KGB-Vergangenheit eine Propagandavorlage für seine beginnende Machtakkumulation in Moskau gegeben werden. Ungeachtet solcher und anderer beunruhigender Entwicklungen ab 1999 wurde das russische Staatsoberhaupt zwei Jahre später im deutschen Parlament vom Großteil der anwesenden Abgeordneten öffentlich gefeiert.
Die im September 2001 bereits sichtbaren erheblichen innen- und außenpolitischen Regressionen unter Putin waren kein Thema seines Deutschlandbesuchs. Diese Unterlassung stellte das Problem des damaligen Bundestagsauftritts und Gesprächsprogramms Putins in Berlin dar. Die Einladung des deutschen Parlaments sowie die überschwänglichen Reaktionen der Abgeordneten auf Putins Rede sandten ein fatales Signal nach Moskau: Völker- und menschenrechtliche Probleme sind, wenn es um das Verhältnis der beiden größten Nationen Europas geht, von untergeordneter Bedeutung.
Wichtiger als die in der 1975er Schlussakte von Helsinki oder 1990er Charta von Paris festgehaltenen Prinzipien ist die Chemie zwischen Moskau und Berlin. So zumindest dürften viele russische Politiker und Diplomaten das laute Schweigen Berlins zu Transnistrien und Tschetschenien 2001 verstanden haben. Ost-West-Handel, gute persönliche Beziehungen und Schönwetterrhetorik gehen vor westlichen Werten, internationalen Ordnungsprinzipien und europäischer Sicherheit.
Ironischerweise wäre vor diesem historischen Hintergrund heute etwas Russlandversteherei angebracht. Angesichts des Beifalls für Putin im Bundestag 2001 kann man nachvollziehen, dass Moskau 2014 konsterniert war, als Berlin bezüglich der Ukraine nun gewisse Prinzipienfestigkeit an den Tag legte. Warum konnte für die – aus russischer Sicht wichtigere – Ukraine nicht Ähnliches gelten, wie für das – aus Moskauer Perspektive zweitrangige – Transnistrien, Abchasien oder Südossetien?
Wie genau soll der Kreml die deutsche Politik angesichts der relativ ähnlichen moldauischen und ukrainischen Situationen von 2001 und 2014 verstehen? Der Bundestag applaudierte einem russischen Präsidenten, als Moskauer Truppen widerrechtlich in Transnistrien standen und nachdem sie in Tschetschenien Tausende Zivilisten getötet hatten. Seit über sieben Jahren unterstützt Berlin heute jedoch EU-Sanktionen in Reaktion auf Moskauer militärische Aktivitäten auf der Krim und in der Ostukraine. Diese ukrainischen Regionen gehören weit eher zur „Russischen Welt“ als das von Moskau weit entfernte Transnistrien. „Wo bleibt die vielbesungene deutsche Stringenz und Logik?“ mögen sich einige im Kreml gefragt haben.
Berlins destruktive Pipelinepolitik ab 2005
Eine zweite Fehlentscheidung Berlins, die den ostpolititischen Entwicklungspfad der Kanzlerschaft Merkels vorherbestimmte, fiel 2005 im Umfeld ihres Amtsantritts. In den letzten Wochen vor dem Ende von Gerhard Schröders Regierungszeit sowie in den darauffolgenden Monaten wurde das erste Nord Stream-Projekt initiiert. Die anschließende Anstellung Schröders bei Gazprom (und später Rosneft) sowie die damals einsetzende massive Propaganda einer angeblichen Notwendigkeit europäischer Gasversorgung mittels russische Unterwasserpipelines waren Weichenstellungen für Merkels künftigen ostpolitischen Ansatz. Diese Entwicklungen schufen zu Beginn von Merkels Regierungszeit juristische, informelle und diskursive Rahmenbedingungen, die ihre Russlandpolitik nachhaltig prägen sollten. Die gravierenden Rückwirkungen solcher frühen Entscheidungen bestimmen bis heute die deutsche außenwirtschaftliche und ‑politische Debatte sowie das Verhältnis Berlins zu Moskau wie auch zu Warschau, Kyjiw oder Vilnius.
Die vom scheidenden Kanzler Schröder 2005 begonnenen und daraufhin in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender von Nord Stream 1 und 2 geförderten Unterwasserprojekte wurden trotz ihrer energiewirtschaftlichen Redundanz resolut umgesetzt. In den apologetischen Narrativen werden die Projekte teils als rein kommerzielle, teils als clevere geoökonomische, ja teils gar als kluge sicherheitspolitische Initiativen präsentiert. Solche Narrative finden breiten Anklang, obwohl die hohen Überkapazitäten zum Import sibirischen Erdgases nach Europa sowie die gravierenden geopolitischen Folgen der neuen Pipelines inzwischen unschwer erkennbar sind.
Die Senkung von Moskaus lähmender Abhängigkeit vom ukrainischen Gasleitungssystem durch die Inbetriebnahme der beiden ersten Nord Stream-Stränge 2011–2012 war von Anfang mehr als eine neue Außenhandelsstrategie. So irreführend die These von einer angeblichen Notwendigkeit der Nord-Stream-Projekte für europäische Energieversorgung war und ist, so real ist Moskaus Wille, die Rolle der Ukraine als Transitland für sibirisches und zentralasiatisches Gas zu reduzieren. Erst die teilweise Erreichung dieses Ziels mit der vollständigen Inbetriebnahme der ersten Nord Stream-Pipeline im Oktober 2012 machte die Fortführung der zuvor in Moldau und Georgien begonnenen russischen Revanche für den Zusammenbruch der UdSSR nun auch in der Ukraine möglich.
Die ab Ende 2012 vorhandene Alternative Gazproms, einen Großteil seines Exports in die EU unter Umgehung der Ukraine abzuwickeln, war keine hinreichende, jedoch eine notwendige Bedingung für den darauffolgenden Anstieg russischer Aggressivität gegenüber der Ukraine. Die neue Unnachgiebigkeit des Kremls äußerte sich bereits lange vor der Euromaidan-Revolution. Im Verlauf des letzten Friedensjahres 2013 kam es zu einer Vielzahl streitbarer Signale und Maßnahmen Moskaus vis-a-vis der damals noch ausdrücklich russlandfreundlichen Regierung in Kyjiw.
So verhängte der Kreml im August 2013 eine mehrtägige vollständige und für alle Seiten verlustreiche Handelsblockade gegen die Ukraine. Die eskalierende Moskauer Rhetorik und Sanktionspolitik führte bereits vor Beginn der Kyjiwer Proteste Ende November 2013 zu steigenden Spannungen in den russisch-ukrainischen Beziehungen. Die geschah, obwohl die Ukraine mit dem damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und Premierminister Mykola Asarow (ein ethnischer Russe) unter einer explizit prorussischen Führung stand, deren baldiger Machtverlust noch nicht abzusehen war. Der Präsident wurde nicht – wie oft kolportiert – von den Maidanrevolutionären, sondern vom bis dahin Janukowytsch-hörigen ukrainischen Parlament am 22. Februar 2014 nach Beendigung (und nicht während) der Straßenkämpfe seines Amtes enthoben.
In Reaktion auf Janukowytschs Entmachtung schwenkte Moskau in seiner Ukrainepolitik auf jene Strategie um, die es schon Jahre zuvor vis-a-vis Moldau und Georgien betrieben hatte. Nach jahrelangen rhetorischen, politischen und ökonomischen Attacken auf Kyjiw begann Moskau im Februar 2014 auf der Krim und März 2014 im Donezbecken, wie zuvor in Transnistrien, Südossetien und Abchasien, eine teils militärische, teils paramilitärische Intervention und Okkupation der Ukraine.
Es verwundert, dass bis heute viele westliche Interpreten Putins die Regelhaftigkeit im Verhalten des Kremls verkennen. Trotz der älteren Beispiele Moldau und Georgien bestehen auch einige als OsteuropaexpertInnen bekannte KommentatorInnen auf einer angeblichen Außerordentlichkeit des Ukrainefalls sowie Schlüsselrolle falscher EU-Politik für die Eskalation in Osteuropa 2014. Lange vor Russlands Angriff auf seinen westlich orientierten Bruderstaat mussten die Republiken Moldau und Georgien für ihre Bestrafung seitens des Kremls weder Teile ostslawischer Kultur noch in Assoziierungsverhandlungen mit Brüssel verwickelt sein. Die beiden Länder hatten in den Neunzigern die Kontrolle über größere Anteile ihrer Staatsterritorien als die Ukraine 2014 verloren. Chişinău und Tbilissi ereilte ihr trauriges Schicksal früher als die 2014 angeblich von radikalem Nationalismus und westlicher Dummheit aufgestachelte Ukraine.
Verblüffend an der Berliner Debatte um die dramatische Verschlechterung in den Beziehungen zu Russland seit 2014 war und ist zudem, dass die offensichtlichen historischen Parallelen zu den Ergebnissen der Neuen Ostpolitik der 1970er im Hintergrund bleiben. Mit dem Röhrenkredit‑1 schloss Bonn im Jahr 1970 das bis dahin größte Finanzgeschäft Westdeutschlands mit dem Kreml ab. Neun Jahre nach diesem Abkommen zum Bau neuer Gasleitungen marschierte Moskau in Afghanistan ein. Die sowjetische Intervention beendete die relative Entspannung der 1970er und leitete eine Spannungsperiode in den internationalen Beziehungen zwischen 1980 und 1985 ein.
Mit dem ersten Nord Stream-Abkommen von 2005 begann das bis dahin größte Infrastrukturprojekt Europas auf dem Grund der Ostsee. Neun Jahre nach der deutsch-russischen Vereinbarung marschierte Moskau 2014 in der Ukraine ein. Wie schon in den siebziger Jahren, stören heute auch andere Entwicklungen rund um die Welt das Verhältnis des Westens zum Kreml. Doch war die militärische Intervention Moskaus in einem Nachbarland sowohl 1979 als auch 2014 ein Hauptfaktor im Spannungsanstieg mit dem Westen.
Man könnte diese Geschichte zu einer Prognose für die nähere Zukunft Osteuropas weiterspinnen: Im Jahr 2015 wurde der Nord Stream-2-Vertrag abgeschlossen. Rechnet man wiederum neun Jahre – wie 1970+9 und 2005+9 – zu dieser Zahl hinzu, kommt man auf 2024. In diesem Jahr wird nicht nur das derzeit gültige russisch-ukrainische Gasabkommen auslaufen. Die regulären Präsidentschaftswahlen sowohl Russlands als auch der Ukraine sind für 2024 angesetzt. Der berüchtigte russische TV-Propagandist Dmitrij Kisseljow könnte solche Übereinstimmungen mit seiner berühmten Verschwörungsformel „Sovpadenie? Ne dumaju!“ („Ein Zufall? Ich denke nicht!“) kommentieren.
Hinter solchen Parallelen verbirgt sich mehr als die Möglichkeit zu ironischen Orakeln. Moskaus Interventionen in Afghanistan 1979 und in der Ukraine 2014 illustrieren die beschränkte Wirksamkeit Neuer Ostpolitik. Der tatsächliche Effekt energiewirtschaftlicher Großprojekte widerspricht dem pazifistischen Anspruch der Interdependenztheorie, die häufig zur Rechtfertigung lukrativer Geschäftsvorhaben mit autoritären Staaten bemüht wird. Nicht Frieden, sondern Expansionskriege und Spannungseskalation folgten sowohl 1979 als auch 2014 auf Berlins jeweils neun Jahre zuvor mit Moskau gestartete Mammutkooperationen im Energiebereich 1970 beziehungsweise 2005.
Die bekannte deutsche Formel von der „Annäherung durch Verflechtung“ hat durch die tragischen Ereignisse der vergangenen Jahre eine Bedeutung erlangt, die über bloße Metaphorik hinaus geht. Deutschland und der russische Herrschaftsbereich haben sich seither nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch geographisch einander angenähert. Die geradezu schicksalhafte Richtigkeit der populären Verflechtungsformel Berlins wird dadurch bestätigt, dass nicht nur ökonomisch verflochtene Länder sich einander annähern. Wie die Praxis zeigt, gilt auch der Umkehrschluss aus diesem Gesetz internationaler Beziehungen. Jene neuen Gasvolumina welche seit 2011 – unter der Ostsee – Deutsche und Russen einander immer näherbringen, fehlen entsprechend für die Aufrechterhaltung russisch-ukrainischer Nähe.
Wie sowohl die Interdependenztheorie als auch Verflechtungsformel vorhersagen, führt nicht nur der Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen zu einem friedlicheren Verhältnis zwischen einzelnen Ländern. Ein paralleler Abbau ökonomischer Verbindungen mit Drittstaaten kann weniger Frieden für diese bedeuten. Durch Deutschlands immer stärkere direkte energiewirtschaftliche Verflechtung mit Russland seit 2005 haben die damit gleichzeitig entfädelten Transitstaaten eine reziproke Entfremdung von Moskau erfahren. Insbesondere führte die Entflechtung der Ukraine von der Russischen Föderation durch die beiden Nord Stream-1-Stränge 2011–2012 zunächst zu einem enormen Spannungsanstieg im Laufe des Jahres 2013. Schließlich kam es Anfang 2014 zu Moskaus Besetzung ukrainischen Territoriums, zunächst im Süden auf der Krim und danach im Osten im Donezbecken.
Der relative Zugewinn an nationaler Sicherheit durch die Nord Stream-Projekte ist für den von Russland weit entfernten NATO-Staat Deutschland nur gering. Dagegen erwies sich die äquivalente Reduzierung der Abhängigkeit Russlands von seiner einstigen Nachbarkolonie Ukraine für die Integrität letzterer als fatal. Der gesamteuropäische Stabilitätsverlust infolge Moskaus Annexion der Krim und Intervention im Donbas im Frühjahr 2014 übersteigt bei weitem den marginalen Sicherheitszuwachs für die EU durch die Fertigstellung der ersten Nord Stream-Pipeline Ende 2012.
Während Merkel kaum Verantwortung für die unglückliche Bundestagseinladung an Putin 2001 trägt, trifft sie bezüglich der Nord Stream-Projekte und ihrer Folgen Mitschuld. Die Kanzlerin konnte womöglich nicht mehr die Vollendung der ersten Nord Stream-Pipeline 2012 verhindern, so sie dies überhaupt gewollt hätte. Doch gibt der Baustart von Nord Stream‑2 2015 erhebliche Rätsel auf und erzeugt den Verdacht kognitiver Dissonanz in Berlin: Hatte der Kreml seine Intentionen gegenüber der Ukraine 2014 nicht hinreichend deutlich gemacht?
Der Doppelfehler bezüglich Georgien 2008
Zwei weitere – im Gegensatz zu den beiden Nord Stream-Projekten – in Deutschland kaum diskutierte Fehlentscheidungen unternahm Berlin 2008 in Bezug auf Georgien. Die damals nach Moskau gesendeten deutschen Signale sollten – wie zuvor die Bundestagseinladung an Putin 2001 und Nord Stream-Vertragsunterzeichnung 2005 – weitreichende Folgen für die russische Ukrainepolitik haben. Die gleich zweifache deutsche Brüskierung Tbilissis innerhalb eines Jahres fügte sich in den bereits zuvor in Moskau entstandenen Eindruck ein, dass Berlin stillschweigend russische Hegemonie im Großteil des postsowjetischen Raumes respektiert.
Als Georgien und die Ukraine Anfang 2008 gemeinsam ihre Mitgliedschaft in der NATO beantragten, waren sie in unterschiedlichen Ausgangspositionen. In Georgien unterstützten damals über zwei Drittel der Bevölkerung den Beitritt des Landes zur nordatlantischen Allianz. Zur selben Zeit lehnten in der Ukraine damals noch knapp zwei Drittel einen NATO-Beitritt ab; diese Einstellung der Ukrainer verkehrte sich erst nach dem russischen Angriff von 2014 ins Gegenteil.
Auch war Georgien 2008 – anders als die damalige Ukraine – schon geraume Zeit kein vollständig souveräner Staat mehr und hatte nachhaltig gestörte Beziehungen zu Russland. In den Regionen Abchasien und Zchinwali – besser bekannt als „Südossetien“ – hatte Moskau bereits in den 1990er Jahren separatistische Satellitenregimes installiert, die circa 20 Prozent des georgischen Staatsgebiets kontrollieren. (Die 2014 unter offizielle bzw. faktische russische Kontrolle geratenen ukrainischen Gebiete sind zwar flächenmäßig größer als die Georgiens; sie machen jedoch insgesamt nur etwa sieben Prozent des ukrainischen Staatsgebiets aus.)
Last but not least waren die Vorbereitungen auf eine NATO-Mitgliedschaft in Georgien Anfang 2008 bereits fortgeschritten und hatten den üblichen Reformprozess vor einem Beitritt zur Allianz eingeleitet. Kyjiw hatte zwar ebenfalls das Ziel einer NATO-Mitgliedschaft bereits 2003 gesetzlich fixiert. Jedoch lagen der Umbau der ukrainischen Armee und nötige Reformen bei der Gesetzgebung im Jahr 2008 noch weit hinter den Ergebnissen der beeindruckenden georgischen Reformerfolge zurück.
Der NATO-Gipfel von Bukarest im April 2008 markiert vor diesem Hintergrund eine weitere unglückliche Weichenstellung in der westlichen Ostpolitik, die wesentlich auf den Einfluss Berlins in der Allianz zurückzuführen war und auf Merkels Konto geht. Bei der kontroversen innerwestlichen Beratung der Reaktion der Allianz auf die beiden Beitrittsbegehren in der rumänischen Hauptstadt hätte Berlin als Kompromiss eine differenzierte Behandlung der Mitgliedsanträge Georgiens und der Ukraine vorschlagen können. Stattdessen bestand Deutschland auf einer faktischen Ablehnung beider Beitrittsgesuche.
Die fortgeschrittene georgische Vorbereitung auf eine NATO-Mitgliedschaft hätte 2008 mit dem Beginn eines sog. Membership Action Plans belohnt werden können. Dieser hätte das Land unmittelbar unter den Einfluss des Westens gestellt und zügig in die Allianz gebracht. Im georgischen Beitrittsabkommen hätten die abtrünnigen Regionen Abchasien und Zchinwali vom Beistandsartikel 5 des Washingtoner Vertrages ausgenommen werden können, so wie dies für spezielle Territorien alter NATO-Mitgliedsstaaten, wie der USA (Guam, Hawai), des Vereinigten Königreichs (Falkland) oder Frankreichs (Reunion), gilt. Auch hätte eine militärische Rückeroberung der de facto von Russland kontrollierten Teile Georgiens durch Tbilissi ausgeschlossen werden können.
Stattdessen einigten sich die NATO-Mitgliedsstaaten auf eine widersprüchliche Kompromissformel für die Abschlussdeklaration des Bukarester Gipfels 2008. Die Allianz erklärte zwar ausdrücklich, dass Georgien und die Ukraine „Mitglieder werden“. Es gab allerdings keinerlei Andeutungen darüber, wann und wie der offiziell verkündete Eintritt der beiden Staaten in die Allianz geschehen soll. Es blieb unklar, von welchen Bedingungen die Beitrittsprozesse Georgiens sowie der Ukraine abhängen und ob sie im Paket oder getrennt ablaufen würden. Der 2008 gefundene Mittelweg der Allianz war schließlich schlechter als eine offizielle Ablehnung der beiden Beitrittsanträge. Die Mitgliedschaftsversprechen lenkten Kyjiw und Tbilissi von anderen sicherheitspolitischen Strategien ab und schufen in Moskau ein Gefühl der Eiligkeit.
Der Kreml intensivierte in Reaktion auf den Bukarester NATO-Gipfel sowohl seine Georgien- als auch Ukrainepolitik. Während Moskau in der Ukraine damals noch hinreichende Hebel zur innenpolitischen Einflussnahme hatte, war die georgische Politik bereits weitgehend autonom. Daher taute Putin im Frühsommer 2008 den „eingefrorenen“ Konflikt in der Region Zchinwali auf und provozierte eine Antwort Micheil Saakaschwilis sowie den russisch-georgischen Fünftagekrieg. Die russische Invasion Georgiens wurde durch den so genannten Sarkozy-Plan beendet. In dem von der EU vermittelten Waffenstillstandsvertrag verpflichtete sich Russland Mitte August 2008 dazu, seine in der Vorwoche in den Regionen Zchinwali und Abchasien stationierten regulären Truppen wieder abzuziehen.
Jedoch wiederholte der Kreml in Bezug auf Georgien sein Verhaltensmuster gegenüber Moldau. Wie im Fall der von Russland in den 1990er Jahre unterzeichneten bi- und multilateralen Dokumente zu Transnistrien, implementierte Moskau auch den Sarkozy-Plan von 2008 nicht. Vertragsbrüchig beließ Russland seine Truppen auf georgischem Staatsgebiet.
Darüber hinaus adelte der Kreml die beiden georgischen Separatistengebiete indem er die Pseudorepubliken Abchasien und Südossetien als unabhängig anerkannte – während die „Pridnestrowische Moldauische Republik“ sowie die „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk bislang nicht von Moskau anerkannt wurden. Bei der Anerkennung der beiden kaukasischen Pseudostaaten sind bislang lediglich Venezuela, Nicaragua, Nauru, Syrien und Vanuatu dem Beispiel Russlands gefolgt. Mit der offiziellen Bestätigung der Eigenstaatlichkeit der russischen Satelliten-Regimes in Georgien ging der Kreml über seine bisherige Nachbarschaftspolitik hinaus und betrat außenpolitisches wie völkerrechtliches Neuland.
Wäre mit Georgien im April 2008 ein NATO-Membership Action Plan begonnen und das Land bis August 2008 in die Allianz aufgenommen worden, hätten sich sowohl Moskau als auch Tbilissi im Sommer jenes Jahrs anders verhalten. Die Risikokalkulation des Kremls bezüglich eines Beitrittskandidaten oder Mitgliedsstaates der NATO wäre eine andere gewesen. Wahrscheinlich hätte sich der Ansatz des Kremls gegenüber Georgien seinen Verhaltensmustern gegenüber den baltischen Republiken angeglichen. Die georgische Führung wiederum wäre während eines laufenden Beitrittsprozesses mit der NATO oder einer bereits erlangten Mitgliedschaft des Landes ebenfalls in einem anderen Verhaltensmodus gewesen; ein solcher Kontext hätte den Reaktionsradius Tbilissis bezüglich russischer Provokationen eingeschränkt.
Stattdessen sandte die NATO – wesentlich auf Betreiben Berlins – im April 2008 dem Kreml ein riskantes Signal. Demnach sind die Sicherheitsinteressen mehrheitlich klar prowestlicher, jedoch noch nicht mit dem Westen integrierter Nachbarvölker Russlands angesichts der Vorlieben des Kremls zweitrangig. Merkels Regierung bekräftigte mit ihrer Georgienpolitik 2008 einen Eindruck, den Berlin – wie dargelegt – bereits 2001 unter Schröder mit seiner Vernachlässigung moldauischer Sicherheitsinteressen in Moskau hinterlassen hatte. Für Putin & Co. stellte sich – so kann vermutet werden – damit eine Kontinuität der deutschen Ostpolitik unter unterschiedlichen Regierungen her.
Schlimmer noch: Moskaus manifeste Verletzung des Sarkozy-Plans und militärische Zerstückelung Georgiens in drei von Russland offiziell anerkannte Staaten blieb für den Kreml folgenlos. Brüssel beendete die ohnehin minimalen europäischen Sanktionen, die zur Bestrafung Russlands für seinen Krieg im Nordkaukasus verhängt worden waren. Die EU setzte ihre im August 2008 unterbrochenen Verhandlungen eines neuen Kooperationsvertrages mit Russland fort.
Dem setzte Deutschland noch eins drauf. Im Rahmen des 8. Petersburger Dialogs vom 30. September bis 3. Oktober 2008 – also nur wenige Wochen nach dem russisch-georgischen Krieg und kurz nach Moskaus Anerkennung Abchasiens und Südossetiens – wurde eine „Gemeinsame Erklärung des Petersburger Dialogs zur Gestaltung der Modernisierungspartnerschaft“ vom Vorsitzenden des deutschen Lenkungsausschusses dieser bilateralen Organisation, Lothar de Maizière, und von der Stellvertretenden Vorsitzenden, Ljudmila Werbizkaja, der Rektorin der Petersburger Universität (Putins Alma Mater), unterzeichnet. Ab 2010 wurde das anfänglich deutsche Projekt einer Modernisierungspartnerschaft mit Russland auf die europäische Ebene gehoben und sowohl von der EU als auch etlichen Mitgliedsstaaten übernommen.
Kurioserweise kam es somit nach Russlands Invasion, Bombardierung und Zersplitterung Georgiens nicht zu einer Abkühlung, sondern Aufwärmung der Beziehungen zwischen Berlin und Brüssel einerseits und Moskau andererseits. Die deutschen und anderen westeuropäischen Avancen gegenüber dem Kreml enthielten freilich – wie schon während Putins Bundestagsbesuch 2001 – keinerlei explizit affirmative Signale bezüglich der russischen Völker- und Menschenrechtsverletzungen in Moldau, Tschetschenien oder Georgien. Im Gegenteil, sowohl die Strategische als auch Modernisierungspartnerschaft Berlins und der EU mit Moskau hatte offiziell zum Ziel, Russland mittels erhoffter politischer Nachwirkungen einer ökonomischen Annäherung auch normativ an Europa heranzuführen.
Die noblen Absichten und strategischen Kalkulationen Berlins waren jedoch fehlgeleitet, wie wir inzwischen wissen. Sie konnten von Anfang nicht die hohen Kosten der deutschen Annäherungs- und Verflechtungsstrategie gegenüber Russland wettmachen. Die stillschweigende Vernachlässigung elementarer Interessen kleiner Nachfolgestaaten der UdSSR, wie der Republik Moldau und Georgiens, und implizite Duldung einer zunehmenden Aushebelung von Völkerrechtsprinzipien durch den Kreml im postsowjetischen Raum konnte kein gutes Ende nehmen. Die deutsche und europäische Duldsamkeit gegenüber Russlands Verhalten am Dnjestr und im Nord- sowie Südkaukasus haben weder innen- noch außenpolitische Früchte getragen. Während man in Berlin offenbar hoffte, mit ungeschmälerter Kooperationsbereitschaft einen prowestlichen Richtungswechsel in Moskau zu fördern, war das Gegenteil die Folge.
Die Ukraine als Nachspiel
Russlands Annexion der Krim und Intervention in der Ostukraine 2014 erscheinen vielen Beobachtern als präzedenzlose Sündenfälle osteuropäischer Geopolitik nach Ende des Kalten Krieges. Tatsächlich waren diese Entwicklungen jedoch nur Fortsetzungen älterer Trends. In gewisser Hinsicht waren sie logisches Resultat innenpolitischer Dynamiken in Russland und ungeeigneter Reaktionen des Westens darauf. Mit Merkels Übernahme der Kanzlerschaft 2005 hatte Deutschland eine, so schien es damals, ideale Besetzung im höchsten Regierungsamt, um adäquat auf die neuen Herausforderungen in Osteuropa nach Putins Machtantritt 1999 zu reagieren.
Wie sich jedoch allmählich herausstellte, wollte oder konnte die neue Kanzlerin nicht den unter Gerhard Schröder eingeschlagenen russlandpolitischen Holzweg Deutschlands verlassen. Der diplomatische Einsatz Merkels in Osteuropa stieg zwar an und war insbesondere 2014–2015 beachtlich. Womöglich ist es Merkel zu verdanken, dass Putin damals nicht noch tiefer in die Ukraine vorstieß. Die 2014 offensichtlich gewordene Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der deutschen Russlandpolitik blieb allerdings aus, wie der Beginn der Nord Stream 2‑Projektes im Jahr 2015 illustrierte.
Dass Merkel trotz ihrer hohen Kompetenz und offensichtlichen Enttäuschung von Putin nicht im Stande oder Willens war, die überfällige Abkehr der deutschen Ostpolitik vom Schröderschen Ansatz gegenüber dem Kreml zu vollziehen, ist bedrückend. Stattdessen blieb und bleibt der Berliner Verhaltensmodus gegenüber dem autoritären Regime in Russland von Richtungsentscheidungen eines Mannes geprägt, der ein politischer Freund Putins und seit 2005 offizieller Angestellter des russischen Staates ist. Womöglich wird der mittelosteuropäische und kaukasische Blutzoll noch signifikant steigen müssen, um eine Abkehr Berlins von dieser absurden Position zu bewirken.
¹ Genau genommen gab es damals noch einen zweiten ähnlichen Fall – eine russische Militärbasis in Abchasien in Georgien, deren Status ungeklärt war. Siehe Vladimir Socor: Russia’s Retention of Gudauta Base – An Unfulfilled CFE Treaty Commitment, in: Eurasia Daily Monitor, 3. Jg., Nr. 99, 22. Mai 2006, jamestown.org/program/russias-retention-of-gudauta-base-an-unfulfilled-cfe-treaty-commitment/.
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