Ukraine – A lost case?

©Marco Fieber, CC BY-NC-ND 2.0

Gemes­sen an den hohen Erwar­tun­gen kommen die Refor­men nur schlep­pend voran. Doch trotz vieler Rück­schritte – die Rich­tung stimmt. Es ist an uns Euro­pä­ern, die Ukraine auf ihrem Weg zu unter­stüt­zen. Von Marie­luise Beck

Die Ukraine vier Jahre danach: Aus dem bunten Maidan, der so voller Enthu­si­as­mus, Hoff­nung und Zuver­sicht gewesen war, wurde ein dunkler Ort. Mehr als 100 Men­schen bezahl­ten das „Wir wollen nach Europa“ mit ihrem Leben.

Aus dem Protest gegen eine kor­rupte poli­ti­sche Klasse und ihre will­fäh­rige Justiz wurde der Sturz einer Regie­rung. Die Macht war nicht bereit ein­zu­len­ken. Mit den Neu­wah­len schie­nen sich die Türen zur Zukunft für die Ukraine geöff­net zu haben. Das war für die Ukraine eine zweite Chance nach der ver­patz­ten Orangen Revolution.

Die holp­rige Transformation

Doch von einem Happy End kann nicht die Rede sein. Das Land bezahlte sein Auf­be­geh­ren mit dem Verlust der Krim und einem Krieg im Osten, der bereits mehr als 10.000 Men­schen­le­ben kostete. Mehr als 1.5 Mil­lio­nen sind auf der Flucht.

Auch die Wirt­schaft ging auf dra­ma­ti­sche Tal­fahrt. Der abge­trennte Osten hat zen­trale Wirt­schafts­adern zer­ris­sen. Die Per­for­mance der poli­ti­schen Klasse lässt zu wün­schen übrig. Das Wirken der Olig­ar­chen hinter den Kulis­sen bleibt intrans­pa­rent. Und der Prä­si­dent hielt sein Ver­spre­chen nicht, Geschäft und Politik zu trennen.

Die rus­si­sche Pro­pa­ganda denun­ziert den holp­ri­gen Weg der Trans­for­ma­tion: Der Prä­si­dent sei ille­gi­tim, weil die Folge eines Put­sches; das Par­la­ment wei­ter­hin bestückt mit gekauf­ten Statt­hal­tern; die Wirt­schaft im Abschwung und die Ver­sor­gung der Men­schen sehr schlecht. Vom angeb­li­chen Auf­stieg des Faschis­mus ganz zu Schweigen.

Das Reform­tempo könnte höher sein – aber die Rich­tung stimmt 

Auch im Westen trom­meln die Skep­ti­ker: Hätte man nicht den Kreml fragen müssen, ob er eine EU-Asso­zia­tion als Pro­vo­ka­tion emp­fin­det? Warum solle sich die erwei­te­rungs­müde EU einen wei­te­ren ost­eu­ro­päi­schen Kan­di­da­ten ins Haus holen, zumal das Haus ins­ge­samt wackelt? Und: Sollte uns ein gutes Aus­kom­men mit dem Kreml nicht wich­ti­ger sein als eine vor sich hin tau­melnde Ukraine?

Sicher, das Reform­tempo könnte höher sein – aber die Rich­tung stimmt. Der Maidan hat keinen Phönix aus der Asche geschaf­fen. Der Aufbau neuer Insti­tu­tio­nen ist zäh. Die alten Olig­ar­chen treten nicht zur Seite, neue Olig­ar­chien ent­ste­hen und die Arbeit von Prä­si­dent und Rada folgen oft dem Motto: „Zwei Schritte vor, einer zurück“

Erste Reform­erfolge sind spürbar

Dennoch: Schauen wir auf die Fakten. Die ukrai­ni­sche Zen­tral­bank bescherte dem fak­tisch bank­rot­ten ukrai­ni­schen Staat einen sta­bi­len Ban­ken­sek­tor. 80 intrans­pa­rente Banken – dar­un­ter gar solche, die als „too big to fail“ galten, wurden im Zuge des Auf­räu­mens abgewickelt.

Der Gas­sek­tor wurde in kurzer Zeit im wahrs­ten Sinne des Wortes her­um­ge­dreht: Statt von Ost nach West fließt das Gas nun von West nach Ost. Das bedeu­tet Unab­hän­gig­keit in der Ener­gie­ver­sor­gung vom rus­si­schen Nach­barn, der das Land schon mehr­fach erpresst hatte. Die Reor­ga­ni­sa­tion der Ver­tei­lungs­struk­tu­ren hat zudem die Zapf­sta­tio­nen als Quelle der Kor­rup­tion ausgetrocknet.

Der neue Zwang zur elek­tro­ni­schen Offen­le­gung der Ver­mö­gen von poli­ti­schen Funk­tio­nä­ren hat es in sich. Die Polizei wurde spürbar genug refor­miert, damit dem orga­ni­sier­ten Stra­ßen­raub ein Ende gesetzt wurde. Auf Drängen des IWF konnte ein Natio­na­les Anti­kor­rup­ti­ons­büro (NABU) seine Arbeit auf­neh­men. Der Wider­stand gegen die Durch­fors­tung der kor­rup­ten Struk­tu­ren ist groß. Bisher hat sich das NABU als stark genug erwie­sen, dem Stand zu halten und ermit­telt auch gegen hoch­ran­gige Funk­tio­näre. Doch der Prä­si­dent scheut die Ein­set­zung eines Anti­kor­rup­ti­ons­ge­rich­tes. NABU und eine unab­hän­gige Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richts­bar­keit sind Kern­stück und Vor­aus­set­zung für die Chance des Landes, die Kor­rup­tion spürbar zurück­zu­drän­gen und Trans­pa­renz herzustellen.

Vier große Reformen

Seit der par­la­men­ta­ri­schen Som­mer­pause haben vier große Refor­men die Rada pas­siert: Rente, Bildung, Gesund­heit und Justiz.

Der Bil­dungs­re­form hätte es gut­ge­tan, wenn der Venedig-Kom­mis­sion des Euro­pa­rats Zeit zur Stel­lung­nahme ein­ge­räumt worden wäre. Zu sen­si­bel ist die Frage der Sprach­wahl in dem ukrai­nisch-rus­sisch­spra­chi­gen Land. Dennoch: Diese Reform macht sich auf den Weg, ein ver­al­te­tes, auto­ri­tä­res und ver­krus­te­tes Schul­we­sen von innen aufzubrechen.

Der kos­ten­lose Zugang zu Ärzten und Medi­ka­men­ten bestand nur auf dem Papier. Zwar führt die Gesund­heits­re­form eine Selbst­be­tei­li­gung bei All­tags­krank­hei­ten ein, dafür sind die Abgaben nun trans­pa­rent und es gibt die Chance auf einen realen Zugang zu medi­zi­ni­scher Behand­lung. Dem Schwarz­markt im Gesund­heits­we­sen vor allem bei Medi­ka­men­ten soll der Boden ent­zo­gen werden.

Vier große Refor­men in einem Herbst sind ein immenser Kraftakt 

Die Jus­tiz­re­form kann nur in Teilen über­zeu­gen. Zu viele belas­tete Richter wurden im Amt belas­sen. Die Ver­fah­ren bei der Auswahl und Ernen­nung jedoch sind trans­pa­ren­ter gewor­den. Noch fehlt – s.o. – grünes Licht zur Eta­blie­rung eines spe­zi­el­len Anti­kor­rup­ti­ons­ge­richts. Doch erste Schritte hin zu einer freie­ren Justiz wurden gemacht.

Die Renten wurden erst­mals seit 2012 wieder erhöht. Der Durch­schnitts­lohn war seither um das Drei­fa­che gestie­gen – aber die Renten wurden nicht auf­ge­stockt. Um dem zukünf­tig zu begeg­nen, wird die Rente von nun an jähr­lich an die Infla­tion angepasst.

Die ukrai­ni­sche Gesell­schaft zählt auf unsere Unterstützung

Vier große Refor­men in einem par­la­men­ta­ri­schen Herbst sind ein immenser Kraftakt.

All diese Ent­wick­lun­gen sind Schritte eines fak­tisch zer­stör­ten Staates hin zu einem Gemein­we­sen, das seiner staat­li­chen Für­sorge nach­kommt. Wer das als uner­heb­lich denun­ziert, der möge sich abwen­den und in die Auf­sichts­räte von Rosneft, Gazprom und co. ein­rü­cken. Der wird auch die Legende von der Ukraine als „lost case“ gerne weitertragen.

Der Weg der Ukraine ist mühsam und die Eliten sind mehr als zöger­lich. Alte Seil­schaf­ten bestehen wei­ter­hin. Nicht nur in Kiew, sondern im ganzen Land hängt der Reform­ei­fer von Bür­ge­rin­nen und Bürgern vor Ort ab. Die ukrai­ni­sche Gesell­schaft ist aktiv und kreativ. Und sie ist es, die den Reform­mo­tor am Laufen hält.

Doch ohne Druck von außen reüs­sie­ren die reak­tio­nä­ren Kräfte. Keine Refor­men ohne den Druck durch EU, IWF und die natio­na­len Beglei­ter der Ukraine, wie etwa Deutsch­land, Frank­reich, Schwe­den und die USA.

Die Ukraine als „lost case“. Das ist der Traum des Kremls. Eine Ukraine als Staat von Bürgern für Bürger, öko­no­misch pro­spe­rie­rend und mit der Chance auf gutes Leben – das berei­tet dem Kreml schlaf­lose Nächte. Wer sich als Freund Russ­lands begreift, muss der Ukraine Erfolg wün­schen. Denn der Weg zu Demo­kra­tie in Russ­land führt über die Ukraine. Es ist an uns, diesen Weg ernst­haft zu beglei­ten und die Ukrai­ner auf ihrem Weg zu unterstützen.

Textende

 

Ver­wandte Themen

News­let­ter bestellen

Tragen Sie sich in unseren News­let­ter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mun­gen erklä­ren Sie sich einverstanden.