Ukraine – A lost case?
Gemessen an den hohen Erwartungen kommen die Reformen nur schleppend voran. Doch trotz vieler Rückschritte – die Richtung stimmt. Es ist an uns Europäern, die Ukraine auf ihrem Weg zu unterstützen. Von Marieluise Beck
Die Ukraine vier Jahre danach: Aus dem bunten Maidan, der so voller Enthusiasmus, Hoffnung und Zuversicht gewesen war, wurde ein dunkler Ort. Mehr als 100 Menschen bezahlten das „Wir wollen nach Europa“ mit ihrem Leben.
Aus dem Protest gegen eine korrupte politische Klasse und ihre willfährige Justiz wurde der Sturz einer Regierung. Die Macht war nicht bereit einzulenken. Mit den Neuwahlen schienen sich die Türen zur Zukunft für die Ukraine geöffnet zu haben. Das war für die Ukraine eine zweite Chance nach der verpatzten Orangen Revolution.
Die holprige Transformation
Doch von einem Happy End kann nicht die Rede sein. Das Land bezahlte sein Aufbegehren mit dem Verlust der Krim und einem Krieg im Osten, der bereits mehr als 10.000 Menschenleben kostete. Mehr als 1.5 Millionen sind auf der Flucht.
Auch die Wirtschaft ging auf dramatische Talfahrt. Der abgetrennte Osten hat zentrale Wirtschaftsadern zerrissen. Die Performance der politischen Klasse lässt zu wünschen übrig. Das Wirken der Oligarchen hinter den Kulissen bleibt intransparent. Und der Präsident hielt sein Versprechen nicht, Geschäft und Politik zu trennen.
Die russische Propaganda denunziert den holprigen Weg der Transformation: Der Präsident sei illegitim, weil die Folge eines Putsches; das Parlament weiterhin bestückt mit gekauften Statthaltern; die Wirtschaft im Abschwung und die Versorgung der Menschen sehr schlecht. Vom angeblichen Aufstieg des Faschismus ganz zu Schweigen.
Das Reformtempo könnte höher sein – aber die Richtung stimmt
Auch im Westen trommeln die Skeptiker: Hätte man nicht den Kreml fragen müssen, ob er eine EU-Assoziation als Provokation empfindet? Warum solle sich die erweiterungsmüde EU einen weiteren osteuropäischen Kandidaten ins Haus holen, zumal das Haus insgesamt wackelt? Und: Sollte uns ein gutes Auskommen mit dem Kreml nicht wichtiger sein als eine vor sich hin taumelnde Ukraine?
Sicher, das Reformtempo könnte höher sein – aber die Richtung stimmt. Der Maidan hat keinen Phönix aus der Asche geschaffen. Der Aufbau neuer Institutionen ist zäh. Die alten Oligarchen treten nicht zur Seite, neue Oligarchien entstehen und die Arbeit von Präsident und Rada folgen oft dem Motto: „Zwei Schritte vor, einer zurück“
Erste Reformerfolge sind spürbar
Dennoch: Schauen wir auf die Fakten. Die ukrainische Zentralbank bescherte dem faktisch bankrotten ukrainischen Staat einen stabilen Bankensektor. 80 intransparente Banken – darunter gar solche, die als „too big to fail“ galten, wurden im Zuge des Aufräumens abgewickelt.
Der Gassektor wurde in kurzer Zeit im wahrsten Sinne des Wortes herumgedreht: Statt von Ost nach West fließt das Gas nun von West nach Ost. Das bedeutet Unabhängigkeit in der Energieversorgung vom russischen Nachbarn, der das Land schon mehrfach erpresst hatte. Die Reorganisation der Verteilungsstrukturen hat zudem die Zapfstationen als Quelle der Korruption ausgetrocknet.
Der neue Zwang zur elektronischen Offenlegung der Vermögen von politischen Funktionären hat es in sich. Die Polizei wurde spürbar genug reformiert, damit dem organisierten Straßenraub ein Ende gesetzt wurde. Auf Drängen des IWF konnte ein Nationales Antikorruptionsbüro (NABU) seine Arbeit aufnehmen. Der Widerstand gegen die Durchforstung der korrupten Strukturen ist groß. Bisher hat sich das NABU als stark genug erwiesen, dem Stand zu halten und ermittelt auch gegen hochrangige Funktionäre. Doch der Präsident scheut die Einsetzung eines Antikorruptionsgerichtes. NABU und eine unabhängige Antikorruptionsgerichtsbarkeit sind Kernstück und Voraussetzung für die Chance des Landes, die Korruption spürbar zurückzudrängen und Transparenz herzustellen.
Vier große Reformen
Seit der parlamentarischen Sommerpause haben vier große Reformen die Rada passiert: Rente, Bildung, Gesundheit und Justiz.
Der Bildungsreform hätte es gutgetan, wenn der Venedig-Kommission des Europarats Zeit zur Stellungnahme eingeräumt worden wäre. Zu sensibel ist die Frage der Sprachwahl in dem ukrainisch-russischsprachigen Land. Dennoch: Diese Reform macht sich auf den Weg, ein veraltetes, autoritäres und verkrustetes Schulwesen von innen aufzubrechen.
Der kostenlose Zugang zu Ärzten und Medikamenten bestand nur auf dem Papier. Zwar führt die Gesundheitsreform eine Selbstbeteiligung bei Alltagskrankheiten ein, dafür sind die Abgaben nun transparent und es gibt die Chance auf einen realen Zugang zu medizinischer Behandlung. Dem Schwarzmarkt im Gesundheitswesen vor allem bei Medikamenten soll der Boden entzogen werden.
Vier große Reformen in einem Herbst sind ein immenser Kraftakt
Die Justizreform kann nur in Teilen überzeugen. Zu viele belastete Richter wurden im Amt belassen. Die Verfahren bei der Auswahl und Ernennung jedoch sind transparenter geworden. Noch fehlt – s.o. – grünes Licht zur Etablierung eines speziellen Antikorruptionsgerichts. Doch erste Schritte hin zu einer freieren Justiz wurden gemacht.
Die Renten wurden erstmals seit 2012 wieder erhöht. Der Durchschnittslohn war seither um das Dreifache gestiegen – aber die Renten wurden nicht aufgestockt. Um dem zukünftig zu begegnen, wird die Rente von nun an jährlich an die Inflation angepasst.
Die ukrainische Gesellschaft zählt auf unsere Unterstützung
Vier große Reformen in einem parlamentarischen Herbst sind ein immenser Kraftakt.
All diese Entwicklungen sind Schritte eines faktisch zerstörten Staates hin zu einem Gemeinwesen, das seiner staatlichen Fürsorge nachkommt. Wer das als unerheblich denunziert, der möge sich abwenden und in die Aufsichtsräte von Rosneft, Gazprom und co. einrücken. Der wird auch die Legende von der Ukraine als „lost case“ gerne weitertragen.
Der Weg der Ukraine ist mühsam und die Eliten sind mehr als zögerlich. Alte Seilschaften bestehen weiterhin. Nicht nur in Kiew, sondern im ganzen Land hängt der Reformeifer von Bürgerinnen und Bürgern vor Ort ab. Die ukrainische Gesellschaft ist aktiv und kreativ. Und sie ist es, die den Reformmotor am Laufen hält.
Doch ohne Druck von außen reüssieren die reaktionären Kräfte. Keine Reformen ohne den Druck durch EU, IWF und die nationalen Begleiter der Ukraine, wie etwa Deutschland, Frankreich, Schweden und die USA.
Die Ukraine als „lost case“. Das ist der Traum des Kremls. Eine Ukraine als Staat von Bürgern für Bürger, ökonomisch prosperierend und mit der Chance auf gutes Leben – das bereitet dem Kreml schlaflose Nächte. Wer sich als Freund Russlands begreift, muss der Ukraine Erfolg wünschen. Denn der Weg zu Demokratie in Russland führt über die Ukraine. Es ist an uns, diesen Weg ernsthaft zu begleiten und die Ukrainer auf ihrem Weg zu unterstützen.
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