Truth Hounds: Doku­men­ta­tion des Unfassbaren

Foto: Vudi Xhyms­hiti /​ Imago Images

Die ukrai­ni­sche Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion Truth Hounds doku­men­tiert seit 2014 Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit durch die rus­si­sche Armee.

Roman Koval, Leiter der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ab­tei­lung der Truth Hounds, stellt seine Orga­ni­sa­tion vor als Bei­spiel dafür, wie Nach­wei­sung von Kriegs­ver­bre­chen in der Ukraine verläuft.

Wer ist Truth Hounds?

Truth Hounds ist eine ukrai­ni­sche Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tion, die ihre Arbeit im Jahr 2014 auf­ge­nom­men hat. Sie arbei­tet vor allem an der Doku­men­ta­tion und Unter­su­chung von Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit. Die Mit­glie­der der Orga­ni­sa­tion ver­fü­gen über umfang­rei­che Erfah­run­gen in der Ukraine und in einer Reihe anderer Länder in Ost­eu­ropa, Zen­tral­asien und dem Kau­ka­sus. Truth Hounds sammelt nicht nur Beweise für inter­na­tio­nale Ver­bre­chen, sondern ver­sucht auch, Per­so­nen zu iden­ti­fi­zie­ren, die an solchen Ver­bre­chen betei­ligt waren.

In den acht Jahren ihrer Arbeit hat die Orga­ni­sa­tion etwa 150 Mis­sio­nen zur Doku­men­ta­tion von Kriegs­ver­bre­chen durch­ge­führt und mehr als 2000 Aus­sa­gen von Opfern und direk­ten Zeugen gesam­melt. Seit 2018 hat das Truth-Hounds-Team außer­dem rund 30 Schu­lun­gen für ukrai­ni­sche Staats­an­wälte und Ermitt­ler, die Kriegs­ver­bre­chen unter­su­chen, durchgeführt.

Seit Beginn der umfas­sen­den Inva­sion der Ukraine durch die Rus­si­sche Föde­ra­tion ist Truth Hounds in allen Gebie­ten tätig, in denen Feind­se­lig­kei­ten statt­fan­den oder statt­fin­den. Anfang April, unmit­tel­bar nach dem Rückzug der rus­si­schen Armee aus den Regio­nen Kyjiw, Tscher­ni­hiw und Sumy, begann die Orga­ni­sa­tion mit der Durch­füh­rung von Mis­sio­nen zur Doku­men­ta­tion mög­li­cher Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit. Während der ersten acht Monate der Inva­sion führte Truth Hounds mehr als 20 Ein­sätze durch, bei denen sie mehr als 300 Zeu­gen­aus­sa­gen sammelte.

267 Fälle mög­li­cher inter­na­tio­na­ler Ver­bre­chen wurden bereits in die I‑DOC-Daten­bank auf­ge­nom­men. Die Daten­bank enthält nicht nur detail­lierte Infor­ma­tio­nen über die Umstände mög­li­cher Kriegs­ver­bre­chen, über Opfer und Zeugen sowie über Per­so­nen, die ver­däch­tigt werden, solche Ver­bre­chen began­gen zu haben, sondern sie ist auch ein leis­tungs­fä­hi­ges Ana­ly­se­instru­ment, mit dem sich Zusam­men­hänge zwi­schen ein­zel­nen Ereig­nis­sen und deren Betei­lig­ten her­stel­len lassen.

Außer­dem bietet I‑DOC im Gegen­satz zu anderen Daten­ban­ken die Mög­lich­keit, Straf­ver­fah­ren im Ein­klang mit dem inter­na­tio­na­len Straf­recht zu erstel­len. Die Daten­bank selbst wurde auf der Grund­lage der Erfah­run­gen mit der Unter­su­chung inter­na­tio­na­ler Ver­bre­chen durch den Inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hof ent­wi­ckelt und folgt in ihrem Aufbau der Logik der Maß­nah­men bei solchen Untersuchungen.

Truth Hounds nutzt die I‑DOC-Daten­bank bereits seit drei Jahren. In dieser Zeit wurden 767 Fälle mög­li­cher Kriegs­ver­bre­chen, die seit Oktober 2014 doku­men­tiert wurden, in die Daten­bank auf­ge­nom­men. Das ent­spricht etwa 30 Prozent aller von Truth Hounds doku­men­tier­ten Fälle.

Welche Ver­bre­chen werden in der Ukraine begangen?

Eine genaue Antwort auf diese Frage wird durch die große Zahl an Straf­ta­ten erschwert. Während unserer acht­mo­na­ti­gen Arbeit haben wir fast alle Arten von Kriegs­ver­bre­chen doku­men­tiert, die in Artikel 8 des Römi­schen Statuts auf­ge­führt sind. Ins­be­son­dere haben wir Dut­zende Fälle von Folter, vor­sätz­li­chen Tötun­gen, Angrif­fen auf Zivi­lis­ten und beson­ders geschützte Objekte, Gei­sel­nah­men und gewalt­sa­men Ent­füh­run­gen, wahl­lo­sem Beschuss, Behin­de­run­gen von huma­ni­tä­rer Hilfe und Eva­ku­ie­rungs­maß­nah­men dokumentiert.

Es ist wichtig, darauf hin­zu­wei­sen, dass es bei der von uns doku­men­tier­ten Kar­tie­rung mög­li­cher Kriegs­ver­bre­chen keine aus­ge­prägte geo­gra­fi­sche Spe­zi­fi­tät gibt, was bedeu­tet, dass es unmög­lich ist, von einem „zufäl­li­gen“ Cha­rak­ter dieser Ver­bre­chen zu spre­chen. Dies deutet also auf eine bestimmte Ver­hal­tens­norm und Methode der Kriegs­füh­rung der rus­si­schen Streit­kräfte hin. Dieser Sach­ver­halt deutet auch auf die Betei­li­gung der höchs­ten mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Führung der Rus­si­schen Föde­ra­tion hin.

Die mas­si­ven Rake­ten­an­griffe auf zivile Objekte und kri­ti­sche Infra­struk­tu­ren, die am 10. und 11. Oktober in Dut­zen­den von ukrai­ni­schen Städten statt­fan­den, eröff­nen die Mög­lich­keit, die oberste mili­tä­ri­sche und poli­ti­sche Führung der Rus­si­schen Föde­ra­tion vor Gericht zu stellen. Unserer Meinung nach handelt es sich bei diesen Angrif­fen um Kriegs­ver­bre­chen. Die Erklä­run­gen der höchs­ten mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Führung der Rus­si­schen Föde­ra­tion können ihre Betei­li­gung an der Bege­hung dieses Kriegs­ver­bre­chens zeigen.

So erklärte Wla­di­mir Putin bei einem Treffen mit den stän­di­gen Mit­glie­dern des Sicher­heits­ra­tes der Rus­si­schen Föde­ra­tion, dass „auf Vor­schlag des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums und gemäß dem Plan des rus­si­schen Gene­ral­stabs“ ein mas­si­ver Angriff auf die Objekte „Ener­gie­ein­rich­tun­gen, mili­tä­ri­sche Infra­struk­tur und Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­näle der Ukraine“ durch­ge­führt wurde. Außer­dem bat er den Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter der Rus­si­schen Föde­ra­tion, ihm über die Ergeb­nisse des Beschus­ses zu berich­ten. Gleich­zei­tig bestä­tigte der Spre­cher des rus­si­schen Ver­tei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums, Igor Konaschen­kow, in seinem täg­li­chen Bericht die Rake­ten­an­griffe und betonte, dass „das Ziel der Angriffe erreicht wurde und alle vor­ge­se­he­nen [für den Angriff aus­ge­wähl­ten – Anm. d. Red.] Objekte getrof­fen wurden.“

Man kann daher davon aus­ge­hen, dass die mili­tä­risch-poli­ti­sche Führung der Rus­si­schen Föde­ra­tion, ein­schließ­lich des Ober­be­fehls­ha­bers der rus­si­schen Streit­kräfte, Wla­di­mir Putin, des Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ters Sergej Schoigu und des Gene­ral­stabs­chefs der rus­si­schen Streit­kräfte, Waleri Ger­as­si­mow, direkt an der Planung der Angriffe betei­ligt waren, da sie wussten, dass solche Angriffe zur Zer­stö­rung ziviler Objekte und zum Tod von Zivi­lis­ten führen würden, und dies auch wünsch­ten. Alle drei können für diese Angriffe als unmit­tel­bare Täter, die über Dritte (die die Raketen abfeu­er­ten) han­del­ten, zur Rechen­schaft gezogen werden.

Wie läuft der Doku­men­ta­ti­ons­pro­zess ab?

Die Doku­men­ta­tion von Kriegs­ver­bre­chen durch zivil­ge­sell­schaft­li­che Orga­ni­sa­tio­nen kann kein Selbst­zweck sein. Statt­des­sen sollte sie darauf abzie­len, inter­na­tio­nale und natio­nale Ermitt­lun­gen zu unter­stüt­zen, um hoch­wer­tige Beweise für inter­na­tio­nale Ver­bre­chen zu sammeln, die während des rus­sisch-ukrai­ni­schen Krieges began­gen wurden. Da sich sowohl der Inter­na­tio­nale Straf­ge­richts­hof als auch das Ad-hoc-Tri­bu­nal für die Ukraine (das wahr­schein­lich in Zukunft ein­ge­rich­tet wird) darauf kon­zen­trie­ren werden, nur die am wei­tes­ten ver­brei­te­ten und schwers­ten Ver­stöße gegen die Gepflo­gen­hei­ten und Gesetze des Krieges zu unter­su­chen, richtet sich der Groß­teil der Unter­stüt­zung durch NGOs an die natio­na­len Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den, die Tau­sende von Straf­ta­ten erfas­sen und unter­su­chen müssen.

Die ukrai­ni­schen Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den ver­fü­gen nicht über genü­gend Res­sour­cen und Erfah­rung, um in jeder frei­ge­ge­be­nen Sied­lung Beweise für Kriegs­ver­bre­chen zu sammeln. So haben die ukrai­ni­schen Streit­kräfte allein in der Region Charkiw im Sep­tem­ber und Oktober rund 1000 Sied­lun­gen befreit. Trotz der Arbeit in den befrei­ten Städten und Dörfern richtet sich die Auf­merk­sam­keit der ört­li­chen Ord­nungs­kräfte vor allem auf den ange­hen­den Beschuss von Charkiw und den umlie­gen­den Dörfern.

In Anbe­tracht dessen stimmt sich Truth Hounds bei der Planung seiner eigenen Besuche vor Ort mit der offi­zi­el­len Unter­su­chung ab. Dies ist not­wen­dig, um eine Dop­pe­lung der gesam­mel­ten Zeu­gen­aus­sa­gen und Beweise zu ver­mei­den und die Anzahl der besuch­ten Orte und der befrag­ten Zeugen und Opfer zu maxi­mie­ren. Der daraus resul­tie­rende Ein­satz­plan wird zum Leit­fa­den für das Außendienstteam.

Die in den Zeu­gen­aus­sa­gen ent­hal­te­nen Infor­ma­tio­nen sollen Ana­lys­ten und Ermitt­lern helfen, zwei Fragen zu beant­wor­ten. Erstens: War der von den Zeugen beschrie­bene Vorfall ein Kriegs­ver­bre­chen? Zwei­tens: Wenn ja, wer hat sie begangen?

Die von den Doku­men­ta­ren der Truth Hounds ange­wandte Befra­gungs­me­tho­dik ist darauf aus­ge­rich­tet, diese Fragen so genau wie möglich zu beant­wor­ten. Sie beruht auf dem Grund­satz, Infor­ma­tio­nen aus mög­lichst vielen Quellen zu sammeln, und beinhal­tet not­wen­di­ger­weise die Über­prü­fung der Rele­vanz jeder Quelle. Die Metho­dik besteht aus drei Phasen: Daten­er­fas­sung, Doku­men­ta­tion der Ein­schlag­stel­len und Sammeln von Beweismaterial.

Die Grund­lage der Daten­er­he­bung ist die Befra­gung von direk­ten Zeugen und Opfern der mut­maß­li­chen Straf­tat. Bei der Befra­gung geht es darum, mög­lichst voll­stän­dige Ant­wor­ten auf die fol­gen­den Fragen zu erhal­ten: Wer, was, wo, wann, warum, wie und mit welchem Ergebnis?

Nachdem die Doku­men­tare so viele Daten wie möglich von Zeugen und Opfern erhal­ten haben, unter­su­chen sie die von den Befrag­ten ange­ge­be­nen Orte und Plätze der Vor­fälle und sammeln – falls erfor­der­lich und ver­füg­bar – phy­si­sche Beweise. Die Beweise werden dann in die I‑DOC-Daten­bank ein­ge­tra­gen und an die zustän­di­gen Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den der Ukraine, die Staats­an­wälte des Inter­na­tio­nal Straf­ge­richts­hofs, die extra­ter­ri­to­ria­len Jus­tiz­be­hör­den und andere Insti­tu­tio­nen weitergeleitet.

Was ist das Ziel der Dokumentation?

Die Täter vor Gericht bringen und den Opfern von Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit zu Gerech­tig­keit verhelfen.

Dieses Ziel kann nur durch die koor­di­nierte Arbeit der ukrai­ni­schen Men­schen­rechts-NGOs und der natio­na­len Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den erreicht werden. Wichtig ist auch, dass die ukrai­ni­schen Ermitt­ler wei­ter­hin in den Grund­la­gen des huma­ni­tä­ren Völ­ker­rechts und den Beson­der­hei­ten von Kriegs­ver­bre­cher­un­ter­su­chun­gen geschult werden, da die meisten von ihnen vor der Inva­sion keine Erfah­rung mit der Bear­bei­tung inter­na­tio­na­ler Ver­bre­chen hatten.

Dieses Ziel kann auch durch die Arbeit der inter­na­tio­na­len Ermitt­lungs- und Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den anderer Staaten erreicht werden. Zu diesem Zweck ist es jedoch not­wen­dig, dass die natio­na­len Ermitt­ler qua­li­ta­tiv vor­ge­hen: Sie müssen auf der Grund­lage qua­li­ta­tiv gesam­mel­ter Beweise Anklage gegen bestimmte Per­so­nen erheben, sodass letzt­end­lich nicht nur die­je­ni­gen auf der Ankla­ge­bank sitzen, die Befehle auf mitt­le­rer Ebene aus­ge­führt haben, sondern auch die höheren Füh­rungs­kräfte der rus­si­schen Streitkräfte.

Eine weitere wich­tige Aufgabe für Ver­tre­ter der ukrai­ni­schen Zivil­ge­sell­schaft, Diplo­ma­ten und Beamte besteht darin, sich für die Anwen­dung des Grund­sat­zes der uni­ver­sel­len Gerichts­bar­keit ein­zu­set­zen. Dies soll es mög­lichst vielen Ländern ermög­li­chen, Ver­fah­ren gegen rus­si­sche Staats­bür­ger, die an Kriegs­ver­bre­chen in der Ukraine betei­ligt waren, einzuleiten.

Geför­dert durch

Portrait von Roman Koval

Roman Koval ist Doku­men­tar­fil­mer und Leiter der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ab­tei­lung bei Truth Hounds.

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