Selenskyjs Ex-Wahlkampfchef scharrt mit den Hufen
Während der Präsident sinkende Umfragewerte mit Personalwechseln bekämpft, bringen sich mehrere Konkurrenten in Stellung. Darunter ist auch Ex-Parlamentschef Rasumkow, der 2019 Selenskyjs Wahlkampf leitete.
Zur Halbzeit seiner fünfjährigen Amtszeit wächst der innenpolitische Druck auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Laut einer jüngsten Umfrage würden nur 21,8 Prozent der Wählerinnen und Wähler für ihn stimmen, im Oktober waren es noch 25,1 Prozent und im September sogar mehr als 30 Prozent.
Die sinkenden Umfragewerte sind an sich keine große Überraschung – Selenskyjs Werte fallen seit seinem Amtsantritt 2019. Allerdings hat sich die Tendenz deutlich beschleunigte, und auch die Präsidentenpartei Diener des Volkes liegt mit rund 20 Prozent nur knapp vor der Europäischen Solidarität seines stärksten Konkurrenten und Vorgängers Petro Poroschenko sowie der prorussischen Oppositionsplattform. Zu den Gründen für diese Entwicklung dürften unter anderem die drohende Energiekrise und die unpopulären Corona-Maßnahmen zählen.
In dieser Situation greift Selenskyj zu einem Mittel, von dem er schon früher Gebrauch gemacht hat – er wechselt das Regierungspersonal gründlich aus. Anfang November mussten vier Kabinettsmitglieder gehen – die Minister für Umwelt, Verteidigung, Wirtschaft und Industrie.
Am 11. November folgte Kulturminister Olexander Tkatschenko, ein ehemaliger Chef des Senders 1+1, der dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj gehört und die Filme von Selenskyjs Produktionsfirma überträgt. Bis Montag war aber unklar, ob die Rada Tkatschenkos Rücktritt annimmt. Ebenfalls überraschend abgetreten ist der Chef der Präsidentenpartei Diener des Volkes, Olexander Kornijenko, der zwar als Selenskyj-Vertrauter galt, aber beim Aufbau der Partei unglücklich agierte.
Während die Entlassung des Verteidigungsministers und ex-Generals Andrij Taran schon lange gefordert wurde, passen die meisten Kündigungen, etwa des als Ministerpräsidenten gehandelten Wirtschaftsministers Olexij Ljubtschenko, in das Muster, dass starke Persönlichkeiten aus Selenskyjs Umgebung entfernt werden.
Ständiger Wechsel als Markenzeichen
Zwar sind solche Veränderungen in der Regierungsmannschaft eher unbedeutend, weil die Politik maßgeblich vom Präsidentenbüro und dessen mächtigen Chef Andrij Jermak bestimmt wird, aber mittlerweile sind ständige Wechsel ein Markenzeichen von Selenskyjs Amtsführung geworden.
Die Tatsache, dass der Präsident und ex-Schauspieler in Umfragen noch immer auf Platz Eins liegt, ist vor allem der Schwäche seiner potenziellen Konkurrenten geschuldet: Ex-Präsident Poroschenko, die ehemalige Ministerpräsidentin Julia Tymoschenko und der prorussische Kandidat Jurij Bojko haben alle wenig Aussichten auf Erfolg außerhalb ihrer Stammwählerschaften. Noch im Oktober betrug Selenskyjs Vorsprung auf Poroschenko souveräne elf Prozentpunkte.
Nun droht dem Präsidenten aber eine neue Gefahr von einem seiner bislang engsten Verbündeten: Ex-Parlamentschef Dmytro Rasumkow, der Anfang Oktober in einer rechtlich fragwürdigen Eilprozedur entlassen wurde, hat der Selenskyj den Rücken gekehrt und könnte seinen Hut in den Ring werfen.
Rasumkow ist für den Präsidenten doppelt gefährlich. Zum einen war er 2019 Selenskyjs wichtigster Wahlkampfmanager und das Gesicht seiner Kampagne. Zum anderen zielen Rasumkow und Selenskyj auf ähnliches Publikum – was es Wählern leicht macht, zu dem Ex-Parlamentsvorsitzenden überzulaufen. Vor allem in den überwiegend russischsprachigen Landesteilen wurde Selenskyj 2019 weniger als TV-Star, sondern mehr als gemäßigte Alternative zu Poroschenko und dessen nationalkonservativem Kurs gewählt.
Von Selenskyj wurde damals unter anderem eine etwas liberalere Position in Geschichts- oder Sprachfragen erwartet. De facto setzt Selenskyj aber die Linie seines Vorgängers fort, was zumindest teilweise mit Angst vor nationalistischen Protesten zu tun haben könnte. Zwar haben nationalistische Parteien in der Ukraine bei Wahlen fast immer versagt, ihre gut organisierten Anhänger sind auf den Straßen eine klare Macht.
Rasumkow legt in Umfragen zu
In Umfragen lag Rasumkow bereits im Oktober mit 7,3 Prozent lediglich hinter Selenskyj und den Politikveteranen Poroschenko, Tymoschenko und Bojko (Oppositionsplattform) – ein mehr als gelungener Start lange vor Beginn des eigentlichen Wahlkampfes. In der neuen November-Umfrage steigerte er sich noch einmal auf 8,8 Prozent. Auch seine potenzielle Partei, die noch nicht mal auf dem Papier existiert, kommt Umfragen zufolge auf zwischen 4,5 und 6,8 Prozent.
Der 38-jährige Politikberater Rasumkow, dessen 1999 gestorbener Vater Oleksandr ein politisches Schwergewicht in den 1990er Jahren war, gilt als moderat. In seiner Jugend war er noch Gegner der Orangen Revolution und bis 2010 war er Mitglied der Partei der Regionen des nach Russland geflohenen Ex-Präsidenten Wiktor Janukowytsch. 2013/2014 will er jedoch bereits die Maidan-Revolution unterstützt haben, und gilt auch sonst nicht als pro-russisch.
Während des Präsidentschaftswahlkampfes legte Rasumkow Wert darauf, bei Fernsehauftritten und öffentlichen Veranstaltungen Russisch zu sprechen. „Weil ich noch keinen Staatsposten besitze, will ich ausschließlich Russisch sprechen, während die russische Aggression weitergeht“, erklärte er in Interviews, und betonte, dass er als Vertreter der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine keinen Schutz brauche. Als Parlamentsvorsitzender sprach er dann treu dem Gesetz stets ukrainisch.
Als Chef der Werchowna Rada gehörte Rasumkow zu den wenigen Verbündeten Selenskyjs, die seinen Vorhaben öffentlich widersprachen. Vor allem kritisierte der Parlamentsvorsitzende die wachsende Bedeutung des Nationalen Sicherheitsrates, der zwar eigentlich nur beratende Funktion hat, zuletzt aber zahlreiche rechtlich umstrittene Sanktionen gegen ukrainische Staatsbürger verhängte und drei prorussische Nachrichtensender sowie die russlandfreundliche Webseite Strana.ua sperren ließ. Rasumkow beklagte, dass die Maßnahmen ohne Gerichtsprozess verhängt wurden und stimmte im Sicherheitsrat, dem er angehörte, dagegen.
Der Dissens über die Rolle des Sicherheitsrats war vermutlich für seine Entlassung ausschlaggebend. Nun stoßen Spekulationen ins Kraut, wie eine künftige Rasumkow-Partei aussehen könnte. Der ehemalige Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko berichtete Ende Oktober, dass Rasumkow schon mit zwei prominenten TV-Persönlichkeiten verhandelt, dem Showmaster Dmytro Gordon und dem Arzt Jewhen Komarowskyj. Die Beteiligten haben dies jedoch dementiert.
Rasumkow bedroht die Mehrheit der Selenskyj-Partei
Tatsächlich arbeitet Rasumkow an der Gründung eines interfraktionellen Verbundes unter dem Namen Rosumna Polityka („Kluge Politik“ – eine Anspielung auf Rasumkows Nachnamen). Am 8. November veröffentlichte er auf Facebook eine Liste von 25 Abgeordneten, die sich dem Verbund angeschlossen hätten. Darunter sind 19 Mitglieder von „Diener des Volkes“. Sollte die Selenskyj-Partei diese aus der Fraktion ausschließen, wäre sie ihre absolute Mehrheit los.
Aber nicht nur Rasumkow macht im politischen Kyjiw Schlagzeilen. Kürzlich meldete sich auch der im Juli entlassene vormals mächtige Innenminister Arsen Awakow zurück. In einem TV-Interview versprach Awakow ein politisches Comeback und machte sich für eine „Vereinigung der Zentristen“ stark, wozu ihm zufolge sowohl der etwas linkere Rasumkow und die eher konservativen Ex-Ministerpräsidenten Arsenij Jazenjuk und Wolodymyr Grojsman zählen könnten.
Ob es tatsächlich zu einem solchen Bündnis kommt, ist fraglich. Die Vereinigung ambitionierter politischer Figuren war in der Ukraine stets kompliziert, was auch Selenskyjs Präsidentschaft beweist. Denn mit Awakow und Rasumkow verabschiedeten sich wohl die letzten beiden starken Persönlichkeiten mit klarer eigener Meinung aus dem Team des Präsidenten.
Generell bleibt das politische Feld 2,5 Jahre vor der nächsten Präsidentenwahl offener denn je. Lediglich die Poroschenko-Partei Europäische Solidarität könnte von der Spaltung in der einst von Teilen der Zivilgesellschaft unterstützten nationalliberalen Partei Holos (Stimme) profitieren, die im Moment keine Chance auf Wiedereinzug in die Rada hat. Weil die Selenskyj-Partei Diener des Volkes stärker schwächelt als der Präsident, könnte das gerade im Blick auf die nächste Parlamentswahl bedeutend sein. Insgesamt heißt es aber: Die besten Karten werden diejenigen haben, die gleich mehrere Wählerschaften ansprechen.
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