Fußballnationalmannschaft im Höhenflug: Andrij Schewtschenko wird wieder zum ukrainischen Nationalhelden
Unter Andrij Schewtschenko spielt die ukrainische Nationalmannschaft ihren besten Fußball der Geschichte. In der erfolgreichen Qualifikation zur EM 2020 lieferte die Ukraine gegen Serbien und zuletzt gegen Portugal die Spiele, die von ukrainischen Fans kaum je vergessen werden. Doch wie ist der plötzliche Erfolg zu erklären?
Andrij Schewtschenko gehört neben den Brüdern Vitali und Wladimir Klitschko zu den weltweit bekanntesten ukrainischen Sportlern. 2003 hat er im Trikot von AC Mailand die Champions League gewonnen, in Mailand gehört der heute 43-Jährige zu den größten Legenden aller Zeiten. 2004 ist Schewtschenko schließlich vom Magazin France Football zum besten Fußballer Europas gewählt worden. Er ist zwar nicht der erste Ukrainer, der den berühmten Golden Ball gewinnen konnte. Vor ihm haben dies bereits zwei herausragende Fußballer, Oleh Blochin und Ihor Belanow geschafft, doch weil diese noch zur Sowjetzeit spielten, waren sie keine Weltstars im eigentlichen Sinne des Wortes. Doch zu sagen, dass Schewtschenko, einer der besten Stürmer aller Zeiten, der für Mailand 127 Tore in 208 Spielen geschossen hat, zu Hause immer verehrt wurde, wäre eine schiere Übertreibung.
Im Juni 2012 galt Schewtschenko als Nationalheld. Nach einigen durchwachsenen Jahren im Chelsea-Trikot und einer kurzzeitigen und wenig erfolgreichen Rückkehr nach Mailand spielte er seit 2009 wieder für seinen ursprünglichen Verein Dynamo Kiew, mit dem Schewtschenko es bereits 1999 ins Halbfinale der Champions League geschafft hatte. Das Team des legendären Cheftrainers Walerij Lobanowskyj spielte damals auf Augenhöhe mit den besten Teams der Welt, musste aber nach zwei Spielen die knappe Niederlage gegen den FC Bayern akzeptieren. Und plötzlich wurde Schewtschenko im Herbst seiner sportlichen Karriere, wieder in allen Ecken seines Landes geliebt. Zwei Tore gegen Schweden im ersten Spiel der ukrainischen Nationalelf bei der Heim-EM machten das möglich, auch wenn das Team von Oleh Blockin die Gruppenphase nicht überlebte. Doch die große Liebe dauert nur sehr kurz. Schewtschenko engagierte sich fortan in der Politik und kooperierte mit Natalja Korolewska, der Ex-Politikerin der Vaterlandspartei, und kandidierte für deren neue Partei Ukrajina Wpered (“Auf geht’s, Ukraine“) für die Parlamentswahl.
Korolewskas Partei war de facto ein „side project“ der Partei der Regionen des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch, daher wurde Korolewska trotz des Scheiterns von Ukrjina Wpered Ministerin für Sozialpolitik in der Regierung von Mykola Asarow. Das positive Ansehen von Schewtschenko sank damals massiv. Nicht nur wegen der Partei, für die der beste Fußballer der Ukraine aller Zeiten aufgetreten ist. Die Annahme, Andrij Schewtschenko würde sich wirklich für die Politik interessieren, konnte die Menschen kaum überzeugen. Im Zweifelsfall käme dieses Interesse gleich hinter der fehlenden rhetorischen Begabung des heutigen Nationaltrainers versteckt, dessen Auftritt in der Werbung eines großen ukrainischen Wettbüros für entsprechende Scherze in der ukrainischen Öffentlichkeit sorgte.
Daher herrschte unter den ukrainischen Fußballfans keine allzu große Freude, als der ukrainische Fußballverband FFU Schewtschenko im Februar 2016 zum Co-Trainer von Mychajlo Fomenko ernannte. Auch das hatte einen politischen Beigeschmack, denn Andrij Schewtschenko ist ein enger persönlicher Freund von Andrij Pawelko, dem Verbündeten des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Im vorigen ukrainischen Parlament war Pawelko auch Vorsitzender des wichtigen Haushaltsausschusses, außerdem ist er als FFU-Chef angeblich in mehrere Korruptions- und Geldwäscheskandale verwickelt. Hinzu kam die gesamte Struktur der ukrainischen Fußballpolitik, die sich um die Feindschaft der beiden Top-Vereine Dynamo Kiew und Schachtjor Donezk dreht.
Jahrelang wurde der ukrainische Fußballverband etwa vom ehemaligen Dynamo-Präsidenten Hryhorij Surkis angeführt, der heute für die prorussische Oppositionsplattform in der Werchowna Rada sitzt. Der spätere Präsident Anatolij Konkow spielte dagegen eindeutig auf der Seite von Schachtjor Donezk. Sein Nachfolger Pawelko tendierte ebenfalls immer mehr und mehr zu Schachtjor. Denn parallel dazu verbesserten sich die Beziehungen zwischen dem damaligen Präsidenten Poroschenko und dem Besitzer von Schachtjor, Rinat Achmetow, dem reichsten Mann der Ukraine. Die engen Beziehungen des Dynamo-Helden Schewtschenko mit Pawelko sorgten also für Empörung im Dynamo-Lager. Auch deswegen, weil der aus Donezk stammende Achmetow, der für die Entstehung der selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk teilweise mitverantwortlich sein könnte, von patriotischen Ultras des Kiewer Vereins sehr skeptisch wahrgenommen wird. Die Tätigkeit der Surkis-Brüder Hryhorij und Ihor, des heutigen Dynamo-Präsidenten, für die Oppositionsplattform des engen Putin-Freundes Wiktor Medwedtschuk wird dabei oft übersehen.
Unter Fomenko schaffte die Ukraine zwar die Qualifikation zur EM 2016, scheiterte aber bereits nach der Verpflichtung von Schewtschenko als Co-Trainer glanzlos in der Gruppenphase in Frankreich. Damals spielte die Nationalmannschaft einen durchaus langweilig zu nennenden Defensivfußball ohne besondere Spielideen, außer der, den Ball an die großen Stars Andrij Jarmolenko und Jewhen Konopljanka zu geben, damit diese quasi aus dem Nichts ein Tor erfinden. Dass ausgerechnet Schewtschenko also das Ruder nach der EM übernahm, war nicht überraschend, wurde aber ebenfalls aus mehreren Gründen nicht so freundlich aufgenommen. Die Auswahl der Co-Trainer, zu denen die erfahrenen Italiener Mauro Tassotti und Andrea Maldera gehörten, weckte jedoch einige Hoffnungen. Doch die Qualifikation zur WM 2018 in Russland lief suboptimal, abgesehen sogar von der Debatte, ob die Ukraine im Falle eines Erfolges überhaupt hinfahren sollte,. Der dritte Platz hinter Island und Kroatien war damals eher eine Enttäuschung, obwohl die Ukraine einen anderen, viel offensiveren Fußball spielte.
Der Vertrag mit Schewtschenko wurde verlängert – und der Nationalcoach versprach, die Qualifikation zur EM 2020 zu schaffen. Mit zwei bemerkenswerten Siegen gegen Litauen (2:0) und den amtierenden Europameister Portugal mit dem Weltstar Christiano Ronaldo (2:1) machte die Ukraine nicht nur den EM-Einzug, sondern auch den vorzeitigen Gruppensieg perfekt. Das megaerfolgreiche Spiel gegen Portugal im Kiewer Olympijskyj-Stadion sowie der 5:0‑Sieg gegen das durchaus starke Serbien wurden von vielen Medien zun den besten Spielen der ukrainischen Nationalmannschaftsgeschichte ernannt. Mit diesen Siegen hat Andrij Schewtschenko erneut den Status eines Nationalhelden erreicht – so waren beim Sieg am Montag im Olympijskyj oft “Schewa, Schewa!“-Rufe zu hören, der Spitznahmen des 43-Jährigen. Nun will möglicherweise der nicht so erfolgreiche AC Mailand Andrij Schewtschenko als Cheftrainer zu verpflichten.
Wie kommt der plötzliche Erfolg der Ukraine zustande? In der Tat, zum großen Teil ist es tatsächlich Schewtschenko, der laut Torwart Andrij Pjatow der erste Trainer seit vielen Jahren sei, der trotz der kurzen Aufenthalte in der Nationalelf wirklich versuche, die Spieler besser zu machen. Die Ukraine ist keine reine Defensivmannschaft mehr, zum ersten Mal seit 20 Jahren. Anders als etwa bei der WM 2006 in Deutschland, als die Ukraine es bis ins Viertelfinale schaffte, spielt sie einen überlegten Passfußball und setzt zum Teil auch gegen große Gegner auf Ballbesitz, was oft durchaus gut klappt. Um diesen Fußball zu spielen, braucht man natürlich auch entsprechende Spieler. Und die gibt es vor allem im Mittelfeld. Mit Ruslan Malinowskyj, der für den italienischen Champions League-Teilnehmer Atalanta spielt, und mit Olexander Sintschenko von Manchester City kann die Ukraine ebenfalls zum ersten Mal seit vielen Jahren richtig kreative und begabte Mittelfeldspieler vorweisen.
Nun, all das bedeutet nicht, dass die Ukraine bei der kommenden EM im nächsten Sommer um den Sieg mitspielen könne. Doch abgesehen davon, ob Schewtschenko seinen Vertrag mit FFU verlängert oder nach Italien geht, gibt es endlich wieder Hoffnung im ukrainischen Fußball, zumal die U20-Nationalmannschaft im Juni einen historischen Meilenstein schaffte und die WM in ihrer Altersklasse gewann. Die Ukraine ist Fußballweltmeister – dieser Satz stimmt also ausnahmsweise zumindest teilweise.
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