Stepan Bandera – Zum historischen und politischen Hintergrund einer Symbolfigur
Stepan Bandera ist eine umstrittene und hoch politisierte historische Figur. Die Bedeutung von Bandera für die Geschichte und Gegenwart der Ukraine analysiert Wilfried Jilge.
Anm. d. Red.: Dieser Text entstand in seiner ersten Fassung bereits 2015. Die Ihnen hier vorliegende Version ist im Sammelband „Ukraine verstehen. Auf den Spuren von Terror und Gewalt“ 2020 erschienen.
Eine der zentralen Thesen der russischen Geschichtspropaganda in der Ukraine-Krise lautet, die banderowzy, d. h. russophobe Radikalnationalisten, Antisemiten oder „radikal neonazistische Gruppen“ wie der Rechte Sektor und die radikalnationalistische Partei Swoboda seien die entscheidenden Kräfte hinter den Protesten auf dem Maidan gewesen; sie hätten in einem faschistischen Putsch am 21./22. Februar 2014 den Machtwechsel in Kyjiw herbeigeführt. Als Faktor der Selbstverteidigung des Maidan spielte der Rechte Sektor während der gewaltsamen Endphase der Maidan-Proteste in der Tat eine Rolle, und die Swoboda war als kleinste Partei im Bündnis der parlamentarischen Opposition vertreten. Sie haben jedoch die Agenda der Proteste nie dominiert und sind bei den Präsidenten- und Parlamentswahlen chancenlos geblieben. Die Wirkung des Stereotyps von den banderowzy in der russischen Öffentlichkeit verdankt sich der Präsenz des sowjetischen Mythos vom „Großen Vaterländischen Krieg“ in der Geschichtspolitik und Erinnerungskultur des heutigen Russlands. Er bildet eines der zentralen Elemente des vom russischen Präsidenten Putin propagierten Patriotismus. In dem propagandistisch genutzten sowjetischen Kriegsgeschichtsbild zählten die banderowzy zu den Hauptfeinden des sowjetischen Staates.
Der ukrainische Politiker Stepan Bandera stand an der Spitze der 1940 gespaltenen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die während des Zweiten Weltkriegs Widerstand gegen die sowjetische Besetzung der Westukraine leistete und in verschiedenen Perioden mit dem nationalsozialistischen Deutschland zusammenarbeitete. In der sowjetischen Geschichtsauffassung werden Bandera und die OUN vor allem mit Verbrechen und Terror gegen die „friedliche sowjetische Bevölkerung“ assoziiert und als reine Marionetten der Deutschen präsentiert. Auf dieser Grundlage stellen staatlich gelenkte russische Medien eine Analogie zwischen dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Sommer 1941 und den Protesten auf dem Kyjiwer Maidan her: Die „neuen banderowzy“ in Kyjiw sind aus dieser Sicht Kollaborateure der USA und der Europäischen Union, die sich gegen russischsprachige Menschen und überhaupt gegen alles Russische wenden.
Das Stereotyp von den banderowzy erfüllt aber noch eine viel wichtigere Funktion: Es soll die eigenständige ukrainische Nation und die von ihr in freier Selbstbestimmung angestrebte europäische Integration diskreditieren.
Zu diesem Zweck wird in den populärwissenschaftlichen Monografien, die in Russland 2014 zum Thema Bandera und russisch-ukrainische Beziehungen erschienen sind, auf eine leicht modifizierte Deutung des Vertrages von Perejaslaw aus dem Jahre 1654 zurückgegriffen.
1648 hatte der Aufstand der ukrainischen Kosaken gegen die polnische Adelsherrschaft begonnen. Ihr bedrängter Anführer, der Hetman Bohdan Chmelnyzkyj (ca. 1595–1657), wandte sich schließlich mit einem Hilfsgesuch an den Zaren, um die Autonomie der von ihm seit 1648/1649 etablierten kosakischen Staatlichkeit zu sichern. 1654 sprach sich eine Versammlung der Kosaken in Perejaslaw für die Unterordnung unter den Zaren aus und schwor ihm den Treueeid. Die Deutung des Vertrages von Perejaslaw ist bis heute umstritten. Einige ukrainische Historiker betonen, dass es sich dabei um ein kündbares Militärbündnis zweier Staaten auf der Basis von Gleichberechtigung gehandelt habe. Russische Historiker hingegen verstehen den Vertrag meist als Eingliederung der Ukraine ins Moskauer Reich.
Während im nationalukrainischen Geschichtsbild die Ära von Chmelnyzkyjs Kosakenstaatlichkeit als „goldenes Zeitalter“ und Ausdruck ukrainischer Eigenständigkeit gilt, ist Perejaslaw für die hier relevante sowjetische Historiographie das Symbol der „Wiedervereinigung der Ukraine mit Russland“, die dann im „Großen Vaterländischen Krieg“ endgültig gefestigt worden sei. Im Rahmen der aufwendig inszenierten, monatelangen Staatsfeiern zum 300. Jahrestag des Vertrags wurde 1954 die Halbinsel Krim in die Ukrainische Sowjetrepublik eingegliedert. Perejaslaw wurde als Sinnbild der unverbrüchlichen Freundschaft von Ukrainern und Russen zelebriert und als Zeichen der wiedererlangten Einheit der ostslawischen Brüdervölker (Russen, Ukrainer, Belarusen) nach dem Zerfall der Kyjiwer Rus, dem Ende des vermeintlich einheitlichen „altrussischen Volkstums“.
Zementierte der Mythos von Perejaslaw vor 1991 die Zugehörigkeit der Ukrainer zur Sowjetunion an der Seite des „großen russischen Bruders“, so dient die Argumentation in der russischen Geschichtspolitik heute der Vorstellung von Russen und Ukrainern als „Brüdern in Blut und Glaube“ und der Legitimation einer „natürlichen“ Integration in die von Russland geführte „Russische Welt“ (russkij mir). In diesem Sinne wird in einem jüngst erschienenen russischen Buch zu Stepan Bandera konstatiert, dass es „zwei Ukrainen“ gebe: Eine „echte Ukraine, die Ukraine des Rates von Perejaslaw […] und der slawischen Bruderschaft, die einig mit Russland“ sei, sowie eine „prowestliche, russophobe Ukraine“, „mit der wir in der Vergangenheit nicht nur einmal kämpfen mussten“. Und wenn sich, so der Autor weiter, „die banderowzy an der Macht halten, ist es nicht ausgeschlossen, dass man in Zukunft wieder kämpfen muss“.
Tatsächlich waren die OUN und ihr von Stepan Bandera angeführter Flügel an Verbrechen beteiligt. Reine Marionetten der Deutschen waren sie aber keineswegs: Ihr oberstes Ziel war stets die Errichtung eines ukrainischen Staates, was deutschen Zielen letztlich zuwiderlief. Dass die ultranationalistische Ideologie der OUN nicht von vornherein pauschal mit dem deutschen Nationalsozialismus gleichgesetzt werden kann, zeigt ein Blick in ihre Geschichte.
Die im Jahr 1929 in Wien vollzogene Gründung der OUN war auch ein Versuch der ukrainischen Vertreter eines »neuen Nationalismus«, die richtigen Konsequenzen aus den gescheiterten ukrainischen Staatsbildungsversuchen der Jahre 1917 bis 1921 zu ziehen. Zu diesen „neuen Nationalisten“ zählte auch der aus der Ostukraine stammende Dmytro Donzow (1883–1973), der – ohne formal Mitglied der Organisation zu sein – in den 1920er Jahren zum wichtigsten Ideologen und Vordenker des radikalen „integralen Nationalismus“ der OUN wurde. Donzow und seine Gefolgsleute kamen zu dem Schluss, dass die Ukrainer noch keine Nation, sondern eine „amorphe Masse“ darstellten, die zur Ausübung von Herrschaft noch nicht befähigt sei. Ziel war es daher nicht, eine Nation zu befreien, sondern überhaupt erst zu schaffen. Im Sinne des Voluntarismus Donzows musste die Nationsbildung durch den Willen und die „männlich-heroische“ Tat einer nationalistischen Elite vollzogen werden. Damit wendete sich Donzow gegen den „schwächlichen Liberalismus“ und legte die Grundlagen für die antidemokratische, antiparlamentarische und autoritäre Ideologie der OUN und ihre streng nach dem Führerprinzip gegliederte hierarchische Struktur. Die OUN lehnte das Parteienwesen ab und verstand sich als überparteiliche Bewegung, in der sich die unterschiedlichen politischen Kräfte der Ukrainer sammeln sollten. Letzteres scheiterte aber am absoluten Machtanspruch der OUN: So wollte sich keine der legalistischen Parteien der Ukrainer in Polen (wo außerhalb der Sowjetukraine die meisten Ukrainer lebten) der Führung der OUN unterordnen.
Der „integrale Nationalismus“ der OUN lehnte sich zunächst eng an den italienischen Faschismus an. Ihr wichtigstes politisches Ziel war die Errichtung eines autoritär verfassten und berufsständisch gegliederten ukrainischen Staates. Dem Ziel der Staatlichkeit wurden alle anderen Ziele untergeordnet.
Die Mitglieder der OUN verstanden sich als Avantgarde, deren Kader auf der Basis eines eigenen Staates die Ukrainer und Ukrainerinnen zur Nation heranbilden sollten.
Dabei sahen die Protagonisten der OUN im Krieg den einzigen Weg zur Befreiung und staatlichen Eigenständigkeit. Eine friedliche Erfüllung des ukrainischen Selbständigkeitsstrebens innerhalb der in der Zwischenkriegszeit in Europa herrschenden Machtkonstellation und Friedensordnung war nicht vorstellbar.
Die wichtigsten Grundsätze des „integralen Nationalismus“ wurden in den „Zehn Geboten des ukrainischen Nationalisten“, dem sogenannten Dekalog, zusammengefasst. Radikaler nationaler Egoismus und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Feinden der ukrainischen Nation und ihres künftigen Staates bildeten die Grundlage. Der Dekalog forderte von jedem ukrainischen Nationalisten unbedingte Opferbereitschaft. Dies schloss den gewaltsamen Kampf ein, ohne den aus OUN-Sicht ein ukrainischer Staat nicht zu erringen sei. So ließen sich individueller Terror und Verbrechen moralisch rechtfertigen, wenn diese dem Interesse der ukrainischen Nation dienten.
In den südöstlichen, von Ukrainern bewohnten Gebieten Polens baute die OUN in den 1930er Jahren eine starke Untergrundorganisation auf. Seit 1930 kämpfte sie mit Terror- und Sabotageakten gegen die polnische Herrschaft. Den Attentaten fiel auch Tadeusz Hołówko zum Opfer, einer der wenigen polnischen Politiker, die sich für die Rechte der ukrainischen Minderheit einsetzten. Der Terror der OUN wendete sich in erster Linie, aber nicht ausschließlich gegen den polnischen Staat und seine Repräsentanten. Er traf beispielsweise auch gemäßigte Ukrainer, (ukrainische) Kommunisten und einen Repräsentanten sowjetischer Einrichtungen in Polen. Der polnische Staat reagierte u. a. mit einer brutalen „Pazifizierung“ ukrainischer Dörfer. Die politische Entwicklung der Ukrainer in Polen muss auch im Lichte der Minderheitenpolitik des polnischen Staates gesehen werden: Er betrieb, wenn auch in den verschiedenen Phasen nicht immer mit gleicher Intensität, eine Politik der Polonisierung gegenüber den Ukrainern, die eine Hinwendung zur OUN begünstigte, insbesondere in den Reihen der unzufriedenen westukrainischen Jugend.
Der Terror der OUN in den 1930er Jahren schloss Aktionen gegen Juden ein (z. B. das Niederbrennen jüdischer Geschäfte), bei denen auch physische Gewalt angewendet wurde. Der Antisemitismus der OUN in dieser Zeit zeigte sich vorwiegend noch ökonomisch, weniger rassistisch motiviert. In ihrer Sicht dominierte die jüdische Bevölkerung den städtischen Handel und blockierten so die Ausbildung eines ukrainischen Mittelstandes und damit eine vollständige Nationsbildung der Ukrainer. Der antisemitische Stereotyp von „den Juden als Erfüllungsgehilfen der Russen“ – oder der Sowjets – war bei Donzow bereits Mitte der 1920er Jahre angelegt, rückte aber noch nicht in den Vordergrund.
Ihre intensivste politische Aktivität in Polen entfaltete die OUN, als Stepan Bandera Führer der Landesexekutive der OUN in den westukrainischen Gebieten wurde. Der 1909 in dem ostgalizischen Dorf Staryj Uhryniw (heute Gebiet Iwano-Frankiwsk/Ukraine) geborene Stepan Bandera wuchs als Sohn eines griechisch-katholischen Pfarrers auf und entstammte der ländlichen ukrainischen Intelligenz. 1929 trat er der OUN bei und stieg im Juni 1932 bereits zum stellvertretenden Landesführer und Referenten für Propaganda auf. Als Landesführer (inoffiziell schon Ende 1932, offiziell seit Juni 1933) trug Bandera Verantwortung für die Attentate der OUN, und unter seiner Führung nahm der Terror der OUN nochmals zu.
Bandera befürwortete den individuellen Terror als Teil einer „permanenten Revolution“, die die Ukrainer auf eine später zu entfachende „nationale Revolution“ vorbereiten sollte. Sie würde schließlich zur Errichtung eines ukrainischen Staates führen.
Unter Banderas Verantwortung als Landesführer verübte die OUN ihr spektakulärstes Attentat: die Ermordung des polnischen Innenministers Bronisław Pieracki am 15. Juni 1934 in Warschau.
Zusammen mit anderen Mitgliedern der OUN wurde Bandera in zwei Prozessen in Warschau und Lwiw (ehemals Lemberg) 1935 und 1936 vor Gericht gestellt. Er wurde zum Tode verurteilt, das Urteil wurde jedoch später in eine lebenslängliche Haftstraße umgewandelt. Sein Auftritt verwandelte bereits den ersten Gerichtsprozess in Warschau, der auf ein großes Medieninteresse stieß, in einen Propagandaerfolg der OUN. Fragen des Richters beantwortete Bandera nicht auf Polnisch, sondern auf Ukrainisch, was unzulässig war. Als er deswegen aus dem Gerichtssaal geführt wurde, leistete er Widerstand und rief Anschuldigungen an die Adresse des polnischen Staates aus. Durch die Gerichtsprozesse wurde Bandera eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der Westukraine. Die im Prozess demonstrierte Unbeugsamkeit und ideologische Beharrlichkeit machten ihn zum „Symbol des aufrechten ukrainischen Nationalisten, der die Parole ›den ukrainischen Staat erringen oder sterben‹ personifizierte“.
Sowohl die Prozesse 1935/1936 als auch Banderas Ermordung durch einen sowjetischen Agenten am 15. Oktober 1959 in München bilden wichtige Ausgangspunkte für die Verklärung dieses Politikers zum Sinnbild einer unbezwingbaren Opfernation.
Vor allem bei der westukrainischen Jugend war er populär.
Die OUN war nicht in der Lage, aus eigener Kraft einen ukrainischen Staat zu errichten. Der Frage, mit welchem Bündnispartner dieses Ziel erreicht werden könnte, kam daher besondere Bedeutung zu. Bereits in den 1920er Jahren lieferte Dmytro Donzow mit seiner Denkfigur der „Amoralität“ ein Argument, das die Weichen früh in Richtung Deutschland stellte. Im Sinne seiner Russenfeindschaft forderte er, dass das ukrainische Volk mit jedem Gegner Russlands ohne Rücksicht auf dessen politische Ziele zusammenarbeiten könnten. Daraus leitete die OUN schon früh eine entsprechende Präferenz ab, wobei weniger ideologische Verwandtschaft als gemeinsame Interessen den Ausschlag gaben. Als Bündnispartner, von dem eine Änderung des Status quo in Europa ausgehen konnte, kam nach 1933 insbesondere das bis auf taktische Ausnahmen grundsätzlich antipolnisch und antisowjetisch ausgerichtete nationalsozialistische Deutsche Reich in Frage. Schon weil Polen neben der Sowjetunion zunächst der Hauptfeind der OUN war, unterhielt die Organisation jedoch auch Kontakte zu Staaten, deren Verhältnis zu Polen angespannt war, wie z. B. zu Litauen und zur Tschechoslowakei.
Affinitäten zwischen der Ideologie der OUN und dem Nationalsozialismus, die später vor allem hinsichtlich Antibolschewismus und Antisemitismus in den Vordergrund rückten, haben die Zusammenarbeit erleichtert. Ende der 1930er Jahre fand ein rassistisch argumentierender, die Assimilation der Juden ausschließender Antisemitismus Eingang in den ideologischen Diskurs der OUN, und 1940/1941 bildete der Antisemitismus in Form des Stereotyps vom „jüdischen Bolschewismus“ (auch „Judenkommune“) einen festen Bestandteil von Ideologie und Politik der OUN.
Was das Verhältnis der OUN zu den Deutschen angeht, so konzentriere ich mich auf einen Höhepunkt der komplexen Kollaborationsgeschichte: die Zusammenarbeit des von Bandera geführten Flügels der OUN mit NS-Deutschland 1940 / 1941.
Nach der Ermordung ihres Führers Jewhen Konowalez durch den sowjetischen Agenten Sudoplatow im Mai 1938 kam es innerhalb der OUN zu Konflikten und im Jahre 1940 zur Spaltung der Organisation. Der eine, von Oberst Andrij Melnyk geführte Flügel (OUN‑M) repräsentierte eher die ältere Generation der OUN, die Emigranten; der andere Flügel (OUN‑B) hatte seine Basis in der Westukraine und im deutsch besetzten Polen und wurde von Stepan Bandera geführt. Im Hinblick auf die Ideologie existierten keine nennenswerten Unterschiede. Beide Flügel arbeiteten mit den Deutschen zusammen. Die OUN‑M kooperierte u. a. mit den deutschen Polizeikräften; die OUN‑B primär mit der deutschen Wehrmacht, vor allem ihrem Nachrichtendienst, der „Abwehr“. Die gegenüber den Deutschen vorsichtiger agierende OUN‑M war eher bereit, auf dem Weg zur Staatlichkeit nationale Rückschläge hinzunehmen und sich zunächst auf den Aufbau vorstaatlich-lokaler Strukturen zu beschränken. Die betont aktivistische Bandera-OUN setzte stärker auf eigene Initiative: Direkt nach der Befreiung der ukrainischen Gebiete wollte sie – zeitgleich mit der bewaffneten Erhebung der Ukrainer – den Staat ausrufen, eine Regierung bilden und mit dem Aufbau staatlicher Strukturen beginnen. In den Augen Banderas sollten die Ukrainer durch eine solche „nationale Revolution“ unter Führung der OUN‑B gegenüber den Deutschen ihren Anspruch legitimieren, auf ukrainischem Gebiet die Geschicke selbst zu bestimmen. Diese Vorstellungen sind unter dem Titel Kampf und Tätigkeit der OUN während des Krieges vom Mai 1941 dokumentiert. Die Schrift, die Bandera zusammen mit den von ihm in die OUN-B-Führung berufenen Kader verfasste – u. a. seinem Stellvertreter Jaroslaw Stezko (1912–1986) und dem Leiter des militärischen Stabes der OUN‑B und späteren UPA-Oberkommandierenden Roman Schuchewytsch (1907–1950) – enthält ausführliche Instruktionen für den erwarteten deutschen Angriff auf die Sowjetunion.
Die Anweisungen der OUN‑B definierten die Feinde, von denen das befreite ukrainische Territorium „gesäubert“ werden sollte. Im Falle des Krieges sollten die regimetreue Intelligenz, die Aktivisten und Funktionäre der feindlichen Nationalitäten, d. h. der „Moskowiter“ sowie Polen und Juden, liquidiert und durch Mitglieder der ukrainischen Elite ersetzt werden. Diese Anweisungen sind stets im Lichte des angestrebten Ziels eines ethnisch homogenen Territoriums und der hohen Gewaltbereitschaft der OUN‑B zu sehen. Als Hauptfeind rückte der „moskowitische Bolschewismus“ in den Vordergrund, mit dem das Stereotyp von den Juden als Stützen der bolschewistischen Herrschaft („Judenkommune“) verknüpft wurde. Zwischen Juden als sowjetischen Funktionsträgern und anderen jüdischen Menschen wird in dem Dokument nicht unterschieden; vielmehr dominiert eine generalisierende Tendenz, die das jüdische Volk als nationales Kollektiv zum Feind zu erklären. Als Feinde wurden auch Ukrainer betrachtet, die mit dem sowjetischen Regime verbunden waren.
NS-Deutschland war der Bündnispartner der OUN‑B, mit dessen Hilfe die Sowjetunion niedergeworfen werden sollte. An dieser Bündnispolitik änderte auch die Tatsache nichts, dass die deutsche Seite in den vorangegangenen Jahren ukrainische Hoffnungen auf einen eigenen Staat – das oberste Ziel der OUN – stets enttäuscht hatte. Auch der brutale antijüdische und antipolnische Terror der Deutschen in Polen, der der OUN bekannt war, tat der Loyalität keinen Abbruch. Das in den Instruktionen formulierte mörderische Programm illustriert vielmehr eine deutliche Radikalisierung und Anpassung der OUN an die Politik NS-Deutschlands.
Vertreter der mit der OUN‑B kooperierenden Wehrmacht haben einer gewissen Autonomie der Ukrainer wohl ambivalent gegenübergestanden; aus der Sicht Hitlers jedoch kam der Ukraine nicht die von der OUN‑B gewünschte Rolle eines gleichberechtigten Bündnispartners zu; sie sollte eine Kolonie werden; ein ukrainischer Staat stand nicht zur Diskussion.
Im Rahmen der militärischen Kooperation mit der OUN‑B stellte die Abwehr der Wehrmacht Einheiten mit ukrainischem Personal auf. Zum Zeitpunkt, als das Bataillon Nachtigall einmarschiert war, proklamierte die OUN‑B am 30. Juni 1941 in Lwiw einen souveränen ukrainischen Staat. Bandera selbst war nicht anwesend; laut Rossoliński-Liebe wurde er von den Deutschen im „Generalgouvernement“ kurz vor der Proklamation festgesetzt. Sie untersagten ihm, nach Lwiw zu kommen. Regierungschef wurde Banderas Stellvertreter Jaroslaw Stezko. Die Staatsgründung scheiterte. Die deutsche Besatzungsmacht entschied sich kurz nach der Proklamation, die Beteiligten zu inhaftieren. Bandera und Stezko wurden am 5. und 9. Juli 1941 festgenommen und nach Berlin gebracht, unter der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen. Beide weigerten sich, den Staatsgründungsakt zurückzunehmen; doch unterbreiteten sie bzw. die OUN‑B der deutschen Seite bis Mitte August Angebote zur Fortsetzung der Kollaboration. Die banderowzy versuchten vergeblich, die Deutschen davon zu überzeugen, am ukrainischen Bündnispartner und dem ukrainischen Staat festzuhalten, der sich, wie sie versicherten, einer von NS-Deutschland geführten europäischen Ordnung anschließen würde.
Trotz des Scheiterns der Staatsgründung gelang es der OUN‑B, mit der Proklamation vom 30. Juni 1941 einen beträchtlichen Teil der westukrainischen Bevölkerung zu mobilisieren, ihre Bewegung als führende ukrainische Kraft zu präsentieren und ihren absoluten Machtanspruch im ukrainischen Lager durchzusetzen. In den seit 1994 erscheinenden staatlichen Geschichtsbüchern wird der „Akt der Erneuerung des ukrainischen Staates“ mit wenigen Ausnahmen als „Erneuerung ukrainischer Staatlichkeit“ positiv gewürdigt. Die von der OUN‑B vorgesehene Form des ukrainischen Staates, nämlich eine totalitäre Diktatur unter ihrer Führung, wird im staatsfixierten Schulgeschichtsbild nicht erwähnt. Dasselbe gilt für die Tatsache, dass das Staatsprojekt Banderas vor allem für eine Integration einer autonomen Ukraine in Hitlers Europa stand und damit dem faschistischen Satellitenstaat der kroatischen Ustascha weit näherkam als einer wirklichen Unabhängigkeit.
Obwohl die Deutschen die Hoffnungen der Ukrainer auf einen eigenen Staat enttäuschten, setzte die OUN‑B die Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzern im Juli 1941 zunächst fort.
Zu den dunkelsten und in den heutigen Geschichtsdebatten der Ukraine weitgehend tabuisierten Kapiteln der Geschichte der OUN‑B zählt die Beteiligung der OUN‑B und der von ihr geführten und aufgestellten ukrainischen Milizen an den Pogromen gegen die jüdische Bevölkerung, die nach dem Abzug der Roten Armee – und fast zeitgleich mit dem „Staatsakt“ der OUN‑B – Ende Juni/Anfang Juli 1941in zahlreichen Städten und Dörfern der Westukraine einsetzten.
Dasselbe gilt für die von den Milizen – durch Festnahmen von Juden – geleistete Unterstützung bei Massenerschießungen im Juli 1941 durch die Einsatzgruppen. Die Milizen waren auch an Massenmorden der Waffen-SS-Division Wiking in einer Reihe von Städten in Ostgalizien beteiligt. Der Historiker Aleksandr Kruglov schätzt die Zahl der in der gesamten Westukraine im Juni/Juli 1941 ermordeten Juden auf etwa 16.000.
Die antijüdische Gewalt wurde mit dem Ideologem begründet, Juden seien generell als Unterstützer des Sowjetregimes einzustufen. Unmittelbarer Auslöser der Pogrome, von denen hier nur kurz der Fall Lwiw betrachtet werden kann (30. Juni –2. Juli 1941), war u. a. das Auffinden der von den Sowjets bzw. der von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD beim Abzug der Roten Armee ermordeten Gefängnisinsassen (unter denen mehrheitlich Ukrainer, aber auch viele Polen und Juden waren). Gründe für die Inhaftierungen durch den NKWD waren u. a. der Verdacht des ukrainischen Nationalismus oder Verbindungen zum nationalistischen Untergrund. Die Gesamtzahl der vom NKWD inhaftierten und beim Abzug der Roten Armee getöteten Insassen (Ukrainer, Juden und Polen) belief sich allein in Lwiw auf über 3000, für alle Gebiete des sowjetisch besetzten Ostpolen wird sie auf über auf 20.000 geschätzt, davon zwei Drittel allein in der Westukraine. Die schnelle Verbreitung von Informationen über die Massenmorde an den Gefängnisinsassen und der Umstand, dass Juden zu den Aufräumarbeiten und der Bergung von Leichen in den NKWD-Gefängnissen herangezogen wurden, wirkte als Katalysator pogromartiger antijüdischer Gewalt. Die ukrainischen Milizen brachten die Juden – in weitaus höherer Zahl als für die Aufräumarbeiten benötigt – zwangsweise zu den Gefängnissen, misshandelten und schlugen sie, wobei sie von Zivilisten und Zivilistinnen unterstützt wurden. An Misshandlungen und Ermordungen auf den Gefängnishöfen waren meist ukrainische Milizen und Zivilisten, aber auch deutsche Soldaten und Polizei beteiligt. Zu Tötungen der jüdischen Bevölkerung durch die ukrainische Miliz oder Einheimische kam es im Rahmen der Beteiligung an Gewaltexzessen; systematische Erschießungen hat die ukrainische Miliz selbst nicht durchgeführt. Die deutschen Machthaber haben die Hassausbrüche toleriert und gefördert; die Einheimischen mussten zu antijüdischen Handlungen jedoch nicht besonders angetrieben werden. Die Gewaltexzesse gegen Juden waren im Sinne der – auch von der OUN‑B geteilten und verbreiteten – stereotypische Wahrnehmung vom „jüdischen Bolschewismus“ in den Augen vieler Ukrainer eine Strafe für die sowjetischen Verbrechen. In den Gewalttaten zeigte sich laut Kai Struve der „emotionale Ausnahmezustand“, den die Konfrontation mit den NKWD-Verbrechen ebenso auslöste wie die Freude über die Befreiung von der sowjetischen Herrschaft, als deren Träger und Nutznießer die Juden angesehen wurden.
Hinzu kam die euphorische Hoffnung vieler Ukrainer auf einen eigenen Staat, die von den Deutschen aber bald enttäuscht wurde. Die von der OUN‑B geführten Milizen haben noch Ende Juli/Anfang August die deutsche Sicherheitspolizei durch Festnahmen bei den Massenerschießungen von Juden unterstützt. Obwohl das Verhältnis der OUN‑B zu den Deutschen nach der gescheiterten Staatsgründung massiv eingetrübt war, widersprach die Zusammenarbeit bei den Gewalttaten gegen Juden nicht den Zielen der OUN‑B. Diese sah in der Verfolgung der Juden ein konkretes Feld der Kooperation und hoffte durch entsprechende Mitarbeit immer noch, die Deutschen davon überzeugen zu können, die Errichtung eines ukrainischen Staates zuzulassen.
Die Gewalt der ukrainischen Milizen gegen Juden an vielen Orten kann nicht allein mit einem Kampf gegen die sowjetische, von Juden symbolisierte Herrschaft erklärt werden: In Südostgalizien haben die OUN-B-geführten Milizen in Orten, wo die dortige ungarische Besatzungsmacht keine volle Kontrolle (vor allem in den Dörfern) ausübte, bei ihren Aktionen gegen echte und vermeintliche Helfer der Sowjets polnische und ukrainische Aktivisten, bei den jüdischen aber ganze Familien getötet. Dies spricht dafür, dass auch ein generalisierender und eliminatorischer Antisemitismus als eigenständiges Movens eine Rolle für das Handeln der Bandera-Milizen spielte.
Trotz der erheblichen Beteiligung von OUN-B-Angehörigen und anderen Einheimischen an den antijüdischen Gewalttaten ging das Morden in weitaus höherem Maße von den Deutschen aus.
Zudem haben die ukrainischen Milizen gegenüber den Juden nicht an allen Orten einheitlich gehandelt. Trotz der von ukrainischer Seite verübten massiven antijüdischen Gewalt im Sommer 1941 ist das Vorurteil vom „Antisemitismus der Ukrainer“ ebenso falsch wie andere Kollektivstereotype. Tausende von Juden haben von Ukrainern im Laufe der Besatzungszeit Hilfe erfahren oder wurden durch sie gerettet.
Im August und September 1941 kündigten die Deutschen die Zusammenarbeit mit der Bandera-OUN endgültig auf. Die deutsche Besatzungsmacht ging nun selektiv – wenn auch nicht auf breiter Front – in Form von Verhaftungen und Erschießungen gegen die Organisation vor. Bandera kam im November 1941 in „Ehrenhaft“ in das Konzentrationslager Sachsenhausen. Seine Brüder, die OUN-B-Mitglieder Oleksandr und Vasyl, wurden im Herbst 1941 von der Gestapo verhaftet und im Juli 1942 im KZ Auschwitz ermordet. Im Sommer 1942 wurden noch weitere Mitglieder der Führungsgruppe der OUN‑B nach Auschwitz deportiert.
In die Illegalität gezwungen, musste sich die OUN‑B neu aufstellen. Unter ihrer Führung wurde 1942/1943 die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) aufgebaut, die im Grunde ihr militärischer Arm war, wenn auch nicht völlig mit der OUN‑B identisch. Die personelle Basis der UPA rekrutierte sich u. a. aus Mitgliedern der OUN‑B, ehemaligen zur OUN‑B gehörigen Mitgliedern der Bataillone Nachtigall und Roland sowie einheimischen jungen Männern und Teilen der ukrainischen Hilfspolizei, von denen viele an den deutschen Massenmorden an Juden beteiligt gewesen waren und dann zur UPA desertierten.
Im Laufe des Krieges gewann die UPA eine immer größere politische Bedeutung. Sie verfügte über einen breiten Rückhalt in der westukrainischen Bevölkerung, die die repressive sowjetische Herrschaft in den Jahren 1939 bis 1941 noch in so frischer wie schlechter Erinnerung hatte und ihre Rückkehr in die Westukraine im Sommer 1944 fürchtete.
Der in der westlichen Ukraine konzentrierte Kampf der UPA dauerte bis 1949, der antisowjetische Widerstand des nationalistischen Untergrunds bis in die 1950er Jahre.
Ab dem Sommer 1943 kämpfte die UPA vor allem gegen sowjetische Partisanen, deren Auftauchen in Wolhynien ein Motiv ihrer Gründung gewesen war, und 1944, nach der Rückeroberung der Gebiete durch die Sowjets, kämpfte sie auch gegen die Rote Armee. Außerdem ging sie gegen polnische Einwohner vor. Der Krieg der UPA mit den Sowjets wurde beiderseits mit enormer Brutalität geführt. Um der UPA die Rekrutierungsbasis und Unterstützung zu entziehen, reagierte die sowjetische Geheimpolizei mit massenhaften Erschießungen, Verhaftungen und Deportationen. Zwischen 1944 und 1952 wurden etwa 153.000 Menschen erschossen und zwischen 1944 und 1953 sind etwa 66.000 Familien (rund 204.000 Menschen) aus der Westukraine deportiert worden. Dies ist ein Grund für die in Ostgalizien und Teilen Wolhyniens dominierende antisowjetisch eingefärbte nationale Erinnerungskultur, in der die UPA als eine Art Heimatschutzarmee angesehen wird.
In der sowjetischen Historiographie und Propaganda wurden zahlreiche Aspekte des Untergrundkampfes der UPA verschwiegen und die Stereotype von den banderowzy auf die UPA übertragen. Das daraus resultierende, von der heutigen russischen Medienpropaganda meist übernommene Zerrbild von der durchgehenden Kollaboration der UPA mit den Deutschen ist in dieser Eindeutigkeit jedoch historisch unzutreffend. Zwar gab es einzelne Kontakte von UPA-Gruppen mit deutschen Stellen, tendenziell wendete sich der nationalistische Partisanenkampf der UPA aber auch gegen die deutsche Besatzungsmacht. Aktionen der UPA richteten sich beispielweise gegen die deutsche Zivilverwaltung und Infrastruktur und waren „keine Einzelfälle, sondern schränkten deren Arbeit spürbar ein“. Außerdem versuchte die UPA, Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen zu befreien, nicht zuletzt, um sie der UPA einzugliedern. Der Widerstand der UPA richtete sich vor allem gegen Zivilverwaltung, deutsche Sicherheitspolizei und SD, aber kaum gegen die Wehrmacht.
In weiten Teilen der ukrainischen Historiographie wird die in kosakischen Traditionen stehende UPA als „nationale Armee“ und dritte Kraft dargestellt, die kompromisslos sowohl gegen die deutsche als auch die sowjetische Besatzungsmacht kämpfte. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass es im Rahmen des außerordentlichen Kongresses der OUN‑B im August 1943 zu erheblichen Modifikationen in der Programmatik von OUN und UPA in Richtung auf eine Demokratisierung und im Sinne einer moderateren Einstellung der UPA gegenüber Juden gekommen sei. Das daraus resultierende Bild von der UPA als antitotalitärer und für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine kämpfende Kraft lässt sich jedoch nur aufrechterhalten, wenn die dunklen Seiten der UPA konsequent unterschlagen werden. Die Demokratisierung stand nur auf dem Papier und war vor allem taktisch motiviert: Angesichts der drohenden Niederlage des Deutschen Reiches suchten die OUN‑B und die UPA neue Bündnispartner wie die Westmächte.
Die UPA perpetuierte zahlreiche Elemente des rechtsextremen integralen Nationalismus der OUN der 1930er Jahre.
Das eigentliche Verbrechen der UPA setzt im März 1943 mit dem Versuch einer „ethnischen Säuberung“ des Gebiets Wolhynien ein.
Der Terror gegen die polnische Bevölkerung zielte auf eine ethnische Homogenisierung Wolhyniens ab, um den Anspruch der Einbeziehung dieser Region in einen künftigen ukrainischen Staat zu unterstreichen. Den Massakern fielen mindestens 60.000 Polen zum Opfer, angeblich 5000 –20.000 Ukrainer den Gegenmaßnahmen der polnischen Heimatarmee. Dieses Ereignis ist Teil eines größeren, auch unter der vor allem in der Ukraine gebräuchlichen Bezeichnung „Wolhynien-Tragödie“ bekannten blutigen ukrainisch-polnischen Konflikts, der bisher weder ausreichend erforscht noch aufgearbeitet worden ist.
Der Umgang der UPA mitder jüdischen Bevölkerung, die in die Wälder geflüchtet oder in Reihen der UPA als Ärzte oder Handwerker tätig waren, verlangt ebenfalls noch eine gründliche Untersuchung. Doch blieb die Haltung der UPA tendenziell antisemitisch. Viele UPA-Partisanen waren weiterhin überzeugt, dass „die Juden“ die Sowjetmacht unterstützten. Im Frühjahr 1944 setzte die Kooperation zwischen UPA und Wehrmacht wieder ein. Jüngeren Forschungen zufolge wurden mindestens 1000 bis 2000 Juden, die in die Wälder geflüchtet waren, von UPA-Einheiten getötet.
Nachdem die Westukraine wieder in sowjetischer Hand war, wurde Stepan Bandera im September 1944 aus der Haft entlassen – auch dies eine Folge der erneuten Kooperation der OUN mit den Deutschen. Er blieb zwar während des Krieges symbolisch der Führer der OUN‑B, hatte jedoch mit dem Kampf der UPA kaum etwas zu tun. Bandera nahm noch Teil an der letzten Etappe der ukrainisch-deutschen Kollaborationsgeschichte: Im November 1944 war er Mitbegründer des Ukrainischen Nationalkomitees, das von der deutschen Reichsregierung im März 1945 noch als „alleiniger Vertreter des ukrainischen Volkes“ anerkannt wurde, doch spielten dort künftig weder er noch die OUN‑B noch eine entscheidende Rolle. Seit Februar 1945 stand Bandera an der Spitze des auf einer Wiener Konferenz der OUN‑B gegründeten Auslandszentrums der Organisation, bevor er nach Kriegsende nach Bayern übersiedelte, wo er bis zu seiner Ermordung 1959 unter falschem Namen lebte. Die Auslandsorganisation der OUN‑B blieb nach dem Krieg in ideologische Streitereien und machtpolitische Konflikte verstrickt und spaltete sich schließlich. Stepan Bandera soll sich in den organisationsinternen Kämpfen Demokratisierungstendenzen widersetzt haben, wobei ungeklärt ist, ob die demokratischen Veränderungsbestrebungen seiner Rivalen ernst gemeint waren. Bandera jedenfalls stand schließlich einem Flügel der Auslands-OUN‑B vor, deren Wirken weitgehend auf das Exil eingeschränkt war. Die OUN-B-Führung im Ausland einerseits und die Landesstrukturen von OUN und UPA in der Ukraine andererseits isolierten sich zunehmend voneinander. Wenige Jahre nach Kriegsende hatte die Auslands-OUN in der ukrainischen Heimat keine Basis mehr.
Für die russische TV-Propaganda war es ein Leichtes, die auf dem Maidan sichtbaren Symbole der radikalnationalistischen Tradition samt Porträts von Bandera zu finden und ins Zentrum zu rücken, um ihre verfälschenden Thesen zu den „neuen banderowzy“ visuell zu untermauern.
Auf den regelmäßigen großen „Volksversammlungen“, dem Herzstück der Maidan-Proteste, benutzte eine erdrückende Mehrheit nicht die Zeichen der nationalistischen Tradition, sondern die Staatssymbole der Ukraine, insbesondere die blau-gelbe Flagge und diese häufig in Kombination mit der EU-Flagge. Die Akzeptanz Banderas, der vor allem unter westukrainischen (ostgalizischen) Demonstranten populär war, wuchs während der Proteste auch unter Kyjiwer und zentralukrainischen Demonstranten, welche die Mehrheit auf den großen „Volksversammlungen“ bildeten. Doch weder bei diesen Demonstranten noch bei einer Mehrheit der Bevölkerung ist er zum unbestrittenen Nationalhelden aufgestiegen. In den Jahren nach dem Maidan sind die Zustimmungswerte für die in der Ukraine stets umstrittene Persönlichkeit Stepan Bandera in Umfragen leicht, aber nicht massiv angestiegen. Nach einer von der ukrainischen soziologischen Gruppe „Rejtynh“ (oder einfach „Ratinggroup“) im Oktober 2018 durchgeführten repräsentativen Umfrage bekundeten etwas mehr als ein Drittel der Befragten eine positive Einstellung zu Bandera (18 Prozent „ganz positiv“; 18 Prozent „eher positiv“), womit er unter 10 möglichen historischen Persönlichkeiten den sechste Platz noch hinter dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU Leonid Breschnew einnahm. An die Spitzenwerte des traditionell beliebten Kosaken-Hetmans Bohdan Chmelnytzkyj (73 Prozent, Platz 1) oder des „Vaters der ukrainischen Geschichtsschreibung“ Mychajlo Hruschevsky (68 Prozent, Platz 2), die für ein gemäßigt nationales Geschichtsbild stehen, reichen die Werte für Bandera bei weitem nicht heran. Selbst in der Zentralukraine kam er nur auf 35 Prozent, während die hohen Positiv-Werte in der Westukraine (64 Prozent), wo das ehrende Gedenken für die Protagonisten von OUN und UPA traditionell einen hohen Stellenwert hat, ebenso wenig überraschen wie die deutliche geringere Zustimmung im Süden und Osten des Landes (jeweils 17 Prozent).
Auch die mit ihm und der OUN‑B verknüpften Gedenktage, die rot-schwarze Organisationsfahne der OUN und sein Porträt konnten sich als repräsentatives Symbol der Maidan-Bewegung nicht durchsetzen. Wichtigstes Symbol war Taras Schewtschenko, der unter fast allen Ukrainern unumstrittene ukrainische Nationaldichter. Sein auf dem weithin sichtbaren großen Eurobanner befestigtes Bild blieb auf der Bühne von Beginn bis Ende der Proteste präsent.
Das einzige Element des radikalnationalistischen Traditionsbestands, das eine große Verbreitung erfuhr, war der Ruf „Ruhm der Ukraine, den Helden Ruhm!“, wie ihn auch die OUN als Gruß verwendete. Seine Popularisierung auf dem Maidan und danach bedeutet nicht Zustimmung zu einem faschistischen Programm und ist auch nicht primär mit der Erinnerung an die historische OUN oder UPA verknüpft.
Der Ruf „Ruhm der Ukraine“ verbindet sich für die Mehrheit der Protestierenden mit den konkreten Helden des Maidan, wie z.B. den Ende Februar getöteten Demonstranten. Er steht für demokratische Veränderung und die Auflehnung gegen ein autoritäres und korruptes Regime.
Das besonders unter Jugendlichen populäre Bild von Stepan Bandera als unbeugsamem Kämpfer für die ukrainische Unabhängigkeit und gegen die totalitären Besatzer baut gleichwohl auf einer Geschichtsklitterung auf. Bandera steht historisch für die extremste Form des Nationalismus, in dem Andersdenkende keinen Platz hatten. Es ist daher fraglich, ob sich eine freiheitlich verklärte radikalnationalistische Tradition als Symbolressource einer demokratischen Gesellschaft eignen wird. Vor allem im ostukrainischen Donbas, aber auch in Teilen des heute überwiegend staatsloyalen Südens wird die Popularisierung nationalistischer Symbole radikal abgelehnt oder mit Skepsis gesehen und kann zur Entfremdung vom ukrainischen Staat beitragen. Dies ist sicher auch, aber nicht in jedem Fall allein eine Folge sowjetischer und russischer Propaganda. Politische Symbole lassen sich nicht einfach von ihren historischen Bedeutungen oder unterschiedlichen, mündlich weitergegebenen Familienerfahrungen trennen. Und schließlich fehlt den Menschen im Donbas und in Teilen des Südens die Emanzipationserfahrung des Maidan. Die freiheitlich-demokratischen Umwertungen einzelner nationalistischer Symbole nachzuvollziehen, die durch die Proteste bewirkt oder bestätigt wurden, ist ihnen deshalb kaum möglich gewesen. Das wiederum hat es ihnen erschwert, der Bedeutungsverschiebung wirklich zu trauen. Die ukrainische Gesellschaft wird sich daher künftig einer offenen und herrschaftsfreien Debatte über die Geschichte von OUN und UPA stellen müssen, die auch die dunklen Seiten nicht verschweigt.
Für wichtige Hinweise dankt der Autor Frank Golczewski, Dieter Pohl, Ray Brandon, Kai Struve und Grzegorz Rossoliński-Liebe. Bei dem Beitrag handelt es sich um einen überarbeiteten und ergänzten Beitrag von Wilfried Jilge, der 2015 bereits im Wallstein Verlag erschienen ist. Vgl. Wilfried Jilge: Stepan Bandera – Zum historischen und politischen Hintergrund einer Symbolfigur. In: Katharina Raabe (Hrsg.): Gefährdete Nachbarschaften – Ukraine, Russland, Europäische Union. (=Valerio 17/2015), S. 103–123.
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