Sofia Andrucho­wytsch: Schrift­stel­le­rin, die Ver­gan­gen­heit und Zukunft verbindet

Sofia Andruchowytsch

Die 41-jährige Sofia Andrucho­wytsch zählt zu den bekann­tes­ten zeit­ge­nös­si­schen Autorin­nen und Autoren der Ukraine. In ihren Werken widmet sie sich der ukrai­ni­schen Geschichte – und macht auch vor schmerz­haf­ten Themen und blinden Flecken nicht Halt.

Der Nach­name Andrucho­wytsch ist längst nicht nur in ukrai­ni­schen Lite­ra­tur­krei­sen bekannt. Der aus der west­ukrai­ni­schen Stadt Iwano-Fran­kiwsk stam­mende 64-jährige Schrift­stel­ler und Über­set­zer Juri Andurch­o­wytsch wurde bereits 2016 mit der Goethe-Medaille und 2022 mit dem Düs­sel­dor­fer Hein­rich-Heine-Preis aus­ge­zeich­net. Doch im Mai 2024 ist die Zahl der „deut­schen“ Preis­trä­ger in der Familie Andrucho­wytsch gewach­sen, als seine 41-jährige Tochter Sofia Andrucho­wytsch zusam­men mit ihren Über­set­zern Alex­an­der Kra­toch­vil und Maria Weis­sen­böck den mit 20.000 Euro dotier­ten und im zwei­jäh­ri­gen Turnus ver­lie­he­nen inter­na­tio­na­len Hermann-Hesse-Preis erhielt.

Trau­ma­ti­sche Epi­so­den der ukrai­ni­schen Geschichte

Den renom­mier­ten Preis erhielt die Autorin für „Die Geschichte von Romana“ und „Die Geschichte von Uljana“, die ersten beiden der ins­ge­samt drei Teile ihres 2020 im ukrai­ni­schen Ori­gi­nal erschie­nen Romans „Das Amadoka-Epos“. Der dritte Teil „Die Geschichte von Sofia“ wird im Oktober dieses Jahres auf Deutsch ver­öf­fent­licht. Der Roman widmet sich drei trau­ma­ti­schen Epi­so­den der neu­es­ten ukrai­ni­schen Geschichte: dem Donbas-Krieg, dem Holo­caust und den sta­li­nis­ti­schen Repres­sio­nen gegen ukrai­ni­sche Kul­tur­schaf­fende. Andrucho­wytsch sei es gelun­gen, „auf formal viel­fäl­tige und beein­dru­ckende Weise ein weit­ge­spann­tes Pan­orama der Ukraine des 20. Jahr­hun­derts zu ent­wer­fen“, hieß es in der Begrün­dung der Jury.

„Das Amadoka-Epos“ ist der zweite Roman von Sofia Andrucho­wytsch, der große Auf­merk­sam­keit her­vor­rief – auch über die Grenzen der Ukraine hinaus. Ihr Roman „Felix Austria“, 2014 in der Ukraine erschie­nen und als Buch des Jahres von der ukrai­ni­schen BBC-Redak­tion aus­ge­zeich­net, wurde in Deutsch­land unter dem Titel „Der Papier­junge“ ver­öf­fent­licht. Auch hier handelt es sich um eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der ukrai­ni­schen Ver­gan­gen­heit: Der Roman ist in Form eines Tage­buchs der Prot­ago­nis­tin geschrie­ben, die 1900 in Sta­nis­lau, dem heu­ti­gen Iwano-Fran­kiwsk, lebte. Der ukrai­ni­sche PEN-Club setzte „Felix Austria“ auf seine Liste der 100 besten ukrai­ni­schen Lite­ra­tur­werke. 2020 wurde der Roman in der Ukraine verfilmt.

„Dieses Schwei­gen muss gebro­chen werden“

Stu­diert hat die 41-jährige Autorin, die zudem auch publi­zis­tisch tätig ist und aus dem Pol­ni­schen und Eng­li­schen ins Ukrai­ni­sche über­setzt —dar­un­ter sogar eines der Harry-Potter-Bücher — an der Ukrai­ni­schen Druck­aka­de­mie in Lwiw. Sie widmet sich den nur wenig beleuch­te­ten Kapi­teln der ukrai­ni­schen Geschichte und Themen, die in der Sowjet­zeit lange tabu waren. So fand das Thema des Holo­causts in der ukrai­ni­schen Lite­ra­tur vor dem Amadoka-Epos kaum Erwähnung.

„Ich hoffe, dass dieses Thema öfter auf­taucht“, sagt Andrucho­wytsch, „bisher haben wir kaum darüber gespro­chen. Das ist eine Kata­stro­phe, denn die Ukraine ist ein Gebiet, auf dem der Holo­caust in grö­ße­rem Ausmaß statt­ge­fun­den hat. Das erklärt das Schwei­gen. Aber dieses Schwei­gen muss gebro­chen werden.“ Auch die Ent­de­ckung der Wahr­heit über den Holo­do­mor oder die sowje­ti­schen Repres­sio­nen sei schmerz­haft gewesen.

„Subtile Kräfte, die jeden Men­schen antreiben“

Dabei ist das Bild, welches in den Büchern von Andrucho­wytsch vor­kommt, kom­pli­zier­ter als manch öffent­li­cher Diskurs. „Ich glaube, dass ich keine einzige ein­deu­tige Figur habe“, sagt sie. Im Amadoka-Epos kommen sowohl Ukrai­ner, die Juden geret­tet haben, als auch ukrai­ni­sche Hilfs­po­li­zis­ten vor – und sogar ukrai­ni­sche Hilfs­po­li­zis­ten, die Juden ret­te­ten. „Alles auf das Nega­tive oder auf das Posi­tive zu redu­zie­ren ist sehr ein­di­men­sio­nal“, so die Autorin, „ich habe ver­sucht, ver­schie­dene subtile Kräfte auf­zu­zei­gen, die jeden Men­schen antrei­ben. Des­we­gen gibt es dort keine einzige ein­deu­tige Figur.“

Wie viele andere ukrai­ni­sche Kul­tur­schaf­fende ist Andrucho­wytsch, die mit dem Schrift­stel­ler Andrij Bondar ver­hei­ra­tet ist, seit der rus­si­schen umfas­sen­den Inva­sion am 24. Februar 2022 viel außer­halb der Ukraine unter­wegs, um die Men­schen dort über die Lage in ihrem Hei­mat­land auf­zu­klä­ren. Diese Reisen haben Andrucho­wytsch vor Augen geführt, dass sie manch­mal ein wenig Abstand benö­tigt, um die Ereig­nisse zu Hause besser fassen zu können: „Es stellte sich heraus, dass mich die Ent­fer­nung näher an die Rea­li­tät in der Ukraine her­an­brachte. Wenn ich zu Hause bin, stecke ich manch­mal so tief drin, dass ich nicht immer ‚sehen‘ kann, was passiert.“

Für die Nach­kriegs­zu­kunft der Ukraine macht es Andrucho­wytsch Hoff­nung, dass es in der Gesell­schaft trotz der unver­meid­li­chen Zunahme von Ableh­nung gegen­über allem Rus­si­schen am Rande des rus­si­schen Angriffs­krie­ges nicht zu „wirk­lich gefähr­li­chen Dingen“ gekom­men sei: „Es gibt keine aus­drück­li­chen Verbote oder Repres­sio­nen gegen­über Men­schen, die Rus­sisch spre­chen. Die Ukrai­ner haben im Laufe ihrer langen Geschichte gelernt, tole­rant mit­ein­an­der umzu­ge­hen“, sagt sie, „und die aktu­el­len schreck­li­chen Ereig­nisse lehren uns auch, Men­schen zu akzep­tie­ren, die anders sind als wir.“

Portrait von Denis Trubetskoy

Denis Tru­bets­koy ist in Sewas­to­pol auf der Krim geboren und berich­tet als freier Jour­na­list aus Kyjiw.

 

 

 

 

 

 

 

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