Bandera – der überanstrengte Mythos
Die Darstellung Stepan Banderas im Artikel von Grzegorz Rossoliński-Liebe vor zwei Tagen greift zu kurz, findet unser Autor Gerhard Simon. Er entgegnet in seinem Artikel, dass Bandera von vielen als eine Etappe auf dem Weg in die ukrainische Unabhängigkeit gesehen wird und ihm ein zu hoher Stellenwert zugeschrieben wird.
Warum wurde Stepan Bandera (1909–1959) für Feind und Freund zur Symbolfigur, ja zum Namenspatron des ukrainischen Nationalismus? Bis heute werden nationalgesinnte Ukrainer von den Einen als Bandera-Anhänger (banderivzy) beschimpft, die Anderen übernehmen im Gegenteil die abwertend gemeinte Bezeichnung als Ehrennamen für sich. Tatsächlich rechtfertigen weder Banderas Biographie noch seine politische Tätigkeit in irgendeiner Weise eine Ausschließlichkeit. Er war nur einer in einer ganzen Reihe von politischen und militärischen Anführern der konspirativ tätigen Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), die seit den 1930er Jahren, angeleitet von einem integralen Nationalismus für einen unabhängigen ukrainischen Staat kämpften. Dabei waren alle Mittel recht und alle denkbaren Bundesgenossen willkommen. Politischer Terror und Gewalt gegen imaginierte und tatsächliche Feinde der Ukraine galten, wie in weiten Teilen des damaligen Europas, als akzeptabel, ja selbstverständlich, ebenso die Zusammenarbeit mit Hitler, der jedoch nicht kollaborierte.
Bandera schaffte es nicht, die Organisation Ukrainischer Nationalisten zu vereinen, sondern spaltete sie in einen radikalen und einen gemäßigten Flügel
Bandera wurde im Juni 1933 zum Leiter (providnyk) der OUN im damals polnischen Galizien gewählt, jedoch schon ein Jahr später im Juni 1934 wegen Mordanschlägen auf polnische Amtsträger verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt. Er entkam bei Kriegsausbruch im September 1939 aus dem polnischen Gefängnis, und arbeitete bis zur Besetzung Galiziens durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1941 an einem Bündnis mit den Deutschen, die aber die Konstituierung eines ukrainischen Staates verhinderten. Stattdessen verbrachten die Besatzer Bandera nach Berlin, wo er bis zum September 1944 im KZ Sachsenhausen einsaß. Die Ukraine hat er auch nach Kriegsende niemals wiedergesehen.
Die OUN und ihr militärischer Arm, die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA), scheiterten nicht nur mit ihrem Plan der Schaffung eines ukrainischen Staates, was angesichts der Übermacht der Feinde nicht verwunderlich ist. Es gelang dem auf das Führerprinzip fixierten Bandera zu keiner Zeit, der unbestrittene Führer der gesamte OUN zu werden. Vielmehr spaltete er die Organisation im Februar 1940 in den radikalen, militanten Flügel OUN‑B [für Bandera-Anhänger] und den gemäßigten, kleineren Flügel OUN‑M [für Melnyk-Anhänger]. Banderas Tätigkeit nach 1945 in der Emigration war bestimmt von nicht endenden Intrigen und Machtkämpfen innerhalb der OUN. An den wichtigsten militärischen und politischen Aktionen der ukrainischen Nationalisten, dem antipolnischen Terror 1943 und dann dem antisowjetischen Partisanenkampf der UPA von 1943 bis zum Beginn der 1950er Jahre, nahm Bandera nur aus der Ferne als Zuschauer teil. Er wurde im Oktober 1959 von einem KGB Agenten in München ermordet. Das sicherte ihm wahrscheinlich den Status des Märtyrers.
Die OUN wird als eine Etappe auf dem Weg zum unabhängigen ukrainischen Staat wahrgenommen
Als solcher kehrte er ein halbes Jahrhundert später in die inzwischen unabhängige Ukraine zurück, wo er ebenso wie zu Lebzeiten eine kontroverse Figur blieb. In seiner Heimat Galizien begann schon in sowjetischer Zeit die Verehrung des Märtyrers für die ukrainische Sache. Nach der Orangen Revolution (2004/5) entstand ein Bandera-Kult mit zahlreichen Denkmälern in vielen Städten und Dörfern, mit Festen und Umzügen. Zwar gibt es inzwischen auch in Kyjiw eine nach Bandera benannte Straße, und am ersten Januar, seinem Geburtstag, ziehen seine Anhänger mit brennenden Fackeln durch die Hauptstadt, aber die öffentliche Verehrung für Bandera blieb weitgehend auf den Westen der Ukraine beschränkt. Die Begrüßungsformel der OUN „Es lebe die Ukraine“ (Slava Ukrajini) mit der Antwort „Ruhm den Helden“ (Herojam slava) ging in den politischen Sprachgebrauch des Euromajdan 2013/14 ein.
Sind die Ukrainer Banderivzy geworden? Davon kann keine Rede sein. Die OUN und ihr Kampf für die staatliche Selbstständigkeit werden als Etappe zu dem Ziel wahrgenommen, das unter völlig veränderten Bedingungen nach dem Ende der Sowjetunion erreicht worden ist: der unabhängige ukrainische Staat. Die Forderung nach Zerschlagung des Imperiums verbindet den Partisanenkampf der UPA mit dem antisowjetischen Konsens am Ende der 1980er Jahre.
Die dunklen Seiten Banderas werden konsequent ausgeblendet
Allerdings geht die Verehrung von Bandera einher mit der Ausblendung der dunklen Seiten der Ideologie und der Verbrechen in den 1930er und 1940er Jahren. Nur widerwillig nimmt die öffentliche Meinung in der Ukraine davon Kenntnis, dass die politische Ideologie der OUN antidemokratisch, antisemitisch und von einem exklusiven Nationalismus bestimmt war. Die Beteiligung der ukrainischen Nationalisten an antipolnischen und antijüdischen Pogromen wird in der breiten Öffentlichkeit, nicht jedoch im wissenschaftlichen Diskurs, bis heute geleugnet oder kleingeredet.
Bandera hätte bei Wahlen in der heutigen Zeit keine Chance
Dennoch: Wer heute in der Ukraine „Es lebe die Ukraine“ ruft, solidarisiert sich damit nicht mit dem politischen Terror der OUN vor dem Zweiten Weltkrieg, sondern mit dem neuen ukrainischen Staat seit 1991, der bis heute von Russland in seiner Existenz bedroht wird. Denkmäler für Bandera auf dem gleichen Podest, auf dem zuvor Lenin stand, sind andererseits keine überzeugenden Wegweiser in die europäische und atlantische Zukunft. Dies aber ist der einzige Weg für die Ukraine, will sie nicht in die alten imperialen Verhaltensmuster zurückfallen, wonach die letzte Entscheidung über die Ukraine in Moskau und nicht in Kyjiw fällt.
Rechtsextremistische Parteien und Bewegungen haben in der Ukraine keine Massenbasis. Sie sind in den regionalen und im nationalen Parlament gar nicht oder nur marginal vertreten. Das steht im Gegensatz zur lautstarken Präsenz kleiner rechtspopulistischer Gruppierungen auf der Straße. Der reale Bandera hätte heute in der Ukraine, müsste er sich in Wahlen legitimieren, keine Chance. Der Mythos Bandera lebt davon, dass er den historischen Bandera verdrängt und ausgeschaltet hat. Die wissenschaftliche und publizistische Auseinandersetzung in der Ukraine – so ist zu hoffen – wird zur Dekonstruktion des Mythos führen und zur Einordnung Banderas in ein den heutigen europäischen Werten verpflichtetes Narrativ.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der Redaktion von Ukraine verstehen bzw. dem Zentrum Liberale Moderne.
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