Frauen, Frieden, Sicherheit: geschlechtersensible Konfliktbearbeitung in der Ukraine ausbauen!
Die Ukraine arbeitet an der Umsetzung der UN-Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit. Gleichstellungs-Aktivist*innen finden immer mehr Gehör, und ukrainische Soldatinnen kämpfen nicht mehr ausschließlich als Invisible Batallion. Dennoch bleiben Geschlechterperspektiven auf Frieden und Sicherheit in der Ukraine marginalisiert – das muss sich ändern.
Seit der Annexion der Krim und dem Ausbruch des Krieges im Jahr 2014 hat die Sicherheits- und Verteidigungspolitik in der Ukraine eine völlig neue Bedeutung bekommen. Somit hat auch die Umsetzung der UN-Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit („Agenda 1325“) an Relevanz gewonnen. Die Agenda umfasst die Resolution 1325 des UN-Sicherheitsrats, verabschiedet im Jahr 2000, sowie sieben Folgeresolutionen, die unter anderem die Teilhabe von Frauen an Wahrung und Förderung von Frieden und Sicherheit sowie die Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt in Konflikten fordern. Zudem verlangen die Resolutionen, bei Konfliktprävention sowie Nothilfe und Wiederaufbau Geschlechterperspektiven einzunehmen – das heißt, unterschiedliche Bedürfnisse von Männern und Frauen zu erfassen und bei allen geplanten Maßnahmen im Vorhinein zu hinterfragen, welche Wirkung sie auf unterschiedliche Geschlechter haben können.
Die Verabschiedung der Resolution 1325 stellte damals einen Meilenstein dar, denn zum ersten Mal erkannte der traditionell männlich dominierte Sicherheitsrat der Vereinten Nationen an, dass Frauen nicht nur Opfer, sondern auch Akteurinnen in Frieden und Sicherheit sind, und dass sie eine wichtige Rolle in Konfliktprävention und ‑beilegung spielen. Mittlerweile haben 79 UN-Mitgliedsstaaten und 11 regionale Akteure, beispielsweise die Europäische Union, Aktionspläne zur Umsetzung der Agenda verabschiedet.
Gleichstellung der Geschlechter in Zeiten des Krieges
Der Konflikt und die damit einhergehende soziale, wirtschaftliche und politische Krise in der Ukraine haben die bestehenden geschlechtsspezifischen Ungleichheiten verschärft und neue Herausforderungen für den Schutz von Frauenrechten geschaffen. Weiterhin sind nur 12 Prozent der Parlamentsabgeordneten Frauen. Bis Ende 2018 wurden nach offiziellen Angaben 1,5 Millionen Binnenflüchtlinge registriert; weibliche Geflüchtete berichten häufiger als Männer von Schwierigkeiten, Zugang zu staatlichen Leistungen zu erhalten und sind in Gerichtsverfahren, z.B. bei einem strittigen Status als Binnenvertriebene, seltener erfolgreich als Männer. Berichte von Menschenrechtsorganisationen beschreiben sexuelle Gewalt in den umkämpften Gebieten nicht nur durch bewaffnete Gruppen sondern auch durch die ukrainische Armee, sowohl gegenüber Angehörigen der gegnerischen Konfliktpartei als auch gegenüber Zivilist*innen. Die Partizipation von Frauen in Konfliktbearbeitungsformaten ist niedrig. Ukrainische Frauenrechtsorganisationen sehen die Ursache hierfür nicht nur in Diskriminierung sondern auch in der niedrigen finanziellen und sozialen Sicherheit, die Frauen keinen Raum gebe, sich politisch einzubringen.
Im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt in der Ostukraine sind auch die Fälle häuslicher Gewalt gestiegen – alleine im Jahr 2015 um 50% auf 150.000 Übergriffe. Grund hierfür sind oftmals traumatische Erfahrungen unter Zivilist*innen, Kombattant*innen und Rückkehrenden, die wegen fehlender Hilfsangebote oftmals nicht oder nur unzureichend aufgearbeitet werden.
Frauen, Frieden und Sicherheit in der Ukraine
Am 24. Februar 2016 veröffentlichte die ukrainische Regierung ihren ersten nationalen Aktionsplan (NAP) zur Umsetzung der UN-Resolution 1325 bis 2020. Der ukrainische NAP spiegelt den bewaffneten Konflikt im Osten des Landes wider: Er zielt darauf ab, die Beteiligung von Frauen in den Konfliktbearbeitungsformaten auf internationaler, nationaler und lokaler Ebene und in den Sicherheitsbehörden zu erhöhen. Der Schutz von Frauen und Mädchen in der Ukraine soll sichergestellt werden, insbesondere im Bereich der Prävention und Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt. Angehörige der Streitkräfte sowie Sozialarbeitende sollen für den Umgang mit Überlebenden sexueller Gewalt in den Konfliktgebieten ausgebildet werden.
Die ukrainische Regierung bemüht sich nicht nur mit dem Nationalen Aktionsplan 1325 um Geschlechtergerechtigkeit, sondern beispielsweise auch mit Maßnahmen wie dem Gleichberechtigungsgesetz von 2005 oder regelmäßigen Reports zur Umsetzung der UN-Frauenkonvention CEDAW. Trotzdem steht das Land bei deren Umsetzung vor großen Herausforderungen: Patriarchale Denkstrukturen und Geschlechterstereotype, aber auch tief verwurzelte Probleme wie mangelnde Rechtsstaatlichkeit sowie nun auch die durch den Krieg und die Annexion der Krim verlorene Kontrolle über Teile der Ostukraine. Darüber hinaus bleibt die Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit in den meisten strategischen Dokumenten der Ukraine wie der Menschenrechts- oder der nationalen Entwicklungsstrategie unerwähnt – ganz zu schweigen von regionalen oder lokalen Strategien.
Umsetzung des Nationalen Aktionsplans 1325 in der Ukraine
Dennoch bewegt sich einiges: Der staatliche Grenzschutzdienst entwickelte einen Aktionsplan zur Umsetzung des NAPs in den eigenen Reihen, führte den Posten der Gleichstellungbeauftragten ein, und integrierte eine Genderkomponente in alle Ausbildungsbereiche der Grenzschutzakademie. Das Justizministerium setzt den ukrainischen NAP 1325 mit Weiterbildungen für Richter*innen und Staatsanwält*innen zu den Themen häusliche Gewalt und Menschenhandel um. Im Sommer 2017 startete das polizeiliche Netzwerk gegen häusliche Gewalt ein Pilotprojekt mit mobilen Hilfsteams, die für die Opferbetreuung speziell ausgebildet wurden. Im September 2018 erhielten die Polizeikräfte erweiterte Befugnisse, um Täter*innen von häuslicher Gewalt davon abzuhalten, die Wohnungen ihrer Opfer zu betreten oder sie zu kontaktieren. Am 11. Januar 2019 trat neue Gesetzgebung in Kraft, die häusliche Gewalt kriminalisiert und das Sexualstraftrecht auf dem Konsensprinzip (“Nein heißt Nein”) aufbaut.
Vom “unsichtbaren” zum “sichtbaren” Bataillon
Die größten Veränderungen haben sich derweil in der Anerkennung von Frauen als Akteurinnen im Konflikt ergeben. Im Juni 2016 erweiterte das ukrainische Verteidigungsministerium die Liste der für Frauen zugelassenen militärischen Verwendungen, darunter der Einsatz als Scharfschützinnen oder Fahrerinnen von Einsatzfahrzeugen. Maßgeblich für die Öffnung der ukrainischen Armee für Frauen war das Graswurzel-Projekt „Invisible Battalion“, welches von Frauen mit Kampferfahrung ins Leben gerufen wurde. Was als soziologische Studie der Universität Kiew-Mohyla über Frauen in den ukrainischen Streitkräften begann, entwickelte sich darüber hinaus zu einer großangelegten Fotoreihe sowie einem Dokumentarfilm über Frauen im Militär. Das Projekt beleuchtete nicht nur die Frauen und ihre Lebenswege, sondern auch die Schwierigkeiten der ukrainischen Armee bei der Einbindung von Frauen. Da es Frauen offiziell nicht erlaubt war, Gefechtspositionen einzunehmen, waren sie als zivile Kräfte, beispielsweise als Köchin oder Buchhalterin, registriert. Dies nahm ihnen die Möglichkeit, Sozialhilfen für Veteranen oder militärische Auszeichnungen zu erhalten, oder die Laufbahnentwicklung in den Streitkräften wahrzunehmen. Auch logistische Schwächen traten durch die Studie zu Tage: Ausrüstungsgegenstände wie Schuhe in kleinen Größen, sanitäre Anlagen für Frauen, oder gynäkologische Einrichtungen waren nicht vorgesehen.
Nur drei Jahre nach Beginn des Projekts wurde die Liste der für Frauen zulässigen Verwendungen erweitert, und die benötigte Infrastruktur ausgebaut. Im August 2018 nahmen zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine auch eigene Einheiten von Kadettinnen und Soldatinnen bei den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag der Ukraine teil, und im Oktober 2018 wurde erstmals eine Frau in den Rang der Generalin erhoben.
Von Frauen, Frieden, Sicherheit zu Gender, Frieden, Sicherheit
Trotz einiger Fortschritte zur Gleichstellung der Geschlechter in den Streitkräften darf nicht vergessen werden, dass Friedens- und Sicherheitspolitik weit über Militäraktivitäten hinausgeht. Um Konfliktbearbeitung, Nothilfe und Wiederaufbau geschlechtergerecht zu gestalten, müssen Frauen auf hochrangiger politischer Ebene Einfluss haben. Dabei sollten auch ukrainische zivilgesellschaftliche Aktivistinnen einbezogen werden, die bereits seit Jahren auf Graswurzelebene zu Frauen, Frieden und Sicherheit arbeiten, jedoch bislang kaum Zugang zu politischen und diplomatischen Formaten haben. Zudem sollten weitere Anstrengungen unternommen werden, um die Agenda 1325 auch auf regionaler und lokaler Ebene als wichtigen Referenzpunkt zu etablieren. Bei all diesen Aktivitäten kann “Frauen zählen” immer nur ein erster Schritt dahingehend sein, Frauen “zählend” zu machen – ganz im Sinne von “making women count, not just counting women”.
Überdies ist es wichtig, Genderperspektiven nicht ausschließlich als “Frauenperspektiven” zu verstehen, sondern ebenfalls zu berücksichtigen, wie dominante Vorstellungen von Männlichkeit zu Herausforderungen für Frieden und Sicherheit werden können. In Georgien zeigte sich beispielsweise, dass männliche Binnenflüchtlinge mit Fluchterfahrungen und ‑folgen wie Jobverlust schlechter umgehen konnten als Frauen; die entstandenen “traumatischen Männlichkeiten” äußerten sich unter anderem in Aggression und Depression. Hier kann die Ukraine sich mit entsprechenden geschlechtersensiblen Unterstützungsangeboten noch besser aufstellen. In diesem Kontext ist auch das als Istanbul-Konvention bekannte Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu nennen, das von der Ukraine 2011 unterzeichnet, jedoch bis heute nicht ratifiziert wurde – wegen Streitigkeiten über die Begriffe „Gender“ und „sexuelle Orientierung“, die von konservativer Seite abgelehnt werden. Es ist als gutes Zeichen zu werten, dass sich der ukrainische Präsident Petro Poroschenko kürzlich erneut für seine Ratifizierung ausgesprochen hat.
“Vor der Revolution konnten Frauen in erster Linie entweder häuslich oder glamourös sein, andere Rollen waren gesellschaftlich nicht akzeptiert. Aber während des Euromaidans, als Frauen zusammen mit Männern an den Barrikaden gekämpft haben, wurden sie Teil des sozialen und politischen Lebens.” (Ukrainische Teilnehmerin des #womenps-Projekts, Kiew, Oktober 2018).
Wie das Zitat zum Abschluss noch einmal verdeutlicht, haben die Veränderungen in der Ukraine seit 2014 auch die Transformation der Geschlechterverhältnisse auf den Weg gebracht. Doch die Ukraine steht hier noch am Anfang. Die UN-Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit birgt weiterhin ein großes Potenzial für geschlechtersensible Konfliktbearbeitung in der Ukraine, das in den nächsten Jahren unbedingt ausgeschöpft werden sollte.
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Der Beitrag basiert auf dem Bericht “Women, Peace and Security: A Chance for Georgia’s and Ukraine’s Protracted Conflicts?” des gleichnamigen Projekts von Polis180, Ideas for Change (Kiew) und IDP Women Association Consent (Tiflis).
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Sonja Schiffers ist Co-Präsidentin von Polis180 und Co-Leiterin des Programmbereichs Gender und Internationale Politik. Seit 2016 arbeitet sie, unter anderem als Leiterin des #womenps-Projekts, zum Thema Frauen, Frieden und Sicherheit in der Ukraine. Sie promoviert an der Freien Universität Berlin zur illiberalen Außenpolitik Russlands und der Türkei gegenüber Georgien und Bosnien und ist Gastwissenschaftlerin der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Nicola Habersetzer ist Projektassistentin im #womenps-Projekt. Sie beendet derzeit ihren Master in Politikwissenschaft an der Universität Potsdam und schreibt ihre Masterarbeit über Menschenrechte in Russland. Sie hat einen Studienaufenthalt an der Universität der Völkerfreundschaft in Moskau absolviert und Arbeitserfahrung an der Stiftung Wissenschaft und Politik, der Deutschen Botschaft in Tallinn und im Bundesministerium für Verteidigung gesammelt.
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