Die bemerkenswerte Wiederauferstehung der Julia Tymoschenko
Julia Tymoschenko hat offiziell ihre Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben. Die ehemalige Premierministerin führt die Umfragen an und könnte tatsächlich nächste Präsidentin werden. Nach dem Auf und Ab der letzten Jahre war das nicht unbedingt abzusehen.
Dieser Text ist Teil unseres neuen Dossiers: Wahlen, das von nun an regelmäßig verschiedene Aspekte der bevorstehenden Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2019 – von Präsidentschaftskandidaten über politische Parteien bis hin zur Rolle der Medien – beleuchten wird. Hier geht es zu weiteren Artikeln des Dossiers: Wahlen.
Tymoschenko, seit 1997 politisch aktiv, ist eine alte Bekannte in der ukrainischen Politik. Im Laufe der Zeit nahm sie verschiedene Aufgaben wahr: Parlamentsabgeordnete, Vizepremierministerin, Anführerin der Orangen Revolution, Premierministerin, Präsidentschaftskandidatin und politische Gefangene. Sie arbeitete mit drei der fünf Präsidenten seit der Unabhängigkeit zusammen – Leonid Kutschma, Viktor Juschtschenko und Viktor Janukowytsch.
Aktuell führt sie die Partei Batkiwschtschyna (Vaterland) an. Diese war früher Teil des Blocks Julia Tymoschenko (BJuT), der mehrere kleine Parteien vereinte. 2010 spaltete sich Batkiwschtschyna ab und besiegelte damit das Ende von BJuT. Seither ist Batkiwschtschyna eine eigenständige Partei. Die Genese ist dabei symbolisch für Tymoschenkos politische Karriere.
In der Haft sank ihre Popularität
Als sie am 5. August 2011 wegen eines für die Ukraine ungünstigen Gasliefervertrags, den sie 2009 mit Russland unterzeichnet hatte, inhaftiert wurde, sank ihr politischer Stern zwar, beendete ihre Karriere jedoch nicht. Noch aus dem Gefängnis heraus kritisierte sie die Regierung von Janukowytsch und suchte gleichzeitig die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft. Die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und auch Russland sahen ihre Haft als politisch motiviert an und forderten ihre Freilassung.
Die Zeit im Gefängnis machte sie zum international bekanntesten Opfer des autoritären Regimes von Janukowytsch, aber das half ihr nicht im Inland. Obwohl ihre Unterstützer sie im Gefängnis besuchten und Proteste für sie organisierten, sank ihre Beliebtheit dramatisch. Während in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2010 noch 25% der Bevölkerung für sie votierten, erreichte sie nach ihrer Freilassung im Zuge des Euromajdans 2014 nur noch 6%. Die Mehrheit von Tymoschenkos Wählern wanderte zu den politischen Anführern des Majdans, Arsenij Jazenjuk und Petro Poroschenko.
Aktuelle Umfragen sehen sie in Führung
Aber ihre politischen Fähigkeiten und ihre Ressourcen – sie hat in den 1990ern ein großes Vermögen im Gasgeschäft angehäuft – halfen ihr dabei, sich wieder aufzurappeln. Laut den jüngsten Umfragen würden 22,8% der Ukrainer, die sich bereits ihrer Stimmenabgabe sicher sind, in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 2019 für Tymoschenko stimmen. Dies ist ein Vorsprung von 7% gegenüber ihrem nächsten Konkurrenten, dem ehemaligen Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko von der Partei Bürgerliche Position (Hromadjanska Posyzija). Der amtierende Präsident Poroschenko liegt aktuell mit 10,5% nur auf Platz 5. Tymoschenko hat wieder ein Auge auf die Präsidentschaft geworfen und ihre Chancen zu gewinnen stehen derzeit gut. Allerdings sind mindestens 29% der Menschen im Land noch unentschlossen, wen sie wählen würden, so dass es noch zu großen Schwankungen kommen kann.
Vorreiterin des Populismus
Eine talentierte und charismatische Sprecherin, hat Julia Tymoschenko (viele in der Ukraine nennen sie schlicht bei ihrem Vornamen Julia) vor allem Anhänger mittleren und älteren Alters sowie Menschen mit eher niedrigen Einkommen. Viele Ukrainer sind durch die militärische Aggression Russlands, den Handelskrieg mit dem einst wichtigsten Partner und der Wirtschaftskrise in Not geraten. Die Strukturreformen des Landes seit 2014 sind schmerzhaft für viele „einfache“ Bürger, weshalb Tymoschenkos sozialpolitischen Parolen einen leichten Weg in die Herzen ärmerer Wähler finden. Tymoschenkos Lieblingsthemen – Erhöhung der Mindestlöhne und Sozialausgaben – richten sich an die schwächsten Schichten in der Bevölkerung.
In anderen Bereichen kritisiert Tymoschenko zwar die aktuelle Regierung und die schleppenden Reformfortschritte, bietet aber zugleich keine klaren Alternativen an. Zum Beispiel kritisierte sie Kyjiws Ansatz zur Lösung des Donbas-Konflikts und fordert eine alternative Politik. Gefragt nach ihrer eigenen Position und konkreten Lösungsansätzen blieb sie jedoch vage und schweifte schnell in die Geschichte ab.
Ihre Parlamentsfraktion enthielt sich der vom IWF empfohlenen Rentenreform, die im letzten Oktober verabschiedet wurde. Tymoschenko kritisierte diese als „zynische Hintergehung der Ukrainer“. Ihr Argument, dass die Mindestrente 3.000 Hrywnja (100 Euro) betragen sollte, richtet sich an ihre ältere Wählerschaft, die nur wenig Interesse an der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung oder den Empfehlungen internationaler Geldgeber hat. „Sind diese 1.000 Hrywnja (die aktuelle Mindestrente beträgt 1.312 Hrywnja, umgerechnet 42 Euro) ein angemessenes „Dankeschön“ für diejenigen, die uns Land aufgebaut haben?“ klagte Tymoschenko.
Gewagtes Wahlprogramm mit populistischen Versprechen
Am 15. Juni stellte Tymoschenko ihr Wahlprogramm unter dem Titel „Der neue Kurs der Ukraine“ vor. Das Programm enthält viele gewagte Punkte, die eine politische Transformation des Landes vorhersehen. Darunter ist zum Beispiel die Abschaffung des Präsidentenamtes, was die Umwandlung des Staates in eine parlamentarische Republik ermöglichen soll.
Um solche Veränderungen einleiten zu können, versprach Tymoschenko ein landesweites Referendum im Anschluss an die Wahlen. „Wenn ich die Präsidentschaftswahl gewinne, werde ich umgehend ein Referendum abhalten, das eine neue Verfassung vorsieht – einen echten Gesellschaftsvertrag, der die Entmonopolisierung der Macht bedeutet (…), ausgewogen ist und von der Gesellschaft kontrolliert wird.“
Für Populisten typisch, enthalten Tymoschenkos Äußerungen häufig Falschinformationen, Manipulationen und Übertreibungen. Einer Studie von Vox:Ukraine zufolge entsprechen nur 17% ihrer Aussagen der Wahrheit, während 27% reine Unwahrheiten enthalten. „Es ist schwer, Tymoschenko direkt beim Lügen zu erwischen“ heißt es in der Studie. „Sie ist in vielen Themenbereichen kompetent und kennt sich gut mit Zahlen aus. Aber sie benutzt diese stets zu ihrem eigenen Vorteil, manipuliert sie und erzählt nur die halbe Wahrheit.“
Aus Fehlern gelernt
Tymoschenko hat aus ihren früheren Fehlern gelernt. Sie vermeidet Kontroversen und scheut Aussagen jenseits von einfachen Statements. Sie ist sehr darum bemüht, sich vom Skandal um den Gasvertrag mit Russland von 2011 zu distanzieren, als sie Gaspreisen zustimmte, die höher waren als in vielen Ländern der Europäischen Union.
Auch hat sie ihre Aktivitäten im Ausland intensiviert. Auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz nahm sie an Treffen teil, zu denen ansonsten nur höchste politische Vertreter der USA eingeladen waren und europäische Politiker standen Schlange, um mit ihr zu sprechen. Sie hat westliche PR-Spezialisten engagiert – darunter Barry Bennett, einen früheren Wahlkampfberater von US-Präsident Donald Trump – um politische Beziehungen zu Mitgliedern der US-Administration und dem US-Kongress aufzubauen.
Dank ihrer einzigartigen Kombination aus Charisma, Intelligenz, Chuzpe sowie ihrem populistischen Geschick führt sie derzeit das Rennen um das Präsidentenamt an. Sollte sie jedoch tatsächlich gewinnen, wird ihre Rhetorik allein sie kaum retten. Von ihr wird erwartet werden, dass sie der militärischen Aggression standhält, zügig den Lebensstandard anhebt, strukturelle Reformen vorantreibt und gute Beziehungen zur internationalen Gemeinschaft pflegt.
Vom Wort zur Tat ist es jedoch ein weiter Weg und es wird eine völlig andere Aufgabe für Julia Tymoschenko sein, die ernsthaften wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Herausforderungen der Ukraine zu lösen.
Dieser Text ist eine aktualisierte Version eines Artikels, der zuerst auf Ukraine World erschienen ist. Aus dem Englischen von Eduard Klein.
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