Bandera in Berlin. Kulturpolitische Desorientierung, postsowjetischer Negationismus und staatliche Förderung
Im Rahmen der Reihe „Mythen der Wirklichkeit“ führte das Gorki Theater in Berlin, finanziell vom Senat der Stadt unterstützt, das Stück „Bandera“ auf. Dies zeigt einmal mehr die Notwendigkeit, sich endlich mit der Geschichte und den Taten des Ukrainers Stepan Bandera auseinanderzusetzen, der unter anderem aktiv an der Vorbereitung der Pogrome 1941 beteiligt war, kommentiert unser Autor Grzegorz Rossoliński-Liebe.
Komödien oder Theaterstücke, die Adolf Hitler und den Nationalsozialismus verspotten, sind nichts Neues. Sie erfüllen eine durchaus wichtige gesellschaftliche Aufgabe, indem sie sowohl die Absurdität als auch die verführerische Kraft des Faschismus vergegenwärtigen. In der Regel erinnern sie uns daran, wie unkompliziert es war, eine bestimmte Personengruppe zu entmenschlichen und die Schwelle zum Völkermord zu überschreiten. Die HipHopera „Bandera. Mythen der Wirklichkeit“ lässt sich jedoch in diese Reihe von Aufführungen nicht einordnen. Mit der Idee „Held oder Monster“ verdeutlicht sie die kultur- und geschichtspolitische Desorientierung in der Ukraine, in der der Führer der radikalen Fraktion der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) von bestimmten politischen Gruppen verehrt und anderen dämonisiert wird. Diesem Gedanken liegt die unaufgearbeitete Geschichte des Holocaust, Antisemitismus und Faschismus zugrunde bzw. die Ignorierung geschichtswissenschaftlicher Publikationen über Stepan Bandera.
In der ukrainischen Gesellschaft besteht wenig Interesse daran, sich mit der Person Bandera und seinen Taten auseinanderzusetzen
Die Nichtrezeption der Geschichte Stepan Banderas, der OUN oder ihrer Faschisierung und Beteiligung am Judenmord und anderen Massakern ist nicht neu. Historiker, die dieses Thema erforschen, wissen, dass die Rezeption dieser Geschichte in der Ukraine als eine politische Gefahr verstanden wird und in der Regel als „Putins antiukrainische Propaganda“ abgewendet wird. Was an der HipHopera „Bandera. Mythen der Wirklichkeit“ jedoch neu und beachtenswert ist, ist die Tatsache, dass sie in Berlin aufgeführt wurde und durch den Berliner Senat unterstützt wurde. Darüber, dass deutsche Lokalpolitiker wenig über die ukrainische Geschichte wissen, sollte man sich nicht wundern, weil die deutsche Gesellschaft insgesamt wenig von der komplizierten Geschichte dieses Landes versteht. Angesichts der globalen Wende nach rechts sollte man sich ebenso wenig darüber wundern, dass der Antisemitismus in Deutschland auch unter Beamten, Angestellten und Lokalpolitikern zunimmt. Worüber man sich bei der Aufführung der HipHopera jedoch wundern sollte, ist, wie sich der Bandera-Kult auch außerhalb der Ukraine verbreitet.
Während die Verehrung von Adolf Hitler sich in Deutschland grundsätzlich in neofaschistischen Gruppierungen und rechtsradikalen Parteien ereignet, so wird Bandera in der Westukraine von allen gesellschaftlichen Gruppen einschließlich Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren als Held und Freiheitskämpfer verstanden. Aufgrund der kultpolitischen Spaltung des Landes und des Krieges mit Russland, haben ukrainische Intellektuelle, die ukrainische Gesellschaft und der ukrainische Saat kein Interesse daran, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wer Bandera war, um was für eine Ukraine er kämpfte, wie er politisch einzuordnen ist oder was er tatsächlich dachte und wie er handelte. Banderas Vita wird in der Ukraine in heroischen Denkmälern oder kurzen Hagiographien ausgedrückt, die von Gegnern beschädigt oder verbrannt werden. Diesen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen liegen verfeindete Weltbilder zugrunde, die auf unterschiedlichen historischen Erfahrungen beruhen.
Bandera sollte als Führer eines von Polen, Juden und Russen gesäuberten ukrainischen Staates eingesetzt werden
Angesichts der geschichtspolitischen Verwirrung in der Ukraine und der globalen Verbreitung des Bandera-Kultes erscheint es mir notwendig, seine Vita und seine politischen Pläne kurz aufzurufen. Bandera wurde 1909 in der Familie eines griechisch-katholischen Priesters im Dorf Staryi Uhryniv bei Kalusch geboren, die damals in der Habsburgermonarchie lagen. Er wuchs unter Ukrainern, Juden und Polen auf und musste als ein knapp zehnjähriger Junge zusehen, wie die Versuche, einen ukrainischen Staat zu errichten, scheiterten. Der aufsteigende und sich vor allem nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierende ukrainische Nationalismus fasste Juden, Polen und die vor allem in der Ostukraine lebenden Russen nicht als Bürger eines zukünftigen ukrainischen Staates auf, den Bandera und andere Personen seiner Generation aufbauen wollten. Als Mitglied der Ukrainischen Militärischen Organisation und als Führer der Landesexekutive der OUN trug er zur Radikalisierung des ukrainischen Nationalismus aktiv bei. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Faschisierung der OUN bzw. eine durchaus innovative Erfindung des ukrainischen Faschismus.
Nachdem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte und Bandera aus dem Gefängnis geflohen war, bereitete er mit seiner Fraktion der OUN die „Ukrainische Nationale Revolution“ in Krakau vor. Dieser Plan sah vor, nach dem Angriff des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Sowjetunion, der sich am 22. Juni 1941 ereignete, einen ukrainisch-faschistischen Staat mit Bandera als Führer zu errichten und sein Gebiet von Juden, Polen und Russen zu säubern. Tatsächlich gelang es Banderas Vertrauten Jaroslaw Stetzko, den Staat in Lemberg am 30. Juni zu proklamieren, worüber er Benito Mussolini, Adolf Hitler, Francisco Franco und Ante Pavelić in Briefen informierte und sie um die Aufnahme in das „Neue Europa“ bat. Da Hitler jedoch andere geschichtspolitische Pläne mit der Ukraine hatte, wurde der Staat nicht anerkannt. Bandera und Stetzko wurden verhaftet und als politische Sonderhäftlinge in Sachsenhausen zusammen mit Horia Sima, dem Führer der Eisernen Garde, und anderen „unbequemen“ Häftlingen bis Herbst 1944 gefangen gehalten.
Seine Unterstützer und Bandera persönlich waren aktiv an Massengewalt und Massenmorden beteiligt
Banderas diplomatisch-politische Karriere eines misslungenen faschistischen Führers hing eng mit der Anwendung der Massengewalt zusammen, für die er bereits in den 1930er Jahren plädierte. 1936 drückte er aus, was zu dieser Zeit wohl alle Mitglieder der OUN dachten. Bei dem Gerichtsprozess in Lemberg sagte er am 26. Juni 1936: „unsere Idee ist nach unserem Verständnis so groß, dass, wenn es zu ihrer Umsetzung kommt, nicht Hunderte, sondern Millionen Opfer hervorgebracht werden müssen“. Bei der Vorbereitung der „Ukrainischen Nationalen Revolution“ spielte die Massengewalt eine zentrale Rolle und wurde bei den Pogromen im Sommer 1941 teilweise umgesetzt. Nach seiner Verhaftung schlossen sich seine Anhänger der ukrainischen Polizei an und halfen den deutschen Besatzern, 800 000 Juden in Ostgalizien und Wolhynien zu ermorden. Als der Judenmord in der Westukraine im Frühling 1943 größtenteils abgeschlossen war, desertierten etwa 5 000 Polizisten und schlossen sich der Ukrainischen Aufständischen Armee an, die von der OUN aufgestellt worden war und 1943–1944 zwischen 70,000 und 100,000 Polen in der Westukraine ermordete. Selbst wenn Bandera einen Teil dieser Verbrechen nicht koordinierte oder über das Vorgehen seiner Organisation nicht genau informiert war, ist er für sie moralisch verantwortlich. Für andere Verbrechen wie die Pogrome im Sommer 1941 trägt er eine direkte Verantwortung, weil er an ihrer Vorbereitung und Umsetzung beteiligt war.
Die gegenwärtige Darstellung Banderas als einen „Mythos“ oder „Held und Monster“ widerspiegelt die geschichtspolitische Desorientierung in der Ukraine. Sie hat mit der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung seines Lebens nichts zu tun. Während die Verklärung Hitlers, Mussolinis oder Pavelićs zurecht zum Entsetzen zumindest eines Teils der Bevölkerung führt und Gegenstimmen stark machen lässt, so gilt Bandera in der Ukraine und Deutschland, als eine Person, von der man nichts weiß, weil sie ein „Mythos“ ist. Diese Auffassung ist nicht nur politisch, sondern ihr liegt auch die Verdrängung der Geschichte des Holocaust, Faschismus, Antisemitismus und der Massengewalt zugrunde.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der Redaktion von Ukraine verstehen bzw. dem Zentrum Liberale Moderne.
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