Bandera und die Aufarbeitung der ukrainischen Geschichte
Gerhard Simons Stellungnahme zu Stepan Bandera ist apologetisch. Er ignoriert dessen Biografie und die Geschichte des Faschismus, Antisemitismus und Holocaust in der Ukraine, findet unser Autor Grzegorz Rossoliński-Liebe.
Gerhard Simon weist zurecht in seinem Beitrag darauf hin, dass Stepan Bandera zu einer Symbolfigur des ukrainischen Nationalismus wurde. Leider entgeht ihm, dass es sich bei Stepan Bandera um eine Person handelt, die innerhalb der OUN eine wichtige Rolle spielte und dass eine kritische, geschichtswissenschaftliche Erforschung seiner Biografie und des langjährigen Kultes um ihn von zentraler Bedeutung für das Verständnis der ukrainischen Geschichte und Gegenwart sind.
Die Behauptung, dass Stepan Bandera ein „überanstrengter Mythos“ sei, greift zu kurz.
Jeder, der sich für die Ukraine interessiert, wird darauf stoßen, dass Bandera in der Ukraine stark präsent ist und dass ein Teil der ukrainischen Gesellschaft ihn für einen Nationalhelden und ein anderer für einen Antihelden hält. Die Behauptung, dass Banderas Vita jedoch Ansätze für beide Interpretation zulässt, ist falsch und basiert auf der Unkenntnis seiner Biographie und der Geschichte des Faschismus, Antisemitismus und Holocaust.
Die Erforschung der Biografie einer Person bedarf sehr genauer und ausführlicher Arbeit
Eine wissenschaftliche Erforschung der Biografie einer Person geht niemals von der Annahme aus, dass eine Person ein „Held“ oder „Monster“ war. Solche von gegenwärtigen politischen Diskursen geleitete Annahmen sind irreführend. Die Erforschung der Biographie eines Politikers bedarf in erster Linie der Untersuchung aller Dokumente, die für sein politisches Wirken und privates Leben relevant sind. Das bedeutet eine langjährige, akribische Archivarbeit, die zu Ergebnissen führen kann, welche den gegenwärtigen Diskursen und dem gegenwärtigen Verständnis der Person keineswegs entsprechen müssen. Dieses Wissen wird Studenten der Geschichtswissenschaft bereits am Anfang des Studiums vermittelt und es ist bedauerlich, dass es an dieser Stelle wiederholt werden muss.
Im Falle von Stepan Bandera ist es so, dass der Faschismus, der Holocaust und die Massengewalt eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten und dass sich seine Biografie ohne sie nicht verstehen, erforschen und schreiben lässt. Bandera bereitete mit seiner Fraktion der OUN 1940 und 1941 einen Plan vor, nach dem er der Führer eines ukrainisch-faschistischen Staates werden sollte. Dieser Staat sollte von Juden, Polen, Russen und politischen Feinden gesäubert werden. Personen, die solche Pläne vorbereiten und sie zu realisieren versuchen, sind keineswegs das, was heutzutage in politischen und teilweise auch in geschichtswissenschaftlichen Diskursen über Bandera behauptet wird. Wenn man ukrainischen und deutschen Historikerinnen und Historikern zuhört, könnte man glauben, dass Bandera ein antisowjetischer Freiheitskämpfer oder Dissident war, der von Idealen der Demokratie getragen wurde.
Selbstverständlich kann man eine Person, die Führer eines ethnisch homogenen Staates werden wollte und ein Antisemit und Rassist war, für einen Helden oder auch für ein Monster halten. Eine Aufarbeitung der Biografie dieser Person übernimmt diese Sichtweisen jedoch nicht. Sie kann nur erklären, warum bestimmte Personen solche Ideen vertreten.
Die geschichtswissenschaftliche Biografie einer Person, die für die Anwendung von Massengewalt plädierte und sie auf verschiedene Art und Weise vorantrieb, sollte nicht die Geschichte des Holocaust und der Massengewalt normalisieren oder sie als nur einen kleinen Aspekt unter vielen anderen darstellen, wie sich das heute leider aus politischen Gründen (Nationalisierung der Ukraine, Krieg gegen Russland) viele Menschen wünschen und dafür direkt und indirekt plädieren. Dass ich Gerhard Simon, dem der Verlauf der Debatte zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer wie auch der Prozess der Aufarbeitung des Judenmordes in Deutschland bekannt sein müssten, daran erinnern muss, ist bedauerlich. Fatalerweise führte die deutsch-zentrierte Erforschung des Judenmordes in der Westukraine und die Vernachlässigung der transnationalen Faschismusforschung in Osteuropa dazu, dass heute zumindest ein Teil der deutschen Historikerinnen und Historiker bestimmte Aspekte der Vergangenheit nicht wahrnehmen können.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft wichtig.
Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist für das Funktionieren einer demokratischen Gesellschaft wichtig. Sie wird in der Ukraine an der Auseinandersetzung mit der Biografie Stepan Banderas nicht vorbeigehen und sie wird nicht funktionieren, wenn der Judenmord weiter deutsch-zentriert erforscht wird und die Verbrechen, welche ukrainische Nationalisten und andere nichtdeutsche Täter begingen, den deutschen Besatzern zugeschrieben oder ihre Erforschung im Allgemeinen ignoriert wird.
Ob es ukrainischen und deutschen Historikerinnen und Historikern gefällt oder nicht, hatten ukrainische Nationalisten während der deutschen Besatzung eine agency. Ihre Einstellung zu Juden deckte sich weitestgehend mit den Zielen der Besatzer.
Wenn man Bandera zu einem „überanstrengten Mythos“ erklärt, muss man die wissenschaftliche Variante seiner Biografie nicht rezipieren und sich nicht damit auseinandersetzen, in welchem Ausmaß er direkt, indirekt, politisch oder moralisch für die durch ukrainische Nationalisten begangenen Morde verantwortlich war. Dabei handelt es sich nicht nur um Pogrome im Sommer 1941 und um die ethnischen Säuberungen 1943–1944, sondern auch um die Ermordung von 800 000 Juden in der Westukraine durch die deutschen Besatzer in Kollaboration mit der ukrainischen Polizei und Verwaltung, in der sich ukrainische Nationalisten, die sich mit Bandera identifizierten, befanden und ihre eignen politischen Ziele realisierten.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der Redaktion von Ukraine verstehen bzw. dem Zentrum Liberale Moderne.
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