Bandera und die Auf­ar­bei­tung der ukrai­ni­schen Geschichte

Bandera Monu­ment in Lwiw © Ana­sta­sia Petrova /​ Shut­ter­stock

Gerhard Simons Stel­lung­nahme zu Stepan Bandera ist apo­lo­ge­tisch. Er igno­riert dessen Bio­gra­fie und die Geschichte des Faschis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Holo­caust in der Ukraine, findet unser Autor Grze­gorz Rossoliński-Liebe.

Gerhard Simon weist zurecht in seinem Beitrag darauf hin, dass Stepan Bandera zu einer Sym­bol­fi­gur des ukrai­ni­schen Natio­na­lis­mus wurde. Leider entgeht ihm, dass es sich bei Stepan Bandera um eine Person handelt, die inner­halb der OUN eine wich­tige Rolle spielte und dass eine kri­ti­sche, geschichts­wis­sen­schaft­li­che Erfor­schung seiner Bio­gra­fie und des lang­jäh­ri­gen Kultes um ihn von zen­tra­ler Bedeu­tung für das Ver­ständ­nis der ukrai­ni­schen Geschichte und Gegen­wart sind.

Die Behaup­tung, dass Stepan Bandera ein „über­an­streng­ter Mythos“ sei, greift zu kurz. 

Jeder, der sich für die Ukraine inter­es­siert, wird darauf stoßen, dass Bandera in der Ukraine stark präsent ist und dass ein Teil der ukrai­ni­schen Gesell­schaft ihn für einen Natio­nal­hel­den und ein anderer für einen Anti­hel­den hält. Die Behaup­tung, dass Ban­de­ras Vita jedoch Ansätze für beide Inter­pre­ta­tion zulässt, ist falsch und basiert auf der Unkennt­nis seiner Bio­gra­phie und der Geschichte des Faschis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Holocaust.

Die Erfor­schung der Bio­gra­fie einer Person bedarf sehr genauer und aus­führ­li­cher Arbeit

Eine wis­sen­schaft­li­che Erfor­schung der Bio­gra­fie einer Person geht niemals von der Annahme aus, dass eine Person ein „Held“ oder „Monster“ war. Solche von gegen­wär­ti­gen poli­ti­schen Dis­kur­sen gelei­tete Annah­men sind irre­füh­rend. Die Erfor­schung der Bio­gra­phie eines Poli­ti­kers bedarf in erster Linie der Unter­su­chung aller Doku­mente, die für sein poli­ti­sches Wirken und pri­va­tes Leben rele­vant sind. Das bedeu­tet eine lang­jäh­rige, akri­bi­sche Archiv­ar­beit, die zu Ergeb­nis­sen führen kann, welche den gegen­wär­ti­gen Dis­kur­sen und dem gegen­wär­ti­gen Ver­ständ­nis der Person kei­nes­wegs ent­spre­chen müssen. Dieses Wissen wird Stu­den­ten der Geschichts­wis­sen­schaft bereits am Anfang des Stu­di­ums ver­mit­telt und es ist bedau­er­lich, dass es an dieser Stelle wie­der­holt werden muss.

Im Falle von Stepan Bandera ist es so, dass der Faschis­mus, der Holo­caust und die Mas­sen­ge­walt eine wich­tige Rolle in seinem Leben spiel­ten und dass sich seine Bio­gra­fie ohne sie nicht ver­ste­hen, erfor­schen und schrei­ben lässt. Bandera berei­tete mit seiner Frak­tion der OUN 1940 und 1941 einen Plan vor, nach dem er der Führer eines ukrai­nisch-faschis­ti­schen Staates werden sollte. Dieser Staat sollte von Juden, Polen, Russen und poli­ti­schen Feinden gesäu­bert werden. Per­so­nen, die solche Pläne vor­be­rei­ten und sie zu rea­li­sie­ren ver­su­chen, sind kei­nes­wegs das, was heut­zu­tage in poli­ti­schen und teil­weise auch in geschichts­wis­sen­schaft­li­chen Dis­kur­sen über Bandera behaup­tet wird. Wenn man ukrai­ni­schen und deut­schen His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­kern zuhört, könnte man glauben, dass Bandera ein anti­so­wje­ti­scher Frei­heits­kämp­fer oder Dis­si­dent war, der von Idealen der Demo­kra­tie getra­gen wurde.

Selbst­ver­ständ­lich kann man eine Person, die Führer eines eth­nisch homo­ge­nen Staates werden wollte und ein Anti­se­mit und Rassist war, für einen Helden oder auch für ein Monster halten. Eine Auf­ar­bei­tung der Bio­gra­fie dieser Person über­nimmt diese Sicht­wei­sen jedoch nicht. Sie kann nur erklä­ren, warum bestimmte Per­so­nen solche Ideen vertreten. 

Die geschichts­wis­sen­schaft­li­che Bio­gra­fie einer Person, die für die Anwen­dung von Mas­sen­ge­walt plä­dierte und sie auf ver­schie­dene Art und Weise vor­an­trieb, sollte nicht die Geschichte des Holo­caust und der Mas­sen­ge­walt nor­ma­li­sie­ren oder sie als nur einen kleinen Aspekt unter vielen anderen dar­stel­len, wie sich das heute leider aus poli­ti­schen Gründen (Natio­na­li­sie­rung der Ukraine, Krieg gegen Russ­land) viele Men­schen wün­schen und dafür direkt und indi­rekt plä­die­ren. Dass ich Gerhard Simon, dem der Verlauf der Debatte zwi­schen Martin Broszat und Saul Fried­län­der wie auch der Prozess der Auf­ar­bei­tung des Juden­mor­des in Deutsch­land bekannt sein müssten, daran erin­nern muss, ist bedau­er­lich. Fata­ler­weise führte die deutsch-zen­trierte Erfor­schung des Juden­mor­des in der West­ukraine und die Ver­nach­läs­si­gung der trans­na­tio­na­len Faschis­mus­for­schung in Ost­eu­ropa dazu, dass heute zumin­dest ein Teil der deut­schen His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­ker bestimmte Aspekte der Ver­gan­gen­heit nicht wahr­neh­men können.

Die Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit ist für das Funk­tio­nie­ren einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft wichtig. 

Die Auf­ar­bei­tung der Ver­gan­gen­heit ist für das Funk­tio­nie­ren einer demo­kra­ti­schen Gesell­schaft wichtig. Sie wird in der Ukraine an der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Bio­gra­fie Stepan Ban­de­ras nicht vor­bei­ge­hen und sie wird nicht funk­tio­nie­ren, wenn der Juden­mord weiter deutsch-zen­triert erforscht wird und die Ver­bre­chen, welche ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten und andere nicht­deut­sche Täter begin­gen, den deut­schen Besat­zern zuge­schrie­ben oder ihre Erfor­schung im All­ge­mei­nen igno­riert wird.

Ob es ukrai­ni­schen und deut­schen His­to­ri­ke­rin­nen und His­to­ri­kern gefällt oder nicht, hatten ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten während der deut­schen Besat­zung eine agency. Ihre Ein­stel­lung zu Juden deckte sich wei­test­ge­hend mit den Zielen der Besatzer. 

Wenn man Bandera zu einem „über­an­streng­ten Mythos“ erklärt, muss man die wis­sen­schaft­li­che Vari­ante seiner Bio­gra­fie nicht rezi­pie­ren und sich nicht damit aus­ein­an­der­set­zen, in welchem Ausmaß er direkt, indi­rekt, poli­tisch oder mora­lisch für die durch ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten began­ge­nen Morde ver­ant­wort­lich war. Dabei handelt es sich nicht nur um Pogrome im Sommer 1941 und um die eth­ni­schen Säu­be­run­gen 1943–1944, sondern auch um die Ermor­dung von 800 000 Juden in der West­ukraine durch die deut­schen Besat­zer in Kol­la­bo­ra­tion mit der ukrai­ni­schen Polizei und Ver­wal­tung, in der sich ukrai­ni­sche Natio­na­lis­ten, die sich mit Bandera iden­ti­fi­zier­ten, befan­den und ihre eignen poli­ti­schen Ziele realisierten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder und reprä­sen­tiert nicht not­wen­di­ger­weise die Posi­tion der Redak­tion von Ukraine ver­ste­hen bzw. dem Zentrum Libe­rale Moderne.

Textende

Portrait von Grzegorz Rossoliński-Liebe

Grze­gorz Rosso­liń­ski-Liebe arbei­tet als His­to­ri­ker an der Freien Uni­ver­si­tät Berlin. Er ver­öf­fent­lichte die erste wis­sen­schaft­li­che Bio­gra­phie von Stepan Bandera.

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