Chinas Expansion in der Ukraine: Eine Bilanz
Immer wieder wird vor einem wachsenden Einfluss Chinas in Osteuropa gewarnt. Im Fall der Ukraine gibt es aber einige Besonderheiten. Pekings bisherige Versuche, wirtschaftlich Fuß zu fassen, waren bisher nicht sonderlich erfolgreich. Warum das so ist, erklärt Iuliia Osmolovska.
Im Februar 2019 war ein wesentlicher Teil des „Munich Security Reports“ der Münchner Sicherheitskonferenz der Analyse der chinesischen Wirtschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa sowie in den Ländern des Westlichen Balkans gewidmet. Der Bericht verweist unter anderem auf die alarmierende Tendenz einer zunehmenden Abhängigkeit der Westbalkanländer von chinesischen Staatskrediten und der daraus resultierenden Verschuldung. Darin wird das Problem als „Schuldenfallen-Diplomatie“ definiert; es wird vor dem Effekt gewarnt, wirtschaftliche Einflusshebel für politische Zwecke zu nutzen; ferner ist – in Hinsicht auf die Anforderungen an Transparenz und Wirtschaftlichkeit der EU – von intransparenten Bedingungen die Rede, zu denen solche Kredite gewährt werden. Seitdem ist eine Reihe von Studien erschienen, die diese zweideutigen wirtschaftlichen Auswirkungen der wachsenden Präsenz Chinas in Europa bestätigen.
Lesen Sie mehr über das Schicksal zahlreicher chinesischer Investitionsprojekte in der Ukraine:
Bereits im Februar 2021 kündigte Litauen offiziell seinen Rückzug aus dem Kooperationsformat 16+1 (einer chinesischen Initiative für wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern Mittel- und Osteuropas) an und begründete das damit, dass diese regionale Initiative die Einheit der EU zerstöre und keine nennenswerten wirtschaftlichen Effekte gezeitigt habe.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Ukraine sich schrittweise in den Europäischen Wirtschaftsraum integriert und das Assoziierungsabkommen derzeit als Rechtsgrundlage für die Beziehungen zwischen der Ukraine und der EU (einschließlich der gegenseitigen Öffnung der Märkte im Rahmen der Freihandelszone) fungiert, lohnt sich ein Blick darauf, inwieweit die zwischen den EU-Staaten und anderen europäischen Ländern sowie China ablaufenden Prozesse mit den Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit in Einklang stehen, die die Ukraine mit der Volksrepublik China unterhält.
І. Strategische Zusammenarbeit der Ukraine mit China – das sagt die Politik
Im Sommer 2021 warfen Vertreter des Teams von Präsident Wolodymyr Selenskyj in zahlreichen öffentlichen Stellungnahmen die Frage einer möglichen Veränderung der geopolitischen Ausrichtung der Ukraine von West nach Ost auf. So beteuerte etwa der Sprecher der ukrainischen Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe, Oleksiy Arestowytsch, im Fernsehsender „Dim“ am 17. Juli: „Falls der Westen sich auf Kosten ukrainischer Interessen mit Russland anfreunden will …, dann wenden wir uns dem Osten zu.“ Zuvor erklärte der Fraktionschef der Selenskyj-Partei „Diener des Volkes“, David Arachamija, in einem Interview mit chinesischen Medien am 7. Juli 2021, dass die Ukraine beabsichtige, die Erfahrungen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) in punkto Wirtschaftsmanagement und Staatsaufbau nachzuahmen.
Dies veranlasste eine Reihe von Experten und Journalisten dazu, solche Äußerungen angesichts der fehlenden EU- und NATO-Beitrittsperspektive für die Ukraine als „vorsichtiges Vorfühlen“ aus Selenskyjs Umfeld für eine potenzielle strategische Annäherung an China zu interpretieren. Der Sensationsgehalt solcher Überlegungen verpuffte jedoch schnell, da die offizielle Reaktion des ukrainischen Außenministeriums die Unumkehrbarkeit des euroatlantischen Kurses bekräftigte, der in der ukrainischen Verfassung verankert ist. In einer Erklärung während des Forums „Re:Open Zakarpattia“ am 5. November 2021 stellte Außenminister Dmytro Kuleba unmissverständlich klar: „Die Ukraine wird seine Beziehungen zu China als Teil der westlichen Welt aufbauen. Als westlicher Staat, basierend auf westlichen Werten und Prinzipien. Das ist fundamental. Natürlich werden wir sehr aktiv Handel mit China treiben, wir werden chinesische Investitionen ermöglichen. Aber was Sicherheit angeht, in dieser Frage stehen wir in erster Linie an der Seite unserer westlichen Verbündeten. Bei Investitionen in sensible Militärtechnologie werden wir uns bemühen, Möglichkeiten für unsere westlichen Partner zu schaffen und für Länder, die gewissermaßen nicht in einem erbitterten Antagonismus zu unseren westlichen Partnern stehen.“
Tatsächlich verrät Kulebas Antwort die grundlegende Haltung der Ukraine bei der Zusammenarbeit mit China in den kommenden Jahren: Kyjiw sieht sich als Teil der westlichen Zivilisation und will für Investitionen in den Bereichen Sicherheit und Militärtechnologie prowestlichen Ländern Priorität einräumen, während mit China die wirtschaftliche Zusammenarbeit vertieft wird.
Diese pragmatischen Beziehungen beziehen sich gemäß der Außenpolitischen Strategie (Dekret des Präsidenten der Ukraine Nr. 448/2021 vom 26.08.2021) auf Bereiche wie Infrastruktur, Energie, Verkehr und Industrieproduktion. Gleichzeitig strebt Kyjiw mit den asiatischen Ländern mittelfristig eine „breitere Unterstützung … bei der Bekämpfung der Aggression der Russischen Föderation sowie die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine innerhalb ihrer staatlich anerkannten Grenzen“ an. Daran lassen sich – angesichts Pekings ziemlich zurückhaltenden Haltung gegenüber der russischen Aggression in der Ukraine – gewisse Einschränkungen für den politisch-strategischen Dialog mit China erkennen. Die chinesische politische Führung hält an der Formulierung fest, wonach es wünschenswert sei, „den Konflikt zwischen der Ukraine und der Russischen Föderation durch diplomatisch-politische Bemühungen zu lösen.“ Pekings Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen in den Resolutionen zur russischen Aggression in der Ukraine zeigt, dass China eine direkte Unterstützung der Ukraine meidet, indem es sich seiner Stimme enthält (wie im Fall der Resolution 68/262 der UN-Generalversammlung zur territorialen Integrität der Ukraine am 27.03.2014) oder dagegen stimmt (etwa bei der Resolution der UN-Generalversammlung zur Militarisierung der Krim am 07.12.2020). Offiziell erklärt Peking seine Position damit, dass man keinen Beitrag zu einer Verschärfung der Konfrontation leisten wolle.
Die ukrainische Führung ist bemüht, bestimmte Elemente strategischer Konstruktionen in ihren Dialog mit China zu integrieren und bekundet das Interesse ihres Landes, sich an wirtschaftlichen Großprojekten Chinas zu beteiligen, wie etwa der Belt and Road-Initiative (jedoch nur „insoweit, als dies der Umsetzung der europäischen und euroatlantischen Integration der Ukraine nicht entgegensteht“) oder der 16+1‑Initiative. Seit 2018 bringt die Ukraine auch regelmäßig den Abschluss eines bilateralen Freihandelsabkommens mit China ins Spiel. Hier lassen sich jedoch keine nennenswerten Fortschritte beobachten.
Dies zeigt, dass die Position der Ukraine eher deklarativen Charakter hat und nicht so sehr an einer systemisch-strategischen Annäherung an China interessiert ist. Darüber hinaus ist das 2015 verabschiedete „Gesetz über die Verurteilung der kommunistischen und nationalsozialistischen totalitären Regime in der Ukraine und das Verbot der Propaganda mit deren Symbolen“ – trotz Arachamijas lobender Worte an die chinesische kommunistische Partei – eine nicht zu unterschätzende Schutzvorrichtung gegen eine ideologische Annäherung an China.
ІІ. Was Zahlen und Fakten sagen
Wenn schon im Bereich Sicherheitspolitik keine rechte Hochstimmung aufkommen will, so finden sich im Bereich der Handels- und Wirtschaftspartnerschaft deutliche Anzeichen einer gewissen strategischen Abhängigkeit der Ukraine von China.
2019 belegte China im Handel mit der Ukraine mit deutlichem Vorsprung den ersten Platz und ist seitdem führend. Zum heutigen Tag beträgt der China-Handel 10,9 Prozent des ukrainischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) und 15,1 Prozent des gesamten Außenhandelsumsatzes. 2001 betrug der Anteil am BIP noch zwei Prozent. Dabei ist die Ukraine seit 2004 Nettoimporteur mit einer negativen Handelsbilanz gegenüber China. Nach Angaben des ukrainischen Zolls beliefen sich die Importe aus China um Jahr 2020 auf 8,3 Milliarden US-Dollar, die Exporte auf 7,1 Milliarden US-Dollar. Im ersten Halbjahr 2021 stiegen die ukrainischen Exporte nach China um 43 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr und beliefen sich auf 4,28 Milliarden US-Dollar; die Importe aus China stiegen um 25 Prozent auf 4,57 Milliarden US-Dollar. Der Anteil der Ukraine am chinesischen Gesamthandel beträgt jedoch nur 0,6 Prozent.
Gleichzeitig befindet sich die Struktur der Handelsströme zwischen der Ukraine und China in einer Schieflage. Die ukrainischen Exporte nach China kommen zu über 80 Prozent aus vier Rohstoffgruppen – Erze, Schlacken und Aschen; Getreide; Fette und Öle tierischen oder pflanzlichen Ursprungs; Reststoffe und Abfälle aus der Lebensmittelindustrie. Die chinesischen Importe sind stärker diversifiziert und beinhalten Produkte mit hoher Wertschöpfung: Elektrogeräte, Kernreaktoren, Heizkessel, Transportmittel (ausgenommen Schienenfahrzeuge) sowie verschiedene chemische Produkte. Für bestimmte Produktgruppen ist chinesische Produktion für die Ukraine alternativlos – etwa stammen mehr als 90 Prozent der ukrainischen Halbleiterimporte aus China.
Investitionskooperationen
Im Gegensatz zu den hohen Wachstumsraten bei der Handels- und Wirtschaftskooperation zwischen beiden Länden bleibt das Investitionsniveau gering. Obwohl Chinas ausländische Direktinvestitionen (FDI) weltweit gegenwärtig zwei Billionen US-Dollar übersteigen, flossen davon Anfang 2021 lediglich 47 Millionen US-Dollar in die Ukraine, weitere 60 Millionen US-Dollar kamen aus Hongkong, obwohl ein Teil der chinesischen Investitionen dem Center for Economic Strategy in Kyjiw zufolge über Singapur, die Niederlande oder andere Offshore-Finanzplätze in die Ukraine geleitet wurden. Dies macht lediglich 0,3 Prozent der gesamten ausländischen Direktinvestitionen in der Ukraine aus. Von den 150 größten ausländischen Unternehmen in der Ukraine, deren Endbegünstige chinesische Staatsbürger sind, konzentriert sich der Löwenanteil des Kapitals (68 Prozent) sowie der Einnahmen (84 Prozent) auf drei chinesische Staatskonzerne – CNBM, CCEC, sowie COFCO.
Bei der Analyse von Struktur, Segmenten und Volumen der Investitionsprojekte in der Ukraine im Zeitraum von 2011 bis 2021 lässt sich feststellen, dass die Gesamtsumme der erklärten Absichten chinesischer Investitionen mehr als 12 Milliarden US-Dollar erreicht (Quelle: InVenture Investment Deals Database). Dabei fiel ein erheblicher Teil auf das Jahr 2011 (rund sieben Milliarden US-Dollar) und betraf Investitionen in Energie und Verkehr. Die Hälfte der angekündigten Projekte wurde jedoch nicht umgesetzt. Die nächste Welle des chinesischen „Investitionsbooms“ in die ukrainische Wirtschaft erfolgte in den Jahren 2017 bis 2019. Hier belief sich der Auftragswert auf 545, 1.660 beziehungsweise 550 Millionen US-Dollar in den Bereichen Energie, Verkehr und Infrastruktur sowie Landwirtschaft, obwohl einige dieser Verträge gekündigt oder ausgesetzt wurden. Die tatsächlichen Zahlen der realen chinesischen Investitionstätigkeit in der Ukraine nehmen sich mehr als bescheiden aus. Nach Angaben der chinesischen Botschaft in der Ukraine hat das Land in den vergangenen fünf Jahren (Stand: März 2020) lediglich 300 Millionen US-Dollar an chinesischen Direktinvestitionen erhalten.
Ein bedeutender Teil der zwischen der Ukraine und China geschlossenen Investitionsabkommen basiert auf einem Mechanismus zur bevorzugten chinesischen staatlichen Kreditvergabe und Absicherung. Im Vergleich zu anderen ausländischen Investoren hält China den doppelten Anteil an Schuldtiteln innerhalb der Gesamtheit der FDI (56 Prozent aller FDI). Im Zeitraum zwischen 2011 und 2020 wurden zwischen der Ukraine und China Kreditverträge sowie Memoranden dieser Art in Höhe von 24.457 Millionen US-Dollar mit einer durchschnittlichen Laufzeit von 15 Jahren abgeschlossen. Gleichzeitig wurde der Großteil dieser Übereinkommen bereits als problematisch eingestuft und als solche, bei denen die Vertragsparteien versuchen, ihre gegenseitigen Forderungen zu begleichen. Trotz der hohen Nichteinhaltungsquote der Vereinbarungen kommt dieses Instrument weiter zur Anwendung. So haben die Ukraine und China etwa im Juni 2021 ein weiteres zwischenstaatliches Rahmenabkommen zur Investitionskooperation unterzeichnet, welches die Nutzung günstiger Kredite (zwei Prozent mit einer Laufzeit von 15 Jahren) der Staatlichen Export-Import Bank von China (China Exim-Bank) zur Durchführung gemeinsamer Projekte im Bereich des Ausbaus von Infrastruktur vorsieht. Zu den Schwerpunkten der Zusammenarbeit gehören der Schienenverkehr, Flug- und Seehäfen, Verkehrswege sowie der kommunale Tiefbau. Doch wie im Falle ähnlicher Investitions- und Kreditvereinbarungen sollte ihr Inhalt eher als Absichtsprotokoll denn als Fahrplan für die Zusammenarbeit betrachtet werden, da darin keine konkreten Projekte benannt werden.
Dieser relativ hohe Anteil von nicht umgesetzten Investitionsprojekte sollte eingehend untersucht werden. Eine Inhaltsanalyse dieser Vereinbarungen gestaltet jedoch aufgrund von Vertraulichkeitsklauseln (d.h. der Nichtoffenlegung der Vertragsbestimmungen) etwas schwierig. Die Existenz von Vertraulichkeitsklauseln ist übrigens typisch für sämtliche Kreditverträge, die China mit ausländischen Partnern abschließt. Die Ukraine bildet hier keine Ausnahme. In einigen Fällen wird selbst die Höhe der Kreditverpflichtungen nicht offengelegt (wie etwa in der Vereinbarung über den Erwerb von Krankenwägen beim chinesischen Hersteller JAC durch den ukrainischen Hersteller „Politechmed“/„Політехмед“), ganz zu schweigen von den Kreditbedingungen oder dem genauen Anteil der Vermögenswerte bei der China Exim-Bank oder der ДБР (State Bureau of Investigations ist es nicht, oder?). Bestimmte Verträge (etwa zwischen der Staatlichen Lebensmittel- und Getreidegesellschaft der Ukraine und der China Exim-Bank) haben nicht einmal das öffentliche Vergabeverfahren durchlaufen und fielen dementsprechend nicht unter die Anforderungen zur Überwachung der Verwendung von Krediten.
Tatsächlich ist ein solcher Mechanismus nicht einzig in der Ukraine anzutreffen, sondern reproduziert lediglich die üblichen chinesischen Praktiken, die ein Resultat der Anforderungen der chinesischen Investitionspolitik sind. Solche Investitionen werden nicht nur aus wirtschaftlichen Erwägungen getroffen, sondern zielen darauf ab, Zugang zu den Ressourcen des Empfängerlandes zu erhalten oder andere nicht-kommerzielle Ziele zu erreichen. Nach Angaben ukrainischer Teilnehmer an entsprechenden Unterredungen mit Vertretern chinesischer Unternehmen haben letztere offen eingeräumt, dass die chinesische Seite günstige Bedingungen für mögliche Vereinbarungen auch deshalb erteilt, weil sie damit politische Ziele verfolgt – beispielsweise die Förderung der Belt and Road Initiative, eine verstärkte Präsenz in der Ukraine, die Ausweitung der Zusammenarbeit mit dem öffentlichen Sektor/Hand in der Ukraine usw.
Merkmale der Bedingungen der Investitionskooperation – die Ukraine als Sonderfall?
Eine Analyse der Geschichte chinesischer Investitionsprojekte in der Ukraine zeigt, dass China dieselben Ansätze verfolgt, die bei anderen mittel- und osteuropäischen Ländern zugrunde gelegt werden – einschließlich im Rahmen der Belt and Road Initiative: Die Verwendung von Kreditinstrumenten mit niedrigem Zinssatz und staatlicher Garantie; Kostendumping bei der Teilnahme an Ausschreibungen der öffentlichen Hand; vertrauliche Sonderkonditionen; die Existenz signifikanter chinesischer Anteile (d.h. über 50 Prozent) in den Vereinbarungen; ein geringer Mehrwert für die Empfängerländer etc.
In einer Hinsicht unterscheidet sich der ukrainische Fall jedoch von den anderen Ländern in der „16+1“-Initiative – nämlich im relativ geringen Umsetzungsgrad der angekündigten Projekte. Viele der zuvor angekündigten Projekte und Vereinbarungen wurden nicht umgesetzt. Eine Grobanalyse zeigt einen relativ hohen Anteil nicht erfüllter Verträge (ca. 50 Prozent). Zu den Ursachen für diese Sachlage zählen sowohl objektive (die vorläufige Besetzung der Krim) als auch subjektive Gründe (eine bewusste Untertreibung des Vertragswertes und deren nachträgliche Überarbeitung nach Abschluss der Rahmenverträge; unrealistische Umsetzungsfristen etc.). Einige dieser Verträge wurden aufgrund der Nichterfüllung der Verpflichtungen durch die ukrainische Seite nicht umgesetzt – andere durch die Nichterfüllung seitens der chinesischen Partner.
Die meisten Investitionsprojekte werden bereits in der zweiten Phase problematisch, nach der Unterzeichnung der Protokolle oder der Absichtserklärungen, da es bei der Ausformulierung einer konkreten Vereinbarung systemische Unterschiede in den Ansätzen gibt. So muss der Partner zunächst gemäß der gängigen Praxis und den Anforderungen des chinesischen Rechts entsprechend Umsetzungsvereinbarungen mit chinesischen Generalunternehmern treffen – dabei muss mehr als die Hälfte des Auftragswertes durch chinesische Unternehmen bereitgestellt werden; anschließend wird eine Rahmenvereinbarung zur Projektfinanzierung mit einem chinesischen Geldgeber kalkuliert und abschlossen. Die europäische (und ukrainische) Praxis geht den umgekehrten Weg: Zunächst wird ein Rahmenfinanzierungsvertrag abgeschlossen, danach wird ein Generalunternehmer gesucht. Darüber hinaus zeichnet sich die chinesische Seite durch das Bestreben aus, sogenannte „Sonderklauseln“ (zum Beispiel die Nichteinhaltung der Gesetze zum öffentlichen Beschaffungswesen oder die Übertragung von geistigen Eigentumsrechten) zu vereinbaren, die die ukrainische Seite nicht immer zu erfüllen bereit ist.
Gesprächspartner, die an Verhandlungen mit chinesischen Partnern teilgenommen haben, weisen darauf hin, dass man den allgemeinen Eindruck von der Zusammenarbeit mit der chinesischen Seite aufgrund der erheblichen Anzahl „problematischer Investitionsvereinbarungen“ als üblen Beigeschmack und Vertrauensverlust bei der Zusammenarbeit mit chinesischen Unternehmen bezeichnen könne. Eine ähnliche Auffassung lässt sich den vertraulichen Bewertungen chinesischer Gesprächspartner ihrer Erfahrungen bei der Zusammenarbeit mit ukrainischen Partnern entnehmen.
ІІІ. Die Ukraine und die Belt and Road Initiative
Die günstige geographische Lage und der Zugang zum Meer sollten die Ukraine zu einem attraktiven Territorium für China machen, um einen Teil seiner ehrgeizigen Belt and Road Initiative von Asien nach Europa umzusetzen. Formal trat die Ukraine dieser Initiative 2017 bei, und bereits im Jahr darauf wurde eine offizielle Repräsentanz der Belt and Road Initiative in Kyjiw eröffnet.
Aus der Beschaffenheit der Investitionsprojekte in der Ukraine lässt sich jedoch nicht schließen, dass China die Ukraine strategisch in dieses System „eingebaut“ hätte: die Projekte im Verkehrs- und Infrastrukturbereich sind eher lokaler Natur, und die meisten Festlandverbindungen mit Europa (New Eurasia Land Bridge Economic Corridor) realisiert China durch Belarus. Die asiatische Route „China – Balkan – EU“ führt über die Türkei, Bulgarien, Ungarn und die Länder der Balkanregion. Tatsächlich bleibt die Ukraine in den Schlüsselbereichen der Belt and Road Initiative bis heute unberücksichtigt. Zudem hat die Ukraine nicht einmal einen Beobachterstatus in der „16+1“-Initiative erhalten, wie etwa Belarus im Jahre 2019 – trotz seines wiederholt ausgedrückten Wunsches, an diesem für die Länder Mittelosteuropas gedachten Format teilzunehmen.
Dieses Phänomen lässt sich durch eine Reihe externer und interner Faktoren erklären. Zu den internen Faktoren zählen die kumulativen Effekte der zweideutigen Hinweise ukrainischer und chinesischer Geschäftsleute bei Investitionsprojekten in der Ukraine, die bereits oben diskutiert worden sind. Zu den externen Faktoren zählen: (1) die Verfügbarkeit einer alternativen Route durch Belarus; (2) die Auswirkungen des russisch-ukrainischen Konflikts (der zusätzlich zu den politischen Spannungen in den Beziehungen Chinas zu Russland den Betrieb der Verkehrsverbindungen zwischen der Ukraine und Russland beeinträchtigen könnte); (3) die anhaltende Besatzung der Krim und internationale Sanktionen für Aktivitäten auf der Krim unter russischer Gerichtsbarkeit; (4) die Nicht-Zugehörigkeit der Ukraine zur Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft respektive Eurasischen Wirtschaftsunion (einer gemeinsamen Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Belarus), was die bürokratischen Verfahren zur Abfertigung des Güterverkehrs verkompliziert.
Die eskalierende Konfrontation zwischen der EU und Belarus (deren jüngstes Element der Konflikt über die Einreise illegaler Migranten aus Drittstaaten ist) sowie der Umstand, dass die Kapazitätsgrenzen in Belarus für den Warentransit durch sein Hoheitsgebiet faktisch begrenzt sind, könnten die Attraktivität der Ukraine für die Belt and Road Initiative aus chinesischer Sicht deutlich steigern.
IV. Kontroversen um politische Zugeständnisse
In der komplizierten Geschichte der wirtschaftlichen Partnerschaft der Ukraine mit China gehört die Erwartung politischer Loyalität im Austausch für wirtschaftliche und andere praktische Vorteile der Zusammenarbeit beider Seiten sicherlich zu den umstrittensten Themen. Formal bestreitet China eine solche Verknüpfung – mehr noch, das Land ist nach Kräften darum bemüht, seine politische Neutralität und Distanz zu den Besonderheiten des innenpolitischen Systems der Länder, mit denen es kooperiert, zu demonstrieren, und betont die pragmatischen Aspekte und den gegenseitigen Nutzen einer solchen Zusammenarbeit. Im Sommer 2021 nährte jedoch die Frage nach dem Abstimmungsverhalten im UN-Menschenrechtsrat für einen kanadischen Resolutionsentwurf zur Unterdrückung der Rechte der Uiguren in China Spekulationen über einen möglichen indirekten Druck Chinas auf die ukrainische Position.
Sowohl die ukrainische als auch die chinesische Seite bestreiten offiziell die Existenz einer solchen Art des Drucks. Die Rücknahme der Unterschrift der ukrainischen Seite unter die entsprechende Resolution fiel jedoch zeitlich zusammen mit der Unterzeichnung eines zwischenstaatlichen Rahmenabkommens über eine Investitionspartnerschaft zur Umsetzung gemeinsamer Infrastrukturprojekte am 30. Juni 2021 durch die Ukraine und China. Die Hongkonger Ausgabe der South China Morning Post berichtete am 5. Juli, dass das Abkommen nur wenige Tage nach der Rücknahme der Unterschrift Kyjiws aus einer Erklärung zur Menschenrechtslage in der chinesischen Provinz Xinjiang unterzeichnet worden sei. The Associated Press berichtete unter Berufung auf vertrauliche Quellen in diplomatischen Kreisen, dass China die Ukraine auf einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrates erpresst und gedroht habe, die Lieferung von 500.000 Dosen des Coronavirus-Impfstoffes zu annullieren, falls Kyjiw seine Unterschrift unter die Erklärung zur Lage in Xinjiang nicht zurückziehe.
Der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, kommentierte die Situation am 1. Juli 2021 in einem Interview mit LIGA.net: „Dies ist ein Thema, bei dem nicht nur die Spitze des Eisberges für die Öffentlichkeit sichtbar wird, sondern das Ende der Spitze des Eisberges. Die Geschichte ist noch nicht vorbei.“ Man kann nicht sagen, dass die Worte von Herr Kuleba zur Klärung der Situation beigetragen haben – sie boten eher im Gegenteil noch Raum für zusätzliche Spekulationen, wenn auch das Thema aus dem öffentlichen Diskurs verschwand.
V. Gibt es Grund zur Sorge?
Die bisherigen Überlegungen zeigen deutlich, dass die Ukraine sich politisch klar an der westlichen Zivilisation orientiert und eine Zusammenarbeit mit China nur soweit ausbauen wird, wie das dem Integrationskurs in europäische und euroatlantische Strukturen nicht widerspricht. Die Haltung der USA, die China als strategischen Gegner wahrnimmt, hat in dieser Frage einen Einfluss. Die Ukraine hat es jedoch nicht eilig, sich offen dem antichinesischen Lager anzuschließen, zumal die Haltung der europäischen Länder in dieser Hinsicht alles andere als einheitlich ist.
China ist zwar ein strategisch wichtiger Handelspartner für die Ukraine, die Handelsbeziehungen basieren aber auf einem strategischen Ungleichgewicht, das die Rolle der Ukraine als Rohstoffexporteur zementiert. Auch lässt sich angesichts der relativ geringen Investitionszusammenarbeit und des hohen Anteils an ausstehenden Verträgen nur schwerlich von einer offensiven Wirtschaftsexpansion Chinas sprechen. Pekings Investitionsprojekte in den strategischen Bereichen Telekommunikation und Rüstung zeigen keine „Erfolgsgeschichte“ chinesischer Investoren und sollten demensprechend nicht als strategische Verwundbarkeit der Ukraine in nennenswertem Maßstab bewertet werden. Die Ukraine ist weder zum unverzichtbaren Akteur in Chinas globaler „Belt and Road Initiative“ geworden, noch ist das Land dem chinesischen Format für regionale Zusammenarbeit mit mittelosteuropäischen Ländern „16+1“ beigetreten.
Paradoxerweise dient das komplexe und volatile Geschäftsklima in der Ukraine nach wie vor als wirksamer Schutz gegen die negativen Nebenwirkungen von Chinas offensiver Wirtschaftsstrategie in Europa. Es ist an der Zeit, dass die Ukraine sorgfältig aus ihren Fehlern lernt, die sich aus den Erfahrungen mit der bisherigen Investitionspartnerschaft mit China ergeben, um den potenziellen Nutzen einer solchen Zusammenarbeit in absehbarer Zeit zu steigern.
Gefördert durch:
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Tragen Sie sich in unseren Newsletter ein und bleiben Sie auf dem Laufenden.